Die Lümmel von der ersten Bank

Europäisches Tagebuch, 16.9.2020: Meine ersten Kinoerlebnisse waren „Hurra, hurra die Schule brennt“ und „Die Lümmel von der ersten Bank“. Verzogene Bengel aus wohlhabenden Familien, die man trotzdem irgendwie mochte. Wirkliche Rebellen waren das allerdings nicht. Wenn die Streiche nichts halfen, dann musste Pepe Nietnagels Vater halt den Direktor der Schule bestechen.
Nicht lustig hingegen ist das, was die Schulbuben in der österreichischen Regierung treiben. Nicht einmal einen halbwegs plausiblen Antrag an die EU-Kommission können sie schicken, wenn sie von den möglichen Ausnahmeregelungen in Sachen Wettbewerbsgerechtigkeit in der EU profitieren wollen. Eigentlich wichtig genug, um sich ein bissel Mühe zu geben.
Schon vor einigen Tagen hat Finanzminister Gernot Blümel mal wieder auf die EU geschimpft, weil sie die Verlängerung und Ausweitung der großzügigen Wirtschaftshilfen an notleidende Betriebe (Fixkostenzuschüsse) blockieren würden. Nun traf man sich gestern in Wien, interessanter Weise vor eingeladenen Pressevertretern, um die Unstimmigkeiten mit dem EU-Vertreter in Wien, Martin Selmayr, zu besprechen. Der Austria Presseagentur und dem Standard verdanken wir nähere Einblicke in eine, aus österreichischer Sicht wohl ziemlich missglückte Übung in Message Control. Martin Selmayr nämlich war sichtlich not amused, auch darum, weil er statt zunächst einmal die Einwände der EU erläutern zu dürfen, als letzter drankam. Die Lümmel von der ersten Bank mussten erst einmal der Presse ihre eigene Interpretation der finsteren EU-Machenschaften zum Besten geben. Martin Selmayr, selbst ein durchaus konservativer Politiker, musste sichtlich an sich halten, damit ihm nicht der Kragen platzte. Und wies die Schulbuben darauf hin, dass sie einfach nur einen rechtlich sauberen Antrag stellen müssten. 

Und das im Übrigen eigentlich heute, also gestern, der letzte Tag dafür sei. Zeit genug die Hausaufgaben zu machen, sei seit Anfang August gewesen, als die Bedenken der EU-Kommission dem österreichischen Finanzminister übermittelt wurden. „Wenn heute die Notifizierung so erfolgt, wie von Frau Vestager (der Wirtschaftskommissarin) vergangenen Freitag angeregt, dann ist das morgen erledigt“, sagte Selmayr. Ein entsprechender Antrag sei, „wenn sich drei intelligente Leute zusammensetzen, innerhalb einer halben Stunde“ gemacht. Er wünsche sich, dass Finanzministerium und Kommission, „das heute Nachmittag noch hinbekommen“. Und bietet wirksame Nachhilfe an: Es gebe drei Lösungsmöglichkeiten, auch „wenn es am letzten Tag recht knapp“ sei. Dann ließ es sich Selmayer doch nicht nehmen, den ursprünglichen Antrag Blümels im Detail zu zerpflücken und öffentlich vorzuführen, was für eine unprofessionelle Schluderei da abgeliefert worden sei. Was wiederum Gernot Blümel und Tourismusministerin Elisabeth Köstinger nicht amüsierte. 

Selmayr erklärte ihnen coram publico wie man einen Antrag schreibt. Was in Zeiten des Lockdowns möglich war, nämlich alles auf eine Naturkatastrophe zu schieben und so zu tun, als gäbe es überhaupt keine Umsätze, das entspräche heute ja nicht mehr den Gegebenheiten. Die Grundlage für den Antrag müsse nun der Hinweis auf die schwere Wirtschaftskrise sein, die die Pandemie ausgelöst habe: „Dann kann die Kommission sofort genehmigen. Es geht darum: Können wir rechtlich zuverlässig vorübergehend Beihilfen genehmigen?“ Es sei schon besser, wenn man den Antrag gleich richtig formuliert, statt hinterher nachzubessern. 

Der ertappte Blümel wurde patzig. „Ich bitte Sie, hören Sie auf mit diesen Paragrafen; ich weiß schon, dass man auf Rechtliches achten muss“, so Blümel. „Es geht um österreichisches, nicht europäisches Steuergeld, das eingesetzt werden soll.“ 

Martin Selmayr bewies weiterhin seine Engelsgeduld und gab noch einmal den Rat, doch einfach zusammenzuarbeiten, statt stur an einem nicht genehmigungsfähigen Antrag festzuhalten. Und er gab auch den anwesenden Unternehmensvertretern recht, die ihr Leid klagten, und wiederholte ein ums andere mal, dass ihnen Hilfe zusteht, auch in der geplanten Höhe. Es müssten nur, ja auch die Schulbuben in Wien müssten halt einfach nur „ordentlich“ arbeiten, so wie jeder andere auch. 

Gernot Blümel zeigte sich offenkundig desinteressiert daran, dass gemeinsame und rechtswirksame Regeln in der EU auch für Österreich gelten, und zwar auch dann, wenn es um „österreichisches Steuergeld“ geht. Genau dafür sind diese gemeinsamen Regeln, von denen Österreich nicht zuletzt auf den ost- und mitteleuropäischen Märkten bis jetzt besonders profitiert hat, nämlich eigentlich da. 

Oder ist diese Lümmelei Kalkül, die Lust mit dem Feuer zu spielen um weiterhin EU-feindliche Stimmung anzufachen. Und ist es nicht besser die Probleme der österreichischen Regierung und ihrer Behörden mit den eh schon laufenden Förderprogrammen in der Krise kurzerhand Brüssel umzuhängen? Schließlich ist Wahlkampf in Wien.
Und wenn alles nichts hilft, dann kann ja der Papa den Direktor bestechen…

Union Europa?

Ausstellungsinstallation Union Europa. Foto: Dietmar Walser

Die Europäische Union begann nach dem Zweiten Weltkrieg als Wirtschaftsgemeinschaft. Ihre Geschichte reicht in das Jahr 1952 zurück, als ihre Vorgängerin, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gegründet wurde. Heute ist die EU auch eine politische Gemeinschaft. Ihr einziges seit 1979 direkt gewähltes Organ ist das Europäische Parlament in Strasbourg. Seine erste Präsidentin war die französische Politikerin und Auschwitz-Überlebende Simone Veil (1927–2017). In jenem Jahr wurde außerdem die französische Frauenrechtlerin Louise Weiss (1893–1983) Abgeordnete für die Fraktion der Europäischen Demokraten für den Fortschritt. Noch während des Ersten Weltkriegs hatte sie die friedensorientierte Zeitschrift „L’Europe Nouvelle“ gegründet und über zwei Jahrzehnte herausgegeben. Als äußerst gefährdete Tochter einer Elsässer Jüdin war sie trotzdem während des Zweiten Weltkriegs aktiv in der Résistance gewesen. Ihre Arbeit für ein geeintes, demokratisches Europa wurde mit ihrer Bestellung zur ersten Alterspräsidentin des Europäischen Parlaments und der Benennung des Parlamentsgebäudes nach ihr gewürdigt. Louise Weiss hatte durchaus die Begrenztheit des Unionsgedanken auf seine wirtschaftlichen Aspekte erkannt und wies früh auf das Fehlen einer europäischen Solidargemeinschaft hin: „Die europäischen Institutionen“, sagte sie, „haben europäische Zuckerrüben, Butter, Käse, Wein, Kälber, ja sogar Schweine zustande gebracht. Aber keine europäischen Menschen.“ 

^ Louise Weiss, 1979, © Communauté Européenne

< Europäisches Parlament, Louise-Weiss-Gebäude ©, Dominique Faget / AFP / picturedesk.com

> Wandgemälde von Banksy in Dover 2017; von Unbekannten 2019 weiß übermalt, © Banksy

Ebenfalls 1979 ins Europäische Parlament geschickt wurde Stanley Johnson – Enkel des letzten Innenministers des Osmanischen Reiches, Ali Kemal. Als Abgeordneter der britischen Torys gehörte er derselben Fraktion wie Weiss an. Er befürwortete 1992 vehement den Vertrag von Maastricht, mit dem die Europäische Union ihre heutige Gestalt annahm. Sein Sohn Boris Johnson führt nun das Vereinigte Königreich aus dieser Union heraus. Sehen die Enkel der Generation des Zweiten Weltkriegs Europa nur mehr als sentimentales und obsoletes Friedensprojekt? Anfeindungen der EU gehen auch von Parteien auf dem Kontinent aus. Sind die Forderungen nach mehr nationaler Autonomie Symptome eines wachsenden Rechtsnationalismus? Zugleich mehren sich auch Austrittsforderungen in Ländern, die sich am Rand Europas – trotz aller Lippenbekenntnisse zu einer europäischen Wertegemeinschaft – mit der faktischen Entsolidarisierung Europas konfrontiert sehen. Kann damit die europäische Integration bereits als gescheitert gelten? Ist das der Anfang vom Ende des Projekts Europa?

Ulrike Guérot (Wien) über Europäische Demokratie: