Gemeinsam impfen

Europäisches Tagebuch, 27.12.2020: In den 27 Staaten der Europäischen Union wird mit der Impfung gegen Covid 19 begonnen. Gestern wurden schon in einem Pflegeheim im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt, sowie in Ungarn und der Slowakei einzelne Impfdosen verabreicht. Offenbar hatte man dort an dem symbolträchtigen gemeinsamen Start am heutigen Sonntag kein Interesse. Auch in Österreich war es zunächst unklar ob in allen Bundesländern zugleich begonnen werden soll. Kritisiert wurde zunächst, dass nur in Wien und Niederösterreich begonnen werden soll, dann wurden „Showtermine“ in allen Bundesländern kritisiert. Nun sind doch alle bis auf Kärnten dabei. Während in den meisten Ländern mit Bewohner*innen in Pflegeheimen und dann mit Gesundheitspersonal in Pflegeheimen und Krankenhäusern begonnen wird, lässt sich in Tschechien Ministerpräsident Andrej Babis zuerst impfen, um „ein Vorbild“ abzugeben. Der Europäischen Union ist es jedenfalls gelungen, einen innereuropäischen Konkurrenzkampf um die Vakzine zu vermieden und eine weitgehend gerechte Verteilung der Impfdosen durchzusetzen. Und nach allen Querelen um Brexit und das Desaster einer nicht zustande kommenden gemeinsamen und womöglich auch humanen und menschenrechtskonformen Flüchtlingspolitik, hat die Europäische Union diesen symabolischen Gleichklang in der Bekämpfung der Pandemie auch bitter nötig.

Dabei musste zunächst einmal spekuliert werden, welcher Wirkstoff es denn als erster schaffen wird, die Tests zu bestehen und die Zulassung zu erreichen. Nun treten auch alle Besserwisser auf den Plan, die davon wissen wollen, dass die EU von dem einen oder anderen Wirkstoff noch mehr hätte erwerben können. Aber welcher der Wirkstoffe als erster über die Ziellinie kommt, das wussten auch diese Besserwisser vorher nicht. Andere finden, dass die Europäische Zulassungsbehörde zu langsam oder zu schnell entschieden hat. Und der Wirkstoff deshalb zu unsicher sei, oder überflüssigerweise zu aufwändig geprüft wurde, also sicherer als nötig sei. Irgendeiner ist immer schlauer. Die USA und Groß-Britannien impfen schon seit ein paar Tagen. Aber auch nur ein paar wenige Menschen. Denn die großen bestellten Mengen kommen dort genauso erst ab Januar zum Einsatz.
Der deutsche Gesundheitsminister Spahn ist jedenfalls nicht nur stolz, weil der der Impfstoff von Biontech-Pfitzer in Deutschland entwickelt wurde, sondern weil seine Entwickler nun auch noch als Symbol für ein erfolgreiches Einwanderungsland dienen sollen: das Ehepaar Uğur Şahin und Özlem Türeci, die beide Kinder türkischer Migrantenfamilien sind.

Was bei alldem fast untergeht: es ist heute auf den Tag ein Jahr her, dass Covid-19 als das erkannt wurde, was es ist.

27.12.2019: Zhang Jixian, eine Ärztin des Hubei Provinz Krankenhauses für Chinesische und Westliche Medizin, teilt den lokalen Gesundheitsbehörden mit, dass die rätselhafte Krankheit, die an SARS erinnert, offenbar durch ein neuartiges Coronavirus verursacht wurde. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits mehr als 180 Menschen infiziert.

Der Kniefall

Europäisches Tagebuch, 7.12.2020: Heute vor fünfzig Jahren sank Deutschlands Bundeskanzler in Warschau vor dem Mahnmal des Ghettoaufstands auf die Knie. 14 Sekunden verharrte er schweigend mit vor dem Bauch gefalteten Händen vor dem Mahnmal, dann erhob er sich wieder.

Bundeskanzler Willy Brandts Kniefall” am 7. Dezember 1970 vor dem Denkmal zur Erinnerung an den Aufstand im Warschauer Ghetto.

Das Bild ging um die Welt und war die wohl berührendste Geste deutscher Scham im Angesicht der Erbschaft des Holocaust, zu der ein deutscher Politiker fähig war. Willy Brandt, der selbst in – wie man so sagt – einfachsten Verhältnissen aufgewachsen war, unter dem Namen Herbert Frahm, musste als Linkssozialist 1934 aus Deutschland fliehen und ging nach Norwegen. Dort organisierte er unter anderem die letztlich erfolgreiche Kampagne für die Verleihung des Friedensnobelpreises an Carl von Ossietzky, den von den Nazis inhaftierten, gefolterten und schließlich ermordeten deutschen Pazifisten und Herausgeber der Zeitschrift Die Weltbühne. 1938 wurde Willy Brandt, wie er sich als „Kampfname“ im Widerstand gegen die Nationalsozialisten nun nannte, vom Deutschen Reich ausgebürgert und staatenlos. 1940 geriet er kurzfristig in deutsche Gefangenschaft, aus der es ihm gelang, aufgrund einer von ihm getragenen norwegischen Uniform wieder freizukommen. Er ging nach Schweden wurde dort norwegischer Staatsbürger, und arbeitete mit anderen Genossen daran, die SPD und die Linkssozialistische SAPD im Exil wieder einander anzunähern. 1943 gehörte er, gemeinsam mit Bruno Kreisky, Fritz Bauer, Henry Grünbaum, Gunnar und Alva Myrdal und anderen zu den Autoren der „Friedensziele der demokratischen Sozialisten“, die forderte, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen einer internationalen Rechtsordnung zu unterstellen. Mit Kreisky sollte Brandt eine lebenslange Freundschaft verbinden. 1990 hielt er für den verstorbenen Kreisky die Grabrede.
1946 war Brandt nach Deutschland zurückgekehrt, wurde Berliner SPD-Abgeordneter im Deutschen Bundestag und dann Regierender Bürgermeister von Berlin. Anders als viele Sozialdemokraten, die von einer nationalen Neutralität Deutschlands träumten, engagierte sich Brandt für eine eindeutige Westorientierung der SPD. 1966 wurde er Außenminister einer Großen Koalition mit den Christdemokraten, 1969 schließlich Bundeskanzler der ersten Sozialliberalen Koalition in Deutschland und Ausdruck großer Reformhoffnungen, unter der Parole „Mehr Demokratie wagen“. Brandt wurde immer wieder von seinen politischen Gegnern als Emigrant angegriffen. Der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauss fasste den Vorwurf des „Vaterlandsverrats“ 1961 auf typische Weise in Worte: „Eines wird man Herrn Brandt doch fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.“

Neben einer Politik der Demokratisierung verfolgte Brandt gegenüber Osteuropa eine Politik des Wandels durch Annäherung, die bekanntlich wirkungsvoller war, als alles Getöse des „Kalten Krieges“. 1970 reiste er nach Warschau, um mit Polen am 7. Dezember den Warschauer Vertrag über eine schrittwiese Normalisierung der Beziehungen abzuschließen, ein wesentlicher Schritt der Entspannungspolitik.
Zu diesem Staatsbesuch gehörten zwei Rituale. Eine Kranzniederlegung am Grabmal des Unbekannten Soldaten. Dort war eine Ehrenkompanie angetreten, und etwa 2000 polnische Bürger. Doch Brandt bestand darauf, auch am Mahnmal des Ghettos einen Kranz niederzulegen und den jüdischen Opfern der Massenvernichtung zu gedenken. Hier standen nur zwei Soldaten, und vielleicht 300 bis 400 Menschen waren Brandt auch hierhin gefolgt. Es war eine diplomatische Herausforderung, denn die polnische Regierung war von dieser Geste keineswegs begeistert.
Sie hatte selbst erst zweieinhalb Jahre zuvor eine antisemitische Kampagne gegen jüdische Bürger gestartet, die zu Staatsfeinden erklärt und vielfach zur Flucht gezwungen wurden. Auslöser waren Studentenproteste gegen die Repressionen durch die kommunistische Führung, denen durch die Behauptung es handele sich dabei um „zionistische“ und „antipolnische“ Umtriebe die Legitimität gewaltsam entzogen werden sollte.
Zugleich wurde Brandt von anderer Seite vorgeworfen, er habe zu seiner Kranzniederlegung keine Vertreter jüdischer Organisationen aus Deutschland mitgenommen. Die Springerpresse, allen voran Die Welt, warf ihm gar vor, sein Kniefall in Warschau sei ein Kotau vor dem Kommunismus gewesen und ließ, wie man das bis heute gerne macht, einen jüdischen „Kronzeugen“ auf Willy Brandt los, Alfred Wolfmann, den Deutschland-Korrespondenten einer rechten israelischen Tageszeitung. Wolfmann verstieg sich gar zu dem Vorwurf, ein Kniefall sei „kein Jüdischer Brauch“ und Brandt hätte sich deshalb pietätlos verhalten.

Schon damals war der Zeitung Die Welt nichts zu absurd, um öffentlich jemand fertig zu machen. Und sei es den ersten deutschen Politiker, der sich in einer Geste der Demut vor den jüdischen Opfern des Holocaust auf die nasse Straße niederwarf.

Die Mehrzahl der deutschen Zeitungen berichtete hingegen positiv, so wie Hermann Schreiber im Spiegel: „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“

Die deutsche Bevölkerung sah das mehrheitlich anders: 41% hielten die Geste nach einer repräsentativen Umfrage für angemessen, und 48% für „übertrieben“.

2020 erinnert eine deutsche Briefmarke an Brandts Kniefall

Nachtrag: Auch 2020 findet sich ein jüdischer “Historiker”, der sich, diesmal in der NZZ, als Denunziant hergibt. Michael Wolfsohn ist es nun, der meint, Brandt seine “Judenpolitik” vorwerfen zu müssen. Und wieder ist nichts zu absurd. “Werfen wir einen Blick auf sein Judenbild”, schreibt Wolfsohn: «Der Kampf gegen die jüdischen Kapitalisten ist das Einzige, was vom antikapitalistischen Programm des Nazismus übrig geblieben ist», schrieb Brandt vor dem Krieg, am 1. Januar 1939, im norwegischen «Telegraf og Telefon». Im Klartext: Zumindest die meisten Juden wären Kapitalisten, und gegen sie vorzugehen, wäre richtig.”
Brandts Sarkasmus im Blick auf den “Antikapitalismus” der Nazis kann man wohl nur mit vor Hass völlig vernebeltem Kopf so lesen, wie Wolfsohn.

Avraham Burg: Stefan Zweig lesen

Europäisches Tagebuch, 1.12.2020: Vor wenigen Tagen feierte das Willy Brandt Center in Jerusalem mit uns und anderen Partnern gemeinsam den Geburtstag von Stefan Zweig. Avraham Burg schilderte seine persönlichen Reflexionen beim wiederholten Lesen von Stefan Zweigs Autobiografie Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, von einer education sentimentale bis zum Blick in die Gegenwart. Danke an das Willy Brandt Center Jerusalem für die Erlaubnis, Avraham Burgs Überlegungen hier zu teilen.

Bewegung auf Balkonien – Das European Balcony Project

Europäisches Tagebuch, 10.11.2020: Heute vor zwei Jahren, hundert Jahre nach dem Ende des ersten Weltkriegs und der Ausrufung demokratischer Republiken, wurde in 25 europäischen Ländern von hunderten von Balkonen die Europäische Republik ausgerufen. Eingeladen dazu, an dieser künstlerisch-politischen Aktion teilzunehmen, hatte das European Balcony Project, geleitet von Ulrike Guérot, Milo Rau, Robert Menasse, und Verena Humer. Mit ihrem Manifest zur Ausrufung der Europäischen Republik gingen sie bewusst über das Kleinklein europäischer Realpolitik hinaus und stellten sie dem grassierenden Nationalismus die Utopie einer gemeinsamen Europäischen Demokratie entgegen.

Die unterschiedlichsten Theater, Kultureinrichtungen, Institutionen und Bürgerinitiativen beteiligten sich daran. Schauplatz waren Theater, Museen und Festivals, der Balkon des Frankfurter Rathauses genauso wie eine Fußgängerbrücke zwischen zwei Mitgliedstaaten, der Brüsseler Flughafen so wie mancher private Balkon, prominente und weniger prominente Orte, vom Wiener Burgtheater bis zur Volkhochschule Recklinghausen, von der Kunsthalle Wien bis zum Schauspiel in Essen, dem Nationaltheater in Gent, dem Bitef Theatre Festival Belgrad, oder dem Royal Conservatoire of Scotland, Bühnen und Balkone in Warschau, Lissabon und Amsterdam, Newcastle, Zürich, Bukarest und vielen anderen europäischen Metropolen, aber auch der Balkon des Jüdischen Museums in Hohenems.

Hier wurde das Manifest gleich in vielen verschiedenen Sprachen von jungen Menschen verlesen, die heute in Vorarlberg leben, auch wenn sie und ihre Familien aus der ganzen Welt stammen.

Für die Ausstellung „Die letzten Europäer“ hat Felicitas Heimann-Jelinek eine der Autorinnen des Manifests, Ulrike Guérot, in Wien getroffen – um mit ihr über europäische Demokratie und ihre Widersacher, über Macht und Ohnmacht des europäischen Parlaments, über den Brexit und seine Wirkungen zu sprechen. Ulrike Guérot ist Professorin für Politikwissenschaft und leitet die Abteilung für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Außerdem ist sie die Gründerin des European Democracy Lab in Berlin. Gerade ist von ihr das Buch Nichts wird so bleiben wie es war? Europa nach Krise erschienen.

Hier ist das Interview, das wir am 11. September 2020 mit ihr geführt haben.

Und wer sich noch einmal an den 10. November 2018 erinnern möchte: Hier ist ein Mitschnitt der Verlesung des Europäischen Manifests vom Balkon des Jüdischen Museums Hohenems.

 

Epilog: Was wäre wenn?

Foto: Eva Jünger

Was wäre, wenn wir gefragt würden, was für uns Europa ist? Wie wollen wir Europa definieren? Ist Europa Heimat? Ist es mehr oder weniger Heimat als Westeuropa, Deutschland, Österreich, Bayern, Vorarlberg?

Ist Europa ein Erdteil, oder eigentlich nur ein Subkontinent? Bildet es eine geografische Einheit? Ist es die Summe einzelner Nationalstaaten oder auch eine historisch-kulturelle Einheit? Wo ist Europa zu Ende?

Gibt es so etwas, wie einen europäischen Wertekanon? Wer definiert den? Und verlaufen alle Grenzen Europas in Europa?

Was wäre, wenn wir gefragt würden, mit welchen Ländern weiter über einen EU-Beitritt verhandelt werden sollte? Mit allen 47 europäischen Ländern oder nur mit ausgewählten? Und nach welchen Kriterien sollten sie eingeladen werden?

Was wäre, wenn es keine politischen Grenzen gäbe? Gäbe es keine Konflikte? Welchen Stellenwert hat Freizügigkeit?

Was wäre, wenn wir ein europäisches Parlament mit echten Befugnissen hätten? Wenn es einen europäischen Souverän gäbe? Wie demokratisch könnte Europa dann funktionieren?

Was wäre, wenn wir Europa ganz anders dächten? Wenn wir es als historische Verantwortung dächten? Dann wären Städte wie New York, Tel Aviv, Beirut und viele andere vielleicht europäische Städte.

Was wäre, wenn wir Europa als soziale Verantwortung dächten? Dann wären alle damals und heute für Europa arbeitenden Gesellschaften zugleich auch europäische.

Was müsste geschehen, damit Europa gemeinsam handeln kann? Was wäre, wenn wir Europa als globale Verantwortung dächten?

Und was hinterlassen unsere Besucher*innen auf der Weltkarte und der Europakarte?

Foto: Daniel Schvarcz

 

Hohenems:
Hier zum Stand am 28.9.2021:

Unsere Europakarte – Ende September

Hier zum Stand am 25.8.2021:

Unsere Europakarte – Die Diskussion geht weiter

Hier zum Stand am 25.7.2021:

Unsere Europakarte – Kommentare unserer Ausstellungsbesucher*innen

Hier zum Stand am 20.5.2021:

Unsere Europakarte – neue Kommentare unserer Besucher:innen

Hier zum Stand am 23.4.2021:

Unsere Europakarte – Unsere Weltkarte. Ein Update

Hier zum Stand am 17.2.2021:

Viele Antworten auf viele europäische Fragen – und manche neue Frage

 

 

Idee Europa

Ausstellungsinstallation “Idee Europa”. Foto: Dietmar Walser

Schon seit dem 18. Jahrhundert gab es in Anlehnung an das Modell der Vereinigten Staaten von Amerika die Vorstellung von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Sie ist bis heute nicht realisiert. Walter Rathenau (1867–1922) war einer jener, die sie vor Augen hatten.

Der Sohn des bekannten Gründers der AEG – selbst prominenter Unternehmer – war während des Ersten Weltkriegs für die Rohstoffversorgung des deutschen Reiches zuständig. Er forderte auch den Einsatz belgischer Zwangsarbeiter zur Kompensierung des kriegsbedingten Mangels an Arbeitskräften in Deutschland.

Bereits vor dem Krieg hatte Rathenau für die Errichtung eines mitteleuropäischen Zollvereins plädiert, in dessen Zentrum er eine deutsch-österreichische Wirtschaftsgemeinschaft sah, deren Anziehungskraft sich die westeuropäischen Länder auf Dauer nicht verschließen könnten. Nach 1918 bemühte er sich in verschiedenen politischen Funktionen um eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen Deutschland und den alliierten Siegermächten sowie um einen Ausgleich mit Sowjetrussland. 1922 wurde in „Besinnung auf christliche, abendländische Werte“ die Paneuropa-Bewegung begründet. Ihr erster Großspender war der deutsch-jüdische Bankier Max Warburg. Sie blieb bis heute weitgehend wirkungslos. Rathenaus Idee einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hingegen wurde 1957 Wirklichkeit. Aus ihr erwuchs 1992 schließlich die Europäische Union.

^ Walther Rathenau, vermutlich Berlin, ca. 1920, © Jüdisches Museum Berlin

< Walter Rathenau, Gesammelte Schriften Bd. 1, 1918, Ausschnitt, © Günter Kassegger

> Gedenkstein für die Mörder Rathenaus in Saaleck, 2012, © Torsten Biel

Rathenau hat weder die Europäische Einigung noch den Zweiten Weltkrieg erlebt. Er wurde von der völkischen Rechten der Weimarer Republik als „Erfüllungspolitiker“ bezeichnet, sein Wirken als Minister als Beleg für die „Macht des internationalen Judentums“ interpretiert, seine Verhandlungen mit Russland als „jüdischer Bolschewismus“ diffamiert. Der Hass der extremen Rechten auf alles, wofür Rathenau stand, entlud sich nicht nur im Skandieren der Parole „Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau!“ Am 24. Juni 1922 wurde er von Mitgliedern der rechtsterroristischen „Organisation Consul“ tatsächlich ermordet. 

Die Täter Erwin Kern und Hermann Fischer kamen bei der Festnahme in Saaleck in Sachsen-Anhalt um und wurden auf dem dortigen Friedhof verscharrt. Hitler ließ den „Helden“ ein Denkmal errichten, dessen Inschrift in DDR-Zeiten entfernt wurde. Nach der Wiedervereinigung wurde das Grab zu einer Wallfahrtsstätte für Neonazis. Das Militär transportierte den Stein daraufhin ab und die Kirchengemeinde schloss den Grabplatz. 2012, zum 90. Todestag der Mörder, wurde dort von Unbekannten ein Findling deponiert, der – in runenähnlicher Schrift – die Namen der beiden trägt.

Michael Miller (Wien) über antisemitische Schuldzuweisungen nach dem 1. Weltkrieg und die Paneuropa-Bewegung:

Verstehen wir uns?

Ausstellungsinstallation Verstehen wir uns? Foto: Dietmar Walser

Aufgewachsen im heute polnischen Białystok, einer einstmals multiethnischen, multireligiösen und vielsprachigen Stadt im Russischen Reich, dachte Ludwik Zamenhof (1859–1917) bereits früh über eine neue, universell verständliche Sprache nach. Wie manch anderer seiner Zeitgenossen hoffte er, mit der Entwicklung einer rational leicht erfassbaren Weltsprache die internationalen und ethnischen Beziehungen zu verbessern. „Die Zerrissenheit und der Hass zwischen den Nationen werden nur dann vollständig verschwinden,“ – so war er überzeugt – „wenn die ganze Menschheit eine Sprache und eine Religion hat.“ 1887 publizierte der Sohn einer jiddisch sprechenden Mutter und eines sich meist des Russischen bedienenden Vaters seine „Plansprache“ unter dem Pseudonym Doktor Esperanto (der Hoffende). Daraus wurde bald der Name der von ihm erdachten Sprache. Deren logische Struktur, möglicherweise aber auch Zamenhofs Übersetzung der hebräischen Bibel ins Esperanto, trug zur schnellen Verbreitung der Sprache bei – und zur Bildung einer internationalen Bewegung, die sie propagierte. Schon 1905 fand der erste Esperanto-Weltkongress in Boulogne-sur-Mer statt, dem jährliche Weltkongresse folgten. 

Ludwik Lejzer Zamenhof, um 1900, ©: Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv

< Plakat für den Esperanto-Weltkongress in Warschau 1937, © Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv

< Zitate zur Ablehnung des Zamenhof-Jahres durch den Stadtrat von Białystok, Dezember 2016 (Quelle: www.esperanto.de)

Esperanto hätte eine gemeinsame Sprache in einem vereinten Europa werden können. Doch wenn es in der Politik um Sprache geht, geht es immer auch um Macht. So haben sich mehrere Nationalsprachen für den Gebrauch in den EU-Gremien durchgesetzt und eben nicht Esperanto. Der Bedeutung dieser Sprachutopie zollte jedoch die UNESCO Anerkennung. Zamenhofs Todestag wurde in die offizielle Liste der UNESCO-Gedenktage 2017 aufgenommen.
Die Stadtregierung von Białystok hat sich für ihren illustren Sohn, der darum gekämpft hat, dass Europäer einander besser verstehen, freilich nicht sonderlich interessiert. Als 2016 im Stadtrat der Antrag eingebracht wurde, in seinem hundertsten Todesjahr 2017 mit einem offiziellen Programm an ihn zu erinnern, wurde das mit den Stimmen der nationalkonservativen Partei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) abgelehnt. Esperanto, so hieß es, habe heute keine Bedeutung mehr. Über diese Entscheidung wurde ursprünglich nur in einigen polnischen Zeitungen berichtet. Als aber die Nachrichtenagentur Agence France-Presse und dann Yahoo die Nachricht international bekannt machten, erschienen auf der ganzen Welt Berichte über das verleugnete Erbe Ludwik Zamenhofs und den nationalistischen Antisemitismus der PiS-Partei.

Liliana Feierstein (Berlin): Über Esperanto als jüdische, europäische und internationale Sprache

Union Europa?

Ausstellungsinstallation Union Europa. Foto: Dietmar Walser

Die Europäische Union begann nach dem Zweiten Weltkrieg als Wirtschaftsgemeinschaft. Ihre Geschichte reicht in das Jahr 1952 zurück, als ihre Vorgängerin, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gegründet wurde. Heute ist die EU auch eine politische Gemeinschaft. Ihr einziges seit 1979 direkt gewähltes Organ ist das Europäische Parlament in Strasbourg. Seine erste Präsidentin war die französische Politikerin und Auschwitz-Überlebende Simone Veil (1927–2017). In jenem Jahr wurde außerdem die französische Frauenrechtlerin Louise Weiss (1893–1983) Abgeordnete für die Fraktion der Europäischen Demokraten für den Fortschritt. Noch während des Ersten Weltkriegs hatte sie die friedensorientierte Zeitschrift „L’Europe Nouvelle“ gegründet und über zwei Jahrzehnte herausgegeben. Als äußerst gefährdete Tochter einer Elsässer Jüdin war sie trotzdem während des Zweiten Weltkriegs aktiv in der Résistance gewesen. Ihre Arbeit für ein geeintes, demokratisches Europa wurde mit ihrer Bestellung zur ersten Alterspräsidentin des Europäischen Parlaments und der Benennung des Parlamentsgebäudes nach ihr gewürdigt. Louise Weiss hatte durchaus die Begrenztheit des Unionsgedanken auf seine wirtschaftlichen Aspekte erkannt und wies früh auf das Fehlen einer europäischen Solidargemeinschaft hin: „Die europäischen Institutionen“, sagte sie, „haben europäische Zuckerrüben, Butter, Käse, Wein, Kälber, ja sogar Schweine zustande gebracht. Aber keine europäischen Menschen.“ 

^ Louise Weiss, 1979, © Communauté Européenne

< Europäisches Parlament, Louise-Weiss-Gebäude ©, Dominique Faget / AFP / picturedesk.com

> Wandgemälde von Banksy in Dover 2017; von Unbekannten 2019 weiß übermalt, © Banksy

Ebenfalls 1979 ins Europäische Parlament geschickt wurde Stanley Johnson – Enkel des letzten Innenministers des Osmanischen Reiches, Ali Kemal. Als Abgeordneter der britischen Torys gehörte er derselben Fraktion wie Weiss an. Er befürwortete 1992 vehement den Vertrag von Maastricht, mit dem die Europäische Union ihre heutige Gestalt annahm. Sein Sohn Boris Johnson führt nun das Vereinigte Königreich aus dieser Union heraus. Sehen die Enkel der Generation des Zweiten Weltkriegs Europa nur mehr als sentimentales und obsoletes Friedensprojekt? Anfeindungen der EU gehen auch von Parteien auf dem Kontinent aus. Sind die Forderungen nach mehr nationaler Autonomie Symptome eines wachsenden Rechtsnationalismus? Zugleich mehren sich auch Austrittsforderungen in Ländern, die sich am Rand Europas – trotz aller Lippenbekenntnisse zu einer europäischen Wertegemeinschaft – mit der faktischen Entsolidarisierung Europas konfrontiert sehen. Kann damit die europäische Integration bereits als gescheitert gelten? Ist das der Anfang vom Ende des Projekts Europa?

Ulrike Guérot (Wien) über Europäische Demokratie: