Hans Kelsen: Von der Eleganz (und den Prinzipien) der Verfassung

Europäisches Tagebuch, 19. April 2023: heute vor 47 Jahren starb der Demokratietheoretiker und Verfassungsjurist Hans Kelsen in Kalifornien.

von Hanno Loewy

Hans Kelsen, der am 11. Oktober 1881 in Prag geboren wurde, war nicht, wie so oft behauptet, der alleinige „Autor“ der österreichischen Verfassung, jener Verfassung deren „Eleganz“ in letzter Zeit so oft bemüht worden ist. Aber der aus jüdischer Familie stammende Jurist hatte tatsächlich entscheidenden Einfluss auf ihren Text.
Kelsen studierte in Wien, und konvertierte 1905 erst zum katholischen Glauben, dann 1912 zum Protestantismus. Mit seinem Hauptwerk, der Reinen Rechtslehre, gehört er zu den Begründern des Rechtspositivismus, die sich von der sogenannten Naturrechtslehre abzusetzen versuchte. Ein Streit der Laien kaum verständlich war. Schließlich ging auch Kelsen von einer – jenseits der positiven Rechtssetzungen vorhandenen – „Grundnorm“ aus, die er zunächst als „Hypothese“, dann als „Fiktion“ bezeichnete. Und die ihn gleichwohl zum erklärten Anhänger von unveräußerlichen Menschenrechten machte.

1917 wurde Kelsen Professor in Wien. Zu seinen Schülern gehörte unter anderem Hersch Lauterpacht, der sich allerdings vom Rechtspositivismus abwenden und als Anhänger der Naturrechtslehre zu einem der maßgeblichen Völkerrechtsexperten des 20. Jahrhunderts werden sollte.
Kelsen vertrat schon nach dem 1. Weltkrieg in seinen Arbeiten zum Verfassungsrecht eine Demokratietheorie, die auf dem Respekt und dem Schutz von Minderheitenrechten basierte: „Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daß sie eine Opposition — die Minorität — ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und in den Grund- und Freiheitsrechten, im Prinzipe der Proportionalität schützt.“ Legendär ist sein Streit mit Carl Schmitt über die Frage ob der Macht des Souveräns oder dem Recht und dem Schutz von Minderheiten der Vorrang in einer demokratischen Gesellschaft gebührt.
Nach seiner entscheidenden Mitwirkung am Bundes-Verfassungsgesetz, dessen 100. Geburtstag in Österreich 2020 gefeiert wurde, blieb Kelsen Verfassungsrichter der jungen Republik. Und geriet bald ins Visier der nun folgenden konservativen Regierungen.
Um die Aufführung von Arthur Schnitzlers Theaterstück „Der Reigen“ sollte es im Februar 1921 in Wien zu einer antisemitisch aufgeladenen Kampagne kommen. Wiens sozialdemokratischer Bürgermeister Reumann weigerte sich das Stück, wie von der christlichsozialen Regierung gefordert, zu verbieten. Auch der Verfassungsgerichtshof entschied unter Kelsen gegen ein Verbot, was wiederum wütende Drohungen gegen Kelsen provozierte.
1929 schließlich kam es erneut zum Konflikt, der Kelsens Laufbahn in Österreich beendete. Das Verfassungsgericht hatte die bis dahin im katholischen Österreich verbotene Ehescheidung ermöglicht, indem sie die vom sozialdemokratischen Landeshauptmann Niederösterreichs eingeführte staatliche „Dispens-Ehe“ als rechtens anerkannte. Die christlichsoziale Bundesregierung setzte daraufhin das gesamt Verfassungsreicht per Gesetz ab und ernannte neue Richter.
Kelsen nahm Konrad Adenauers Angebot an, als Professor nach Köln zu wechseln. Doch schon 1933 machte die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland seinem Wirken in Deutschland ein Ende. Als einziger seiner Kölner Fachkollegen beteiligte sich Carl Schmitt nicht an einer Petition zu seinen Gunsten.

Kelsen ging nach Genf, und 1936 nach Prag, wo seine Berufung einen Sturm völkisch-antisemitischer Studenten auslöste. 1940 emigrierte er in die USA, und ließ sich in Kalifornien nieder. 1945 ehrte ihn die Österreichische Akademie der Wissenschaften, doch eine Einladung, nach Österreich zurückzukehren ist nie erfolgt. An die Eleganz „seiner“ Verfassung wird gerne erinnert. Doch an den mühsamen Kampf um Minderheitenrechte weniger. Kelsen starb am 19. April 1976 in Orinda, Kalifornien.

Hans Kelsen: Büste am Sitz des Wiener Verfassungsgerichtshof

 

René Samuel Cassin und die Menschenrechte

Europäisches Tagebuch, 20. Februar 2023: Heute vor 47 Jahren starb der Jurist und Völkerrechtler René Cassin.

von Hanno Loewy

1968 wurde René Samuel Cassin für seine Verdienste um die Menschenrechte der Friedensnobelpreis verliehen.
Geboren wurde er am 5. Oktober 1887 in Bayonne. Sein Vater Azarie Henri Cassin entstammte einer sefardischen, portugiesisch-marranischen Familie und war als Weinhändler in Nizza tätig. Seine Mutter Gabrielle Dreyfus stammte hingegen aus einer elsässisch-jüdischen Familie.
Cassin zog als promovierter Jurist in den 1. Weltkrieg und kehrte schon im Oktober 1914 schwer verwundet zurück. Noch während des Krieges gründete er mit anderen Kriegsteilnehmern die „Union fédérale“, den französischen Verband der Kriegsopfer, dem er von 1922 als Präsident vorstehen sollte. 1921 und 1924 organisierte er Konferenzen von Kriegsversehrten und Veteranen, die für Verständigung und Friedensabkommen zwischen den verfeindeten Nationen eintraten. Er tat dies freilich als französischer Patriot, der von einer universellen französischen Mission überzeugt war: „Wir verkörpern seit Jahrhunderten ein Ideal der Freiheit, der Unabhängigkeit, der Menschlichkeit“, deshalb seien die Mitglieder der Union fédérale die „Vertreter der französischen Moral in der Welt“.

Als Professor lehrte er Völkerrecht, ab 1920 in Lille, dann ab 1929 an der Sorbonne in Paris. Vor allem aber war Cassin in unzähligen Nichtregierungsorganisationen und politischen Ämtern aktiv. Von 1924 bis 1938 vertrat er Frankreich beim Völkerbund. 1940 emigrierte er nach London und gründete mit Charles de Gaulle „France Libre“, die französische Exilarmee in den britischen Streitkräften.

Rene Cassin (mitte rechts) im Comité National Français mit Charles de Gaulle, London 1942, Foto: Keystone; © Wikimedia Commons

Von 1941 bis 1943 wurde er Nationalkommissar der Freien Französischen Regierung in London und 1944 gehörte er zu den Initiatoren des Französischen Komitees für die Nationale Befreiung in Algier und bereitete als Präsident deren juristischer Kommission die französische Gesetzgebung nach 1945 vor. 1944 wurde er Vizepräsident des französischen Staatsrates, eine Funktion, der er bis 1960 innehatte. 1946 wurde er außerdem Präsident der französischen Elite-Hochschule École nationale d’Administration.

Von 1946 bis 1958 vertrat er Frankreich bei den Vereinten Nationen und gehörte zu den Begründern der UNESCO. Vor allem aber gehörte er zum engsten Kreis der Verfasser der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen“, zusammen u.a. mit Karim Azkoul, dem libanesischen Diplomaten und Philosophen.
Von 1959 bis 1968 schließlich war er Vizepräsident, dann Präsident des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes.

Eine Palästinareise in den 1930er Jahren, vielleicht auch sein sefardisches Familienerbe, hatte ihn dazu motiviert sich für die Förderung der arabisch-jüdischen Bevölkerung Palästinas einzusetzen. Nach 1945 wurde er neben seinen vielen anderen Ämtern auch Präsident der „Alliance Israelite Universelle“ (die im 19. Jahrhundert die Ideale der französischen Revolution vertrat und europäische Bildung unter orientalischen Juden verbreiten sollte, nicht ohne eine gewisse Portion europäisch-kolonialem Hochmut).

„Hitlers Hauptziel war die Auslöschung der Juden“, schrieb Cassin, „aber ihre Vernichtung war auch Teil einer Attacke auf Alles, wofür die Französische Revolution stand: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschenrechte. Hitlers Rassismus war im Kern ein Versuch, die Prinzipien der Französischen Revolution auszulöschen.“ Das hinderte Cassin zwar nicht, nach der Vernichtung des europäischen Judentums das jüdisch-nationale, zionistische Projekt zu unterstützen. Doch forderte er nach 1945 auch klare Einschränkungen nationaler Souveränität in allen Fragen der Menschenrechte, die vor jeder nationalen Gesetzgebung Vorrang haben müssten und auch mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden müssten.
Sein Eintreten für soziale Rechte weckte in den USA Misstrauen. Ein Beamter des State Department stand nicht an, ihn als „Kryptokommunisten“ zu bezeichnen. Doch neben seinem Engagement für die Menschenrechte und für die Ideale der Gleichheit, blieb Cassin in vielen gesellschaftspolitischen Fragen ein klassisch konservativer Liberaler. So hatte er gegenüber der rechtlichen Gleichstellung von Frauen eine zögerliche Haltung, ja er stimmte im französischen Exilparlament in Algier sogar gegen eine sofortige Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts. Cassin starb am 20. Februar 1976 in Paris.

Arnold Dreyblatt: Letzte Europäer?

3 transparente Lentikulardrucke
Berlin 2022

Eine Installation für das Jüdische Museum München.
Mit Texten auf Deutsch, Englisch und Esperanto von: 
Agnes Heller, Ludwik Zamenhof, Bernard-Henri Lévy, André Glucksman, Daniel Cohn-Bendit und Jaques Derrida / Jürgen Habermas

Arnold Dreyblatt: Letzte Europäer?
Foto: Eva Jünger

Daniel Cohn-Bendit
Wir sind nach wie vor in einer Phase, den Nationalstaat zu überwinden. Wir haben im Grunde fünfhundert Jahre gebraucht, um den Nationalstaat und die sich mit ihm herausgebildeten kulturellen Identitäten mit all ihren Widersprüchen – Revolutionen, furchtbare historische Momente – zu bezwingen und in etwas Neues zu überführen. Vor diesem Hintergrund ist Europa ein einzigartiges Projekt.Die Frage ist nicht ob, sondern wie schnell wir die notwendige Übertragung von nationaler Souveränität auf europäischer Ebene vollziehen. Und wie wir das demokratisch ausgestalten.Zum ersten Mal wird vielen Menschen bewusst, dass es nicht nur ihren Nationalstaat gibt und die EU kein abstrakter Spielplatz in weiter Ferne ist. Die Leute merken, dass Europa ganz konkret unseren Alltag bestimmt. Zum ersten Mal haben wir eine europäische Öffentlichkeit. Das ist ein entscheidender Schritt zu einer europäischen Demokratie.
André Glucksmann
Die Krise der Europäischen Union ist ein Symptom ihrer Zivilisation. Sie definiert sich nicht über ihre Identität, sondern über ihr Anderssein. Eine Zivilisation basiert nicht notwendigerweise auf dem gemeinsamen Wunsch, das Beste zu erreichen, sondern vielmehr auf der Ausgrenzung und Tabuisierung des Bösen. Historisch betrachtet ist die Europäische Union eine Abwehrreaktion auf Horror.https://www.spiegel.de/international/europe/philosopher-andre-glucksmann-a-dark-vision-of-the-future-of-europe-a-851266.html
Jacques Derrida / Jürgen Habermas
Heute wissen wir, daß viele politische Traditionen, die im Scheine ihrer Naturwüchsigkeit Autorität heischen, „erfunden“ worden sind. Demgegenüber hätte eine europäische Identität, die im Licht der Öffentlichkeit geboren würde, etwas Konstruiertes von Anfang an. Aber nur ein aus Willkür Konstruiertes trüge den Makel der Beliebigkeit. Der politisch-ethische Wille, der sich in der Hermeneutik von Selbstverständigungsprozessen zur Geltung bringt, ist nicht Willkür. Die Unterscheidung zwischen dem Erbe, das wir antreten, und dem, welches wir zurückweisen wollen, verlangt ebensoviel Umsicht wie die Entscheidung über die Lesart, in der wir es uns aneignen. Historische Erfahrungen kandidieren nur für eine bewußte Aneignung, ohne die sie eine identitätsbildende Kraft nicht erlangen.Das heutige Europa ist durch die Erfahrungen der totalitären Regime des zwanzigsten Jahrhunderts und durch den Holocaust – die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, in die das NS-Regime auch die Gesellschaften der eroberten Länder verstrickt hat – gezeichnet. Die selbstkritischen Auseinandersetzungen über diese Vergangenheit haben die moralischen Grundlagen der Politik in Erinnerung gerufen. Eine erhöhte Sensibilität für Verletzungen der persönlichen und der körperlichen Integrität spiegelt sich unter anderem darin, daß Europarat und EU den Verzicht auf die Todesstrafe zur Beitrittsbedingung erhoben haben.Jacques Derrida und Jürgen Habermas, “Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas”, FAZ, 31. Mai 2003 (Auszüge)

Ludwik Zamenhof

Patriotismus oder Dienst am Vaterland nenne ich nur den Dienst am Wohl all meiner Lands­leute, gleich welcher Herkunft, Sprache oder Religion; den Dienst insbesondere an den nicht­jüdischen Interessen, der Sprache oder der Religion jener Bevölkerung, die im Lande die Mehrheit darstellt, darf ich niemals Patriotismus nennen. In Übereinstimmung mit dem Grund­satz, dass Staatsbürger, selbst wenn sie eine große Mehrheit im Land darstellen, kein moralisches Recht haben, anderen Staatsbürgern ihre Sprache oder Religion aufzuzwingen, muss ich mich dafür einsetzen, dass in meinem Land jedes Volk das Recht hat, für seine Angehörigen Schulen und andere Institutionen mit ihrer Sprache und ihrer Religion zu gründen, wenn sie das wünschen, dass aber in allen öffentlichen Institutionen, die nicht ausschließlich für ein Volk bestimmt sind, nur eine neutral-menschliche Sprache und neutral-menschliche oder staatliche Feste herrschen sollen. Solange das nicht möglich ist, muss ich mich dafür einsetzen, dass es in meinem Land Schulen und andere Einrichtungen mit einer neutralen menschlichen Sprache für diejenigen Untertanen gibt, die keine Einrichtungen mit dieser oder jener Volkssprache verwenden wollen oder können; und von allem gegenseitigen Ringen von Sprachen oder Religionen um die Vorherrschaft muss ich mich fernhalten, denn es ist nur ein Kampf zwischen einem Unrecht und einem anderen.

Ich bin mir bewusst, dass in den Ländern, in denen die Bevölkerung mehr oder weniger ethnisch homogen ist, sie noch lange Zeit die Ungerechtigkeit nicht verstehen wird, die in der Herrschaft einer Sprache oder Religion über die anderen liegt, und dass sie mit allen Mitteln gegen eine Gleichberechtigung aller Sprachen und Religionen ankämpfen wird, und sie wird jene, die für die Gleichberechtigung eintreten, verfolgen und mit Dreck bewerfen. Aber ich werde mich niemals von dieser Verfolgung verwirren lassen und mich daran er­innern, dass ich für absolute Wahrheit und Gerechtigkeit kämpfe, dass kein Volk wissen kann, was ihm morgen widerfahren wird, dass die Gleichberechtigung aller Sprachen und Religionen die Ursache aller Kriege und Konflikte zwischen den Völkern beseitigen wird, dass jede Aktion gegen den Grundsatz „das Reich für die Bürger“ und Gewalt unter Bürgern immer Gewalt bleibt, auch wenn sie von einer überwältigenden Mehrheit gegen eine marginale Minderheit begangen wird, und dass dauerhaftes Glück für die Menschheit nur unter der Bedingung gleicher und absoluter Gerechtigkeit für alle Völker und Länder möglich ist, unabhängig von Ort und Zeit und Stärke, und wenn es in jedem Reich nur Menschen, nur Bürger ohne Rücksicht auf deren ethnische Zugehörigkeit geben wird.

Als meine Nation bezeichne ich die Gesamtheit aller Menschen, die in meiner Heimat leben, gleich welcher Herkunft, Sprache oder Religion; aber zu meiner Nationalität muss ich stets das Wort „Mensch“ hinzufügen, um zu zeigen, dass ich mich nicht in einem chauvinistischen Sinne zu meiner Nation zähle. Die Menge aller Menschen, die die gleiche Herkunft wie ich haben, nenne ich mein Volk. Ich darf meine Nation nicht mit dem Namen irgendeines Volkes benennen, ich muss sie immer – zumindest im Gespräch mit Gleichgesinnten – mit dem neutral-geographischen Namen meines Reiches oder Landes nennen. Wenn mein Gesprächs­partner nicht nur wissen will, welcher politisch-geografischen, sondern auch welcher ethni­schen Gruppe ich angehöre, dann bezeichne ich ihm mein Volk, meine Sprache, meine Re­ligion u.s.w. gesondert. Beispiele: Schweizer Mensch, Petersburger Mensch, Warschauer Mensch.

Ludwik Zamenhof, Hillelismus, 1901

Ágnes Heller
Der Sieg des Nationalismus kam 1914 – gegen den Internationalismus der Arbeiterklasse und den Kosmopolitismus der Bourgeoisie. Die Erbsünde Europas war das hässliche Kind des Nationalismus. Alle früheren Reiche begannen, sich zu Nationalstaaten aufzulösen. Dieser Trend hält bis heute an.

Der ausschließende Charakter von Nationalstaaten lässt sich am besten anhand der Geschichte der europäischen Juden im 19. und 20. Jahrhundert und der Geschichte der beiden Weltkriege zeigen. Der moderne Antisemitismus (im Gegensatz zum früheren Antijudaismus) ist ein Produkt der Nationalstaaten. Die Transformation des Nationalismus in Rassismus war kein Zufall, denn ethnischer Nationalismus trägt den Aspekt des Rassismus in sich.

Nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs zogen einige europäische Staaten die Konsequenzen aus der dunklen Seite der Nationalstaatlichkeit und gründeten die Europäische Union. Die Bedeutung dieses großen Entwurfs sollte man nicht kleinreden. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, niemals einen Krieg untereinander auch nur auszulösen. Dennoch hat ein europäisches Identitätsgefühl bis heute nicht dieselbe Kraft oder Bedeutung wie die nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten.

Die Europäische Union gründete sich auf der Entscheidung für bestimmte Werte. Doch sogar unter den ausgewählten Werten gibt es Widersprüche. Zuallererst, weil die Union eine Union von Nationalstaaten ist. Als Union muss sie den Wert der Solidarität bevorzugen, doch als Union von Nationalstaaten muss sie wegen der Werte der Nation nationale Interessen unterstützen, daher wird Nationalismus meist stärker sein als Solidarität.

Ágnes Heller, Paradox Europa, Wien 2019

“Libération” / Bernard-Henri Lévy
„Genug vom ‘Aufbau Europas‘!“, lautet der Ruf. Verbinden wir uns stattdessen wieder mit unserer „nationalen Seele“! Lasst uns unsere „verlorene Identität“ wiederentdecken! Das ist die Agenda der populistischen Kräfte, die den Kontinent überschwemmen. Dabei spielt es keine Rolle, dass abstrakte Begriffe wie „Seele“ und „Identität“ oft nur in der Einbildung der Demagogen existieren.

Europa wird von falschen Propheten angegriffen, die trunken sind vor Ressentiments und im Delirium angesichts der Möglichkeit, ins Rampenlicht zu gelangen.

Europa als Idee zerfällt vor unseren Augen.

Für diejenigen, die noch an das Erbe von Erasmus, Dante, Goethe und Comenius glauben, wird es nur eine schmachvolle Niederlage geben. Eine Politik der Geringschätzung von Intelligenz und Kultur wird triumphiert haben. Es wird Explosionen der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus geben. Eine Katastrophe wird über uns hereingebrochen sein.

Unser Glaube liegt in der großartigen Idee, die wir geerbt haben und von der wir glauben, dass sie die die einzige Kraft war, um die Völker Europas über sich selbst und ihre kriegerische Vergangenheit zu erheben. Wir meinen, dass sie auch heute noch die einzige Kraft ist, tugendhaft genug, um die neuen Anzeichen des Totalitarismus abzuwehren, die das alte Elend der dunklen Zeitalter nach sich ziehen. Was auf dem Spiel steht, verbietet uns aufzugeben. Unsere Generation hat es falsch verstanden. Wie die Anhänger Garibaldis im 19. Jahrhundert, die wie ein Mantra „Italia se farà da sè“ (Italien wird sich selbst erschaffen) wiederholten, haben wir geglaubt, dass der Kontinent von selbst zusammenkommen würde, ohne dass wir dafür kämpfen oder arbeiten müssten. Das, so sagten wir uns, sei die „Richtung der Geschichte“. Wir müssen mit dieser alten Überzeugung endgültig brechen. Wir haben keine Wahl. Wir müssen jetzt für die europäische Idee kämpfen oder sie in den Wogen des Populismus versinken sehen.

Copyright: “Libération” / Bernard-Henri Lévy (unterzeichnet von: Milan Kundera, Salman Rushdie, Elfriede Jelinek et. al., 25.01.2019

Foto: Daniel Schvarcz

Esperanto:

Daniel Cohn-Bendit
Ni daŭre estas en fazo de lukto por superi la nacian ŝtaton. Fakte ni bezonis kvincent jarojn por venki la nacian ŝtaton kaj la kune kun ĝi disvolviĝintajn kulturajn identecojn kun ĉiuj ties kontraŭdiroj – revolucioj, teruraj historiaj momentoj – kaj transformi ilin en ion novan. Antaŭ tiu fono Eŭropo estas unika projekto.

La demando ne estas ĉu, sed kiom rapide ni efektivigos la necesan transiron de nacia suvereneco sur la Eŭropan nivelon. Kaj kiel ni aranĝu tion demokratie.

Por la unua fojo multaj homoj konsciiĝas, ke ne nur ekzistas ilia nacia ŝtato kaj la EU ne estas abstrakta ludejo en fora malproksimeco. Oni rimarkas, ke Eŭropo tre konkrete difinas nian ĉiutagan vivon. Unuafoje ni havas eŭropan publikecon. Tio estas decida paŝo al eŭropa demokratio.

André Glucksmann
La krizo de la Eŭropa Unio estas simptomo de ĝia civilizacio. Ĝi ne difinas sin per sia identeco, sed, multe pli, per sia alieco. Civilizacio ne devige baziĝas sur komuna deziro akiri la plej bonan, sed, multe pli, sur la volo ekskludi kaj tabui la malbonon. En historiaj terminoj, la Eŭropa Unio estas defenda reago al hororo.

Jacques Derrida / Jürgen Habermas
Hodiaŭ ni scias, ke multaj politikaj tradicioj, kiuj en sia ŝajno de natura deveno postulas aŭtoritaton, estas „inventitaj“. Male eŭropa identeco, naskita antaŭ ĉies okuloj, dekomence surhavus ion konstruitan. Sed nur io arbitre konstruita portus la makulon de ajneco. La politik-etika volo, kiu montras sin en la hermeneŭtiko de procezoj de memkomprenigo, ne estas arbitro. La diferencigo inter la heredaĵo, kiun ni akceptas, kaj tiu, kiun ni volas refuti, postulas samkvantan diligenton kiel la decido pri la interpretado, per kiu ni alpropriigas ĝin. Historiaj spertoj kandidatas nur por konscia alpropriigo, sen kiu ili ne atingas identec-formigan forton.

La nuntempan Eŭropon karakterizas la spertoj de la totalismaj reĝimoj de la dudeka jarcento kaj de la Holokaŭsto – la persekutado kaj pereigo de la eŭropaj judoj, en kiun la NS-reĝimo implikis ankaŭ la societojn de la konkeritaj ŝtatoj. La memkritikaj konfrontiĝoj al tiu pasinto rememorigis la moralajn fundamentojn de politiko. Kreskinta sentemo pri lezoj de persona kaj korpa integrecoj inter alie speguliĝas en tio, ke Eŭropa Konsilo kaj EU rangigis la rezignon pri mortopuno je membriga kondiĉo.

Ludwik Zamenhof
Patriotismo aŭ servo al la patrujo mi nomas nur la servadon al la bono de ĉiuj miaj samregnanoj, de kia ajn deveno, lingvo aŭ religio ili estas; la servadon speciale al la gentaj interesoj, lingvo aŭ religio de tiu loĝantaro, kiu en la lando prezentas la plimulton, mi neniam devas nomi patriotismo. Konforme al la principo, ke unuj regnanoj, eĉ se ili prezentas en la lando grandegan plimulton, ne havas moralan rajton altrudi sian lingvon aŭ religion al aliaj regnanoj, mi devas penadi, ke en mia lando ĉiu gento havu la rajton fondi por siaj membroj lernejojn kaj aliajn instituciojn kun sia lingvo kaj sia religio, se ili tion ĉi deziras, sed ke en ĉiuj publikaj institucioj, ne destinitaj sole por unu gento, regu nur lingvo neŭtrale-homa kaj festoj neŭtrale-homaj aŭ regnaj. Tiel longe, kiel la atingo de tio ĉi estos ne ebla, mi devas penadi, ke en mia lando ekzistu lernejoj kaj aliaj institucioj kun lingvo neŭtrale-homa por tiuj regnanoj, kiuj ne volas aŭ ne povas uzi instituciojn kun tiu aŭ alia genta lingvo, kaj de ĉia reciproka batalado de lingvoj aŭ religioj pro regado mi devas teni min flanke, ĉar ĝi estas nur batalado inter unu maljustaĵo kaj alia.

Mi konscias, ke en tiuj landoj, kie la loĝantaro estas pli-malpli unugenta, ĝi longan tempon ne komprenos la maljustecon de regado de unu lingvo aŭ religio super la aliaj kaj ĝi per ĉiuj fortoj batalados kontraŭ la egalrajtigo de ĉiuj lingvoj kaj religioj, kaj la defendantojn de tiu ĉi egalrajtigo ĝi persekutados kaj superĵetados per koto. Sed mi neniam konfuziĝos per tiu ĉi persekutado, memorante, ke mi batalas por absoluta vero kaj justeco, ke nenia popolo povas scii, kio fariĝos kun ĝi morgaŭ, ke la egalrajtigo de ĉiuj lingvoj kaj religioj forigos la kaŭzon de ĉiuj militoj kaj malpacoj inter la popoloj, ke ĉia ago kontraŭ la devizo „la regno por la regnanoj“ kaj ĉia perfortaĵo de unuj regnanoj kontraŭ aliaj restas ĉiam perfortaĵo, eĉ se ĝi estas farata de grandega plimulto kontraŭ malgrandega malplimulto, kaj ke fortika feliĉo de la homaro estas ebla nur tiam, kiam por ĉiuj popoloj kaj landoj ekzistos justeco egala kaj absoluta, dependanta nek de loko, nek de tempo, nek de forto, kaj kiam en ĉiu regno ekzistos nur homoj kaj regnanoj kaj ne gentoj.

Mia nacio mi nomas la tutecon de ĉiuj homoj, kiuj loĝas mian patrujon, de kia ajn deveno, lingvo aŭ religio ili estas; sed al mia nacia nomo mi devas ĉiam aldoni la vorton „Homarano“, por montri, ke mi alkalkulas min al mia nacio ne en senco ŝovinista. La aron de ĉiuj honoj, kiu havas saman devenon kiel mi, mi nomas mia gento. Mian nacion mi ne devas nomi per la nomo de ia gento, mi devas ĉiam nomi ĝin – almenaŭ en parolado kun homaranoj – per la neŭtrale-geografia nomo de mia regno aŭ lando. Se mia interparolanto deziras scii ne sole al kiu politike-geografia, sed ankaŭ al kiu etnografia grupo mi apartenas, tiam mi aparte nomas al li mian genton, lingvon, religion k.t.p. Ekzemploj: Sviso-Homarano, Peterburgia Homarano, Varsovilanda Homarano.

„Libération” / Bernard-Henri Lévy
„Sufiĉe de ‘konstrui Eŭropon’!“ estas la krio. Anstataŭe ni rekonektiĝu kun nia „nacia animo“! Ni remalkovru nian „perditan identecon“! Jen la komuna agendo de la popolismaj fortoj, kiuj inundas la kontinenton. Ne gravas, ke abstraktaĵoj kiel „animo“ kaj „identeco“ ofte ekzistas nur en la imago de demagogoj.

Eŭropo estas atakata de falsaj profetoj, kiuj estas ebriaj pro rankoro, kaj deliras pro sia ŝanco okupi la spotlumon.

Eŭropo kiel ideo disfalas antaŭ niaj okuloj.

Por tiuj, kiuj ankoraŭ kredas je la heredaĵo de Erasmus, Dante, Goethe kaj Komenio, estos nur hontiga malvenko. Politiko de malestimo kontraŭ intelekto kaj kulturo estos triumfinta. Estos eksplodoj de ksenofobio kaj antisemitismo. Katastrofo estos trafinta nin.

Nia fido estas en la grandioza ideo, kiun ni heredis, kiun ni kredas la sola forto sufiĉe potenca por levi la popolojn de Eŭropo super ili mem kaj super ilia militema pasinteco. Ni kredas, ke ĝi restas la sola forto aktuale sufiĉe virta por kontraŭstari al la novaj signoj de totalismo, kiuj kuntrenas en sia kil-ondo la malnovajn mizerojn de la mallumaj epokoj. Tio, kion ni riskas, malpermesas al ni rezigni. Nia generacio eraris. Kiel la adeptoj de Garibaldi en la 19-a jarcento, kiuj mantre ripetis „Italia se farà da sè” (Italio faros sin mem), ni kredis, ke la kontinento kuniĝos memstare, sen nia bezono batali por ĝi, aŭ labori por ĝi. Jen, ni diris al ni mem, „la direkto de la historio“. Ni devas fari klaran rompon kun tiu malnova konvinko. Ni ne havas alternativon. Ni devas nun batali por la ideo de Eŭropo aŭ vidi ĝin perei sub la ondoj de popolismo.

Kampf um jeden einzelnen Flüchtling

Rückblick, 31.7.2020: Der Berliner Senat ist erneut mit seinen Plänen gescheitert, 300 Flüchtlinge aus den nach wie vor heillos überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln aufzunehmen. Bundesinnenminister Horst Seehofer hat der Berliner Initiative nun schon zum dritten Mal die notwendige Zustimmung verweigert, mit dem Verweis auf die Notwendigkeit eines bundeseinheitlichen Vorgehens und seiner neuen Initiative für eine EU weite Koordination der Flüchtlingspolitik. Darauf möchten in Deutschland, angesichts der mehr als 20.000 Flüchtlinge die in den Lagern dahinvegetieren, viele regionale und lokale Politiker nicht mehr warten. Die Nachrichten aus den Lagern sind verstörend. Angesichts der sanitären Situation, der unbeschreiblichen Enge und den mangelhaften technischen Anlagen kommt es dort regelmäßig zu tödlichen Unfällen, aber natürlich auch zu zunehmenden Konflikten und Aggressionen zwischen den dort Festgehaltenen. Mittlerweile ist bekannt, dass die schweren Traumatisierungen durch diese Lagerhaft noch schwerer wiegen, als die Traumatisierung durch Krieg, Verfolgung und Flucht. Schließlich geht sie mit der Erfahrung der vollkommenen Ohnmacht und des Ausgeliefertseins einher.
Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sieht wenig Chancen, das Hilfsangebot durch eine Klage gegen die Bundesregierung durchzusetzen. Er betont, es handele sich um eine politische Frage und einen politischen Skandal. „Wir haben die Möglichkeiten. Trotz Corona leben wir in einem reichen und guten Land und können Menschen vor Not und Tod bewahren.“ 142 Menschen, insbesondere Kinder, darf Berlin bis Ende August aufnehmen, im Rahmen eines Kontingents von 928 Kindern und Kranken, das die deutsche Bundesregierung zulassen will.

Die Genfer Flüchtlingskonvention – im Koma

Europäisches Tagebuch, 28.7.2021: Heute vor 70 Jahren wurde die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet. Man könnte meinen, dies sei ein Tag zum Feiern. Doch das Gegenteil ist der Fall. Gerald Knaus, einer der besten Kenner der weltweiten Fluchtbewegungen und Flüchtlingsschicksale, spricht ernüchtert von einer Konvention “die im Koma liegt”.
80 Millionen Flüchtlinge gibt es weltweit, so heißt es. Doch diese Zahl, mit der das UN-Flüchtlingshilfswerk auf die Notwendigkeit von Hilfen aufmerksam machen will, lässt sich leicht missbrauchen. Von Massen, die uns überschwemmen werden, ist die Rede. Eine Sprache, die man von Rechtsradikalen gewohnt ist, wird zum politischen Kleingeld von Regierungen. Österreich gibt dabei mittlerweile den Ton an. Es ist zum fremdschämen, jeden Tag, vom Aufwachen, bis zum Schlafengehen. Und im Traum verfolgt es einen weiter.

In Wirklichkeit haben davon aber nur etwa 20 Millionen Flüchtlinge irgendeine Grenze überwunden. Die meisten von ihnen hausen in den von Bürgerkriegen, Verfolgungen und Zwangsrekrutierungen gerissenen Ländern der Welt irgendwo fern von ihren Heimatregionen. Die Zahl jener, die es immerhin über die Grenze, meistens bis ins Nachbarland, geschafft haben, ist in den letzten vier Jahren gerade mal um 700.000 Menschen gestiegen, darunter sind viele in den Flüchtlingslagern geborene Kinder. Noch immer ist es die viel gescholtene Türkei, die weltweit die meisten Flüchtlinge beherbergt. Und ob sie dabei weiter unterstützt wird, ist offen. Wer verhandelt darüber schon gerne mit dem Regime Erdogans. Aber welche Alternative dazu bietet sich? Noch mehr Gewalt gegen die Flüchtlinge im Mittelmeer?

Der Zynismus, mit dem Politiker in Europa, den USA oder Australien ihre rechtlichen Verpflichtungen missachten und den Geist der Konvention verhöhnen, ist kaum noch zu überbieten. An den EU-Außengrenzen werden Flüchtlinge mit Gewalt daran gehindert, Asyl-Anträge zu stellen. Ein offener Rechtsbruch. Und nur wenigen dämmert es, dass Regierungen, die den Rechtsstaat verachten, sich auch um „unsere“ Rechte nicht kümmern werden, wenn das ihnen passt.

Erst unlängst hat Österreichs Innenminister mit der Formulierung aufhorchen lassen, so rasch wie möglich Flüchtlinge nach Afghanistan abzuschieben „solange das noch geht“. In der Tat bricht dort der Widerstand gegen die Taliban in weiten Teilen des Landes in sich zusammen und einige EU-Länder setzen angesichts des einsetzenden Chaos schon beschlossene Abschiebungen aus, so wie auch die österreichischen Höchstrichter nicht mehr alle Abschiebungen durchwinken. Ein schwacher Trost. Denn man hat den Eindruck als ginge es der mittlerweile tiefblauen Regierungsspitze in Wien vor allem um symbolische Ablenkung. Von allen hausgemachten Problemen. Nein, der Tag des Jubiläums der Flüchtlingskonvention ist kein Tag zum Feiern.

Rückblick, 28.7.2020: Wenn Mitarbeiter von McKinsey in einem Unternehmen auftauchen, dann löst dies in der Regel Panikattacken unter Mitarbeitern aus. Schließlich steht das Beratungsunternehmen in dem Ruf, Firmen äußerst effektiv bei ihrer Sanierung zu helfen, und das bedeutet zumeist, ein Teil der Belegschaft „zu schicken“. Auch Flüchtlinge und Migranten durften in den letzten Jahren diese Erfahrung machen. Eine Recherche des Spiegel ergab, dass seit 2017 McKinsey die EU dabei berät, wie man die „Produktivität“ der Asylbehörden an den Grenzen erhöhen könnte. Mit wenig Erfolg bisher.
Einiges davon soll allerdings in die griechische Asylpolitik seitdem eingeflossen sein, zum Beispiel die Überführung von abgelehnten Asylwerbern in erster Instanz in geschlossenes Gewahrsam. Auch dann, wenn sie gar nicht abgeschoben werden können. Und auch die Verweigerung von Rechtsberatung gehört zu den griechischen „Optimierungsmaßnahmen“.

Bis heute werden die genauen Ratschläge von McKinsey allerdings von der EU geheim gehalten. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen klassifiziert das Material als „confidential“. Die Betreuung der Flüchtlinge in den Lagern auf den Inseln durch die griechischen Behörden folgt nach wie vor dem Prinzip der Abschreckung. Umso unwürdiger und menschenverachtender, umso „produktiver“. Auch wenn die EU-Kommission immer wieder Anläufe unternimmt, die Situation der Menschen dort zu verbessern und die Mitgliedsstaaten von der Notwendigkeit zu überzeugen, mehr Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufzunehmen.
Schon 2016 hatte das Deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 1,86 Millionen Euro für eine „Studie“ an das Beratungsunternehmen bezahlt, um sich Tipps geben zu lassen, wie abgelehnte Asylwerber in Deutschland „effektiver“ abgeschoben werden könnten. Auch damals förderte eine Spiegel-Recherche zutage, dass McKinsey dafür 678 „Beratertage“ für je 2700,- € in Rechnung stellte. Das von McKinsey vorgeschlagene Rückkehrmanagement sah sowohl finanzielle Anreize als auch Abschiebhaft und „Gewahrsamsanstalten“ vor, und radikale Kürzung der Hilfen für Kranke.

Österreichische Großzügigkeit gegenüber illegal abgeschobenen Flüchtlingen

Rückblick, 16.7.2020: Das Bundesverwaltungsgericht in Wien verurteilt die Abschiebung eines 29-jährigen Tadschiken durch die österreichischen Behörden als rechtswidrig. Ob dies Khizbulloi Shovalizoda noch helfen wird ist fraglich. Der Tadschike hatte im März 2019 in Österreich Asyl beantragt. Er gehört einer ethnischen Minderheit an, die in Tadschikistan verfolgt wird. In seiner Heimat wird ihm stattdessen vorgeworfen einer verbotenen islamischen Partei anzugehören. Shovalizodas Asylantrag wurde abgelehnt und ein Abschiebebescheid ausgestellt. Am 10. Januar 2020 brachte er einen erneuten Antrag auf internationalen Schutz ein. Er hatte erfahren, dass gegen ihn in Tadschikistan ein Verfahren wegen „Terrorismus“ eröffnet werden würde und ihm dort seine Verhaftung drohen würde. Das BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) lehnte seinen Antrag erneut ab, obwohl die Staatsanwaltschaft Eisenstadt darauf hinwies, dass inzwischen von den tadschikischen Justizbehörden ein Auslieferungsbegehren eingegangen sei, das „überwiegend politischen Charakter“ trage. Ein Auslieferungsverfahren würde daher abgelehnt. Dennoch wurde Shovalizoda am 4. März nach Tadschikistan abgeschoben – und dort prompt verhaftet. Im Juni wurde er tatsächlich zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Das Bundesverwaltungsgericht stellte nun fest, dass das BFA den Fall nicht genau geprüft habe und sich bei seiner Entscheidung auf bekanntermaßen veraltete Informationen über die Situation in Tadschikistan gestützt habe. Inzwischen sei bekannt, dass die dortige Regierung unter dem Deckmantel der „Terrorismusbekämpfung“ Oppositionelle und Kritiker kriminalisiere. Menschenrechtsverletzungen, willkürliche Tötung durch Gefängnisbehörden, willkürliche Inhaftierungen, Folter und Misshandlung politischer Gefangener sind in Tadschikistan an der Tagesordnung, wie auch die österreichische Datenbank der Staatendokumentation inzwischen feststellt. Die Entscheidung des Gerichts erlegt nun den österreichischen Behörden die Pflicht auf, nicht nur Shovalizoda die Einreise nach Österreich zu erlauben, sondern auch proaktive Maßnahmen zu setzen, um ihn „wieder in das österreichische Bundesgebiet zu verbringen“. Das Innenministerium weigert sich aber offenbar, dem Gerichtsentscheid Folge zu leisten. Es gäbe keine „rechtliche Grundlage“ um den Abgeschobenen wieder zurückzuholen. Die Einreise nach Österreich werde ihm aber gestattet. Ob Shovalizoda von dieser österreichischen „Großzügigkeit“ je erfahren wird, ist fraglich. Seit seiner Verurteilung zu 20 Jahren Haft fehlt von ihm jede Spur.

Polen bleibt rechts. Haarscharf

Rückblick, 13.7.2020: Die Stichwahl für das Präsidentenamt in Polen endet mit einem knappen Sieg für den Nationalisten Andrzej Duda. Bis auf 48,97 % der Stimmen ist ihm der liberale Gegenkandidat Rafal Trzsakowski nahe gekommen. Doch es hat nicht gereicht, der nationalkonservativen Regierung der PIS-Partei ein Korrektiv entgegenzusetzen. Das Wahlergebnis verrät auch in Polen eine tiefgreifende Spaltung von Stadt und Land. Trzaskowksi, Stadtpräsident von Warschau, hatte in den großen Städten 65% der Stimmen auf sich vereinigen können, Duda hingegen 65% der Wählerinnen und Wähler auf dem Land gewonnen. Auch zwischen den Generationen verläuft ein tiefer Riss durch die polnische Gesellschaft. Trzaskowski siegte bei allen Wählerguppen unter 50. Die über 60jährigen entschieden sich zu 64% für Duda. Polen leidet so doppelt unter der Überalterung der Gesellschaft. Polens migrationsfeindliche Politik produziert immer mehr Migration: Junge Menschen verlassen in Scharen das Land.
Letztendlich entschied Duda die Wahlen mit radikalen, nationalistischen und homophoben Parolen für sich. Schwule und Lesben haben in Polen inzwischen Angst vor Gewalt auf den Straßen. In den letzten Tagen vor der Wahl richtete sich die von der Regierung geschürte Fremdenfeindlichkeit vor allem gegen Deutsche: gegen deutsche Medien, oder gegen die wenigen regierungsunabhängigen Medien die angeblich im deutschen Interesse das Land unterwandern würden. Aber auch gegen in Polen lebende Deutsche, die offenen Anfeindungen ausgesetzt sind.

Am Ende ging es nur noch um das „Polentum“. In einem Radiointerview meinte Andrzej Zybertowicz, Soziologe und Berater des wiedergewählten Präsidenten, er sei “schockiert” gewesen, dass ungefähr die Hälfte seiner Landsleute für einen Kandidaten gestimmt hätten, „dessen Stab es nicht für angemessen hielt, während des Wahlabends mit einer polnischen Fahne zur erscheinen“. Warum nur, fragt man sich, hätte er das tun sollen.
In der Grenzregion Polens und Deutschland, der sogenannten „Euroregion Spree-Neisse-Bober“ mehren sich nun die Sorgen, ob die dort bislang erfolgreiche Politik der zwischenstaatlichen Kooperation fortgesetzt werden kann.

Moderne Sklaverei und steigende Infektionen

Rückblick, 8.7.2020: Ein britisches Textilunternehmen in Leicester hat offenbar während des raschen Anstiegs von Corona-Infektionen in Großbritannien sämtliche Hygiene- und Abstandsvorschriften missachtet. Die Firma, die für das britische Modeunternehmen Boohoo Produkte anfertigt, hat Arbeiter*innen verdeckt in die Näherei eingeschleust um die Produktion fortzusetzen – und mit 3,5 Pfund pro Stunde entlohnt, bei einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,72 Pfund. Auch Mitarbeiter*innen die nachgewiesenermaßen an Covod-19 erkrankt sind, wurden gezwungen weiterhin zur Arbeit zu erscheinen. Die britische Innenministerin Priti Patel spricht von „moderner Sklaverei“. Die Stadt Leicester ist besonders von Corona betroffen. Boohoo, das seine Ware online verkauft, hatte seine Absatzzahlen in der Corona-Krise stark steigern können.

Die WHO meldet unterdessen über 400.000 Neuinfektionen weltweit am vergangenen Wochenende und über ein halbe Millionen Tote durch die Corona-Pandemie. Die USA meldet inzwischen über 133.000 Todesfälle. Die USA hat nun ihren Austritt aus der WHO offiziell angekündigt – ein Austritt, der allerdings erst am 6. Juli 2021 wirksam werden wird – wenn Donald Trump die Wahlen im November gewinnt.
Brasiliens Präsident Bolsonaro hat sich, wie jetzt gemeldet wird, mit Covid-19 angesteckt. Noch am Wochenende war er, wie immer unter Menschen. Am Samstag nahm er an einem Essen des US-Botschafters anlässlich des amerikanischen Unabhängigkeitstages teil. Am Montag hingegen zeigte sich Bolsonaro ungewöhnlicherweise mit Maske und riet einem Anhänger, sich ihm nicht zu nähern. Brasilien ist inzwischen mit über 66.000 Corona-Opfern nach den USA das am schwersten von der Pandemie betroffene Land. Seit gestern sind – alleine an einem Tag – 1254 neue Todesfälle zu verzeichnen.

In Israel werden nun erneut zahlreiche Einschränkungen verfügt, nachdem die Infektionszahlen wieder sprunghaft gestiegen sind. Die Kritik an der Regierung wächst, die sich offenbar im Zeichen des Wahlkampfes zu früh als vorbildlich im Umgang mit Corona feiern ließ.

Nichts neues hingegen an den europäischen Außengrenzen: Das tagelang hingehaltene Rettungsschiff  Ocean Viking mit 180 Flüchtlingen an Bord, durfte nun den Hafen in Porto Empedocle anlaufen – freilich nur, um die zwischen. dem 25. und 30 Juni aus dem Mittelmeer geretteten Menschen auf das italienische Quarantäneschiff Moby Zaza “umzuladen”. Auf der Ocean Viking herrschte der schiere Notstand und einen Hungerstreik. SOS Mediterranee meldete sechs Selbstmordversuche, 25 der Flüchtlinge sind Minderjährige. Die Bürgermeisterin von Porto Empedocle  Ida Carmina will verhindern, dass die Flüchtlinge an Land kommen, sie fürchtet “negative Folgen für den Tourismus”.

 

Raphael Lemkin: Dem Verbrechen einen Namen geben

von Felicitas Heimann-Jelinek

Europäisches Tagebuch, 24.6.2021: Im August 1941, im Jahr der systematischen Errichtung der nationalsozialistischen Vernichtungslager, reagierte Winston Churchill angesichts des einsetzenden Massenmords an den europäischen Juden verstört mit den Worten: „We are in the presence of a crime without a name“, „wir gewärtigen ein Verbrechen ohne Namen.“ Der Mann, der dem Verbrechen einen Namen geben und für dessen zukünftige Ahndung durch den Internationalen Strafgerichtshof Sorge tragen sollte, wurde heute vor 121 Jahren in einem Dorf in Weißrusslandland geboren, nicht weit von Wilna entfernt: Raphael Lemkin.

An der Universität Lemberg wurde er zum Juristen promoviert. Anlass für seine Studienwahl war die selbstgestellte Frage, warum das türkische Massaker an einer Million armenischer Frauen, Kinder und Männer keine Straftat, die Tötung einer einzelnen Person nach allgemeingültigem Recht aber sehr wohl ein Verbrechen darstelle.

Im Januar 1933 wurde Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt, die Weimarer Republik zerschlagen und eine zentralistische Diktatur eingeführt. Gegner wurden schon ab März in eigens errichteten Lagern interniert. Zu dieser Zeit war Lemkin bereits ein angesehener Anwalt in Warschau, er war bewandert im internationalen Recht und gut vernetzt. Und er ahnte, dass es sich hier nur um den Auftakt zu etwas viel Schlimmerem handelte.

Lemkin erarbeitete einen Vorschlag, der die Vernichtung nationaler, „rassischer“ und religiöser Gruppen international als Verbrechen definieren sollte, und schickte ihn an eine internationale Konferenz. Doch er fand wenig Unterstützung, selbst als der Antisemitismus zur nationalen Politik Deutschlands wurde. Der faschistische Taumel, der einen großen Teil der Welt erfasst hatte, machte viele blind und taub. Als Hitler 1939 in Polen einmarschierte, wusste Lemkin, dass sich seine Ahnungen erfüllen würden.

Er floh aus Warschau, schlug sich zu seinen Eltern durch, nur um sich für immer von ihnen zu verabschieden. Gemeinsam mit 38 weiteren Familienangehörigen wurden sie als Juden von den Nazis ermordet. Ihm selbst gelang die Flucht in die USA, wo ihm ein Freund eine Stelle an der Duke Law School in North Carolina verschaffte.

Raphael Lemkin suchte fieberhaft nach einem Begriff, der dem Verbrechen, das vor den Augen der Welt stattfand, gerecht werden sollte. Der Begriff Massenmord, so argumentierte er, sei für die Ermordung der europäischen Juden nicht adäquat, da er die nationale, ethnische oder religiöse Motivation des Verbrechens nicht inkludiere. Auch Denationalisierung fasse den Tatbestand nicht, da er auf kulturelle, aber nicht unbedingt auf biologische Auslöschung abziele. Seine Überlegungen führten ihn schließlich zu einem Neologismus: Genozid. Das Wort ist zusammengesetzt aus dem altgriechischen genos (Klan, Rasse, Nachkommenschaft, Geschlecht) und dem lateinischen caedere (töten), die deutsche Übersetzung lautet Völkermord. Die Begriffsfindung war jedoch nur die Voraussetzung für das eigentliche Ziel. Lemkin setzte alles daran, dass Genozid als international justiziable Straftat behandelt und verurteilt werden sollte.

Bitter enttäuscht war Lemkin von den Nürnberger Prozessen, in denen wenig geschah, um den Völkermord als internationales Verbrechen zu kodifizieren – und nichts, um ihn in Zukunft zu verhindern. Aber er gab nicht auf, korrespondierte, lobbyierte, formulierte und überarbeitete den Text für eine Völkermordkonvention. Und tatsächlich war er nach unermüdlichem Kampf erfolgreich. Am 9. Dezember 1948 nahm die Organisation der Vereinten Nationen seinen Vorschlag einer Genozid-Konvention an. Wenig später erkrankte Lemkin so schwer, dass er hospitalisiert werden musste. Die Ärzte fanden die Ursache nicht. Er diagnostizierte sich glücklich selbst mit „Genoziditis. Erschöpfung durch die Arbeit an der Völkermordkonvention“.

Der Mann, der dem größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts einen Namen gegeben und die Straftat des Genozids völkerrechtlich exakt definiert hat, verstarb 1959 arm und alleine in einer Einzimmerwohnung in New York.

 

Ermüdung

20.6.2021: Nichts neues aus der österreichischen Flüchtlingspolitik. Der Türsteher der Nation, Karl Nehammer, schmiedet Bündnisse gegen “illegale Migration” mit osteuropäischen Regierungen, die sich um Recht und Gesetz immer weniger scheren und deren Methoden der Grenzsicherung mit den Menschenrechten auf Kriegsfuß stehen. In den Lagern auf europäischen Boden herrschen die gleichen Zustände wie von jeher, nur dass es jetzt dort heiß ist und nicht kalt. Und Österreich weigert sich nach wie vor, Flüchtlinge aus diesen Lagern aufzunehmen. Nichts neues unter der Sonne. Die Arroganz der Macht setzt auf Ermüdung. Und das ist recht erfolgreich.

20.6.2020: Im Rahmen einer Pressekonferenz der Grünen zum Weltflüchtlingstag hat die Bosnische Flüchtlingshelferin Zehida Bihorac gestern eine Dokumentation von 500 belegten Fällen massiver Gewalt und illegalen Push-backs gegen Flüchtlinge an der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien präsentiert. Es geht um Gewalt von Polizeikräften auf beiden Seiten. „Es wird immer schlimmer. Täglich kommen die Menschen verletzt, geschlagen und gefoltert von der Grenze zurück. Ich bitte euch als Europäer: Helft uns und helft euch, weil auch Bosnien-Herzegowina ist ein Teil von Europa“, sagte Bihorac, die sich seit Jahren in Velika Kladusa um Geflüchtete kümmert. Gezeigt wurden auch Aufnahmen aus dem bosnischen Camp „Miral“, wo Polizisten mit Knüppeln auf wehrlose Flüchtlinge einschlagen. Die verantwortlichen Minister der österreichischen Bundesregierung und Kanzler Kurz weigern sich nach wie vor, bedrohte Flüchtlinge innerhalb Europas aufzunehmen, oder die Probleme auf dem Balkan überhaupt nur zur Kenntnis zu nehmen. Die Erfolgsgeschichte von der angeblichen „Schließung der Balkanroute“ will man sich nicht nehmen lassen, „koste es was es wolle“.

Kinderschutz auf ungarisch

Europäisches Tagebuch  18.6.2021: Vor drei Tagen hat das ungarische Parlament eine Gesetzesnovelle unter der Überschrift:  “Änderungen von einigen Gesetzen zum strengeren Vorgehen gegenüber pädophilen Kriminellen sowie im Interesse des Kinderschutzes”. Gemeint ist damit die öffentliche Verteufelung von Homosexuellen. Für die Gesetzesvorlage stimmten Abgeordnete der von Orban angeführten Regierungspartei Fidesz sowie Parlamentsmitglieder der rechtsextremen Oppositionspartei Jobbik. Alle anderen Oppositionspolitiker, bis auf einen, verließen aus Protest den Parlamentssaal und nahmen an der Abstimmung nicht teil. Das Votum ging dementsprechend 157 zu eins aus.
Das Gesetz verbietet Bücher und Filme in denen Sexualität dargestellt wird, die von der heterosexuellen abweicht – und jegliche Bildungsprogramme und Aufklärungsbücher, die das Thema zum Gegenstand haben. Auch Werbung, die Homosexuelle oder Transsexuelle als “normal” darstellen, ist verboten. Damit stellt sich die Regierung Urban und die Mehrheit des ungarischen Parlaments gegen alle Diskriminierungsverbote, die inzwischen angeblich zu den europäischen “Grundwerten” gehören, und vor allem zum gesetzlichen Grundlagen der Gemeinschaft. Mit dieser Kampfansage fordert Urban die EU nun freut offen heraus. Die Frage bleibt, ob die EU sich als zahnloser Tiger erweisen wird.

Rückblick, 18.6.2020: Der Europäische Gerichtshof entscheidet zugunsten der Klage der Europäischen Kommission gegen das ungarische NGO-Gesetz aus dem Jahr 2017, dass Nichtregierung-Organisationen, die Spenden aus dem Ausland erhalten, benachteiligt und öffentlich an den Pranger stellt. Das Gesetz richtet sich in der öffentlichen Wahrnehmung insbesondere gegen Stiftungen von George Soros, gegen den der ungarische Ministerpräsident Orban seit Jahren antisemitische Kampagnen fährt, mit denen er für sich im Lande erfolgreich Stimmung macht. Die von George Soros gegründete Central European University, die dazu beitragen sollte, eine demokratische und liberale Wissenschaftspolitik zu unterstützen, hat er auf diese Weise inzwischen aus Budapest nach Wien vertrieben. Neben dem NGO-Gesetz gab es die unterschiedlichsten Denunziationen und Schikanen. Von Orban kontrollierte Zeitungen veröffentlichten Listen von angeblichen „Soros-Söldnern“ und Strafverfahren schüchterten Kritiker seiner Asyl-Politik ein, denen Strafen wegen Begünstigung von Schlepperei angedroht wurden, selbst wenn es sich dabei nur um Vorlesungen an der Central European University über Migrationspolitik ging.
Die Luxemburger Richter gaben der EU-Behörde nun Recht und sprachen von »diskriminierenden und ungerechtfertigten Beschränkungen«. Diese verstießen sowohl gegen die EU-Verträge als auch gegen die Charta der EU-Grundrechte. Die Luxemburger Richter wiesen in ihrem Urteil zudem darauf hin, dass das NGO-Gesetz die in der Grundrechte-Charta verankerten Rechte auf Versammlungsfreiheit, auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Schutz personenbezogener Daten verletze. Es ist freilich nicht zu erwarten, dass das Luxemburger Urteil Eindruck auf Orban machen wird. Auf ähnliche Urteile reagierte er bislang mit weiteren Verschärfungen seiner Politik.

Sicherung der Außengrenzen

Rückblick, 13.6.2020: Seit einigen Tagen häufen sich Berichte über Misshandlungen von Flüchtlingen. Kroatien „sichert“ die EU-Außengrenze und sichert sich damit vor allem den Beifall aller europäischen Rechtspopulisten von Sebastian Kurz bis Viktor Orban. Flüchtlinge, die von Bosnien und Herzegowina versuchen nach Kroatien zu gelangen, sollen nach Ermittlungen von Amnesty International wiederholt geschlagen, getreten und misshandelt werden. Amnesty berichtet von zahlreichen komplizierten Knochenbrüchen und schweren Kopfwunden. Das Kroatische Innenministerium weist alle entsprechenden Vorwürfe umgehend zurück. Die EU-Kommission verlangt Aufklärung: „Wir sind sehr besorgt über die Vorwürfe unmenschlicher und erniedrigender Behandlung von Migranten und Asylsuchenden an der kroatischen Grenze zu Bosnien und Herzegowina“. Damit bezieht die EU-Kommission zum ersten Mal deutlich Stellung. Schon im Januar hatten sich Berichte gehäuft, dass es regelmäßig und systematisch zu Gewalttaten kroatischer Grenzbeamten gegen Flüchtlinge komme. Die schwedische EU-Abgeordnete Malin Björk hatte sich an der kroatischen Grenze selbst ein Bild davon verschafft und vergeblich versucht eine eindeutige Reaktion der EU-Kommission zu erreichen.
Auch das Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen fordert nun eine unabhängige Kommission zur Prüfung der Vorwürfe.

Hersch Lauterpacht und die Menschenrechtskonvention

von Felicitas Heimann-Jelinek

Bereits der griechische Stoiker Zenon (336-270 v.u.Z.) postulierte, dass alle Menschen allein durch ihr Menschsein gleich seien. In der Praxis spielte diese theoretische Erkenntnis allerdings keine Rolle. Ihre Reflexion blieb die längste Zeit den Philosophen überlassen. Erst mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung fanden die Menschenrechte Eingang in ein politisches Format. Diese Rechte machten allerdings vor der indigenen Bevölkerung und vor den Versklavten halt. Auf dem europäischen Kontinent machte die Französische Revolution die Menschenrechte zum politischen Konzept. Und die französische Verfassung von 1791 schloss sogar Juden ein – allerdings noch lange keine Frauen. Für Menschen außerhalb des europäischen Kontinents galten diese Rechte selbstredend nicht.

Es sollte bis zum 10. Dezember 1948 dauern, bis die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Und erst am 3. September 1953 wurde die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert.

Nicht alle Zuständigen sahen die Notwendigkeit einer juristischen Befassung mit Völkerrecht, Menschenrecht, Schuld und Verantwortung 1945 ein. Fritz Bauers in eben jenem Jahr erschienene Arbeit „Die Kriegsverbrecher vor Gericht“, in der er „eine Lektion im geltenden Völkerrecht“ für die Deutschen forderte, stieß zumindest in den Tätergesellschaften auf taube Ohren. Und doch entsprangen Ausarbeitung und Beschlussfassung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der direkten Reaktion auf die Gräuel, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg insbesondere an Zivilisten und insbesondere an den europäischen Juden und anderen Minderheiten begangen worden waren. Eine nicht unbedeutende Rolle bei der Entwicklung eines universalen Menschenrechtscodes spielte Hersch Lauterpacht.

Lauterpacht, 1897 im heute ukrainischen Schowkwa gebürtig, studierte bei dem Staatsrechtler und Rechtsphilosophen Hans Kelsen in Wien, danach an der renommierten London School of Economics. Von 1938 bis 1955 hatte er den Lehrstuhl für Internationales Recht in Cambridge inne, 1951 bis 1954 war er Mitglied der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, und 1955 bis zu seinem Tod 1960 war er Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag.

Als junger Mensch hatte Hersch Lauterpacht die Katastrophen des Ersten Weltkriegs erfahren. Sie waren Auslöser für seine lebenslange Beschäftigung mit dem Völkerrecht sowie mit den Menschenrechten. Die elterliche Familie des Ehemanns und Vaters Hersch Lauterpacht war im altösterreichischen Lemberg ermordet worden. Dies mag seinen Fokus auf den Status des Individuums im Völkerrecht und auf die Frage nach der Verhältnismäßigkeit nationalstaatlicher Oberhoheit begründet haben. In diesem Kontext entwickelte Lauterpacht die Terminologie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zur Fassung der ungeheuren Gräuel an Zivilpersonen, eine Formulierung, mit der das Völkerrecht eine entscheidende Erweiterung erfuhr. In den Nürnberger Prozessen legitimierte sie die strafrechtliche Anklage und Verurteilung der Aktionen der Nazis gegen Millionen ziviler Bürger*innen. Die Definition lautete: „Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an jedweder Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges; Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht.“ Der Schutz des Einzelnen vor dem Staat kann seitdem auch in der EU eingefordert werden. Juristisch dafür zuständig ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Auf übereuropäischer Ebene ist der Internationale Gerichtshof in Den Haag für völkerrechtliche Fragen und Verfahren zuständig. Als der maßgeblich an der Erarbeitung der europäischen wie der internationalen Menschenrechtskonvention Beteiligte Hersch Lauterpacht 1954 von britischer Seite als Richter an diesen entsendet werden sollte, wurden Stimmen laut, die diese Entscheidung mit dem Argument kritisierten, der renommierte Völkerrechtler sei für dieses Amt nicht „britisch“ genug, worüber sowohl seine Herkunft als auch sein Name ja eindeutig Auskunft gebe.

Am 8. Mai 1960, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, starb Hersch Lauterpacht in London.

Erpressung und Solidarität

Europäisches Tagebuch, 2.4.2020: Nachdem es mit Lügen und Zockerei nicht funktioniert hat, versucht es Österreich innerhalb der Europäischen Union nun offenbar mit Erpressung. Es gilt die Unschuldsvermutung.
In dem Gerangel über die Verteilung der zusätzlichen 10 Millionen Impfdosen, die die EU-Kommission von Biontech-Pfizer für eine vorzeitige Lieferung herausverhandelt hat, soll die neue österreichische Vertretung in der Steering Group nach Berichten des Magazin Politico gedroht haben, die weiteren Lieferungen an die EU insgesamt zu blockieren, wenn Österreich nicht über die ihnen zustehenden 140.000 zusätzlichen Impfdosen hinaus mit Extra-Lieferungen bedacht wird – z.B. auf Kosten der bisher durch verfehlte Bestellungen ins Hintertreffen gelangten Länder wie Bulgarien. Also genau auf Kosten jener Länder, die Bundeskanzler Kurz noch vor wenigen Tagen vor die Karre seiner Angriffe auf die EU gespannt hat. Kurz hatte dabei zugleich großartig verkündet, Österreich stünden 400.000 zusätzliche Impfdosen zu.
Das Bundeskanzleramt weist den Bericht von Politico als Unterstellung zurück. Österreich habe nicht mit einer Blockade gedroht. Österreich habe nur verlangt, dass man sich erst über die Verteilung der 10 Millionen Dosen einigt, bevor es um die Großbestellung für den Herbst gehen könnte. Das Bundeskanzleramt hat also eine etwas andere Formulierung dafür gefunden, dass Österreich genau das tut: es droht mit einer Blockade der Impfungen der gesamten EU. Die Reaktionen der übrigen EU-Staaten auf diesen österreichischen Amoklauf haben nicht auf sich warten lassen.

Rückblick, 2.4.2020: Im Flüchtlingslager Ritsona nördlich von Athen ist ein erster Fall von Corona festgestellt worden. Eine 19jährige wurde nach der Geburt ihres Kindes in einem Krankenhaus positiv getestet. Wenig später werden im Lager 23 Infektionen festgestellt.

Die EU stellt ein Hilfspaket von 240 Millionen für Staaten im Nahen Osten bereit, die syrische Flüchtlinge aufnehmen.

Noch immer sitzen 40.000 Asylsuchende in überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln im Osten der Ägäis fest, die von acht Mitgliedstaaten beschlossene Aufnahme von 1600 unbegleiteten Minderjährigen hat noch nicht begonnen. Die Verhältnisse in diesen Flüchtlingslagern sind nach wie vor in jeder Hinsicht dramatisch.

90 deutsche und italienische Politiker, Wissenschaftler und Künstler haben einen Aufruf im Netz gestartet und werben für Europäische Solidarität im Zeichen der Corona-Krise und die Wahrnehmung der gemeinsamen Verantwortung durch die Europäische Zentralbank.

14 EU-Mitgliedsstaaten (Deutschland, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden und Lettland) haben eine Erklärung unterzeichnet, in der sie ihre Besorgnis über die mögliche Aushöhlung der Demokratie im Rahmen von Notfallmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie zum Ausdruck bringen. Offenkundig ist insbesondere das ungarische Notstandsgesetz gemeint. Die österreichische Regierung beteiligt sich nicht an dieser Erklärung. Die ungarische Regierung spricht von einer „koordinierten Schmierenkampagne“.

Österreichische Arithmetik: 5000 = 186

Europäisches Tagebuch, 17.3.2021: Kurz vor Weihnachten 2020 wollten wie uns heute wieder in Erinnerung gerufen wird,  ein paar österreichische Regierungsmitglieder Herbergseltern spielen. Schließlich stand wieder das Fest der Herbergssuche der Flüchtlinge Josef und Maria auf der Tagesordnung. Es sei doch gar nicht so, dass man hartherzig sei und Flüchtlingskindern auf den griechischen Inseln jede Hilfe verweigern würde. Alles nur schlechte Nachred‘.

Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass Bundesinnenminister Nehammers großzügige „Hilfe vor Ort“, also die im Oktober gelieferten Zelte,  in einer griechischen Lagerhalle vergammelte, und einmal mehr die verstörenden Bilder der Flüchtlingslager auf Lesbos und Samos die Runde machten, rückten Karl Nehammer und Susanne Raab aus, um herzenswarme Stimmung zu verbreiten.
Österreich habe mehr als 5000 Kindern im Jahr 2020 Schutz gewährt, behauptete der Innenminister. Und „Integrationsministerin“ Susanne Raab sekundierte am 18. Dezember in der Nachrichtensendung ZIB2, Österreich habe in diesem Jahr mehr als „5000 unbegleitete Minderjährige aufgenommen“. Zweifel an dieser Zahl wurden unmittelbar laut. Dann wurde das Thema von der Tagespolitik verdrängt.
Gestern hat Karl Nehammer endlich eine entsprechende parlamentarische Anfrage der Neos im österreichischen Nationalrat beantwortet. Die dabei zu Tage geförderte Realität sieht folgendermaßen aus:

Österreich hat 2020 186 (in Worten einhundertsechsundachtzig) unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgenommen. Von den übrigen 5544 begleiteten minderjährigen Flüchtlinge, denen 2020 in Österreich ein Schutzstatus zugesprochen wurde, ist die Mehrzahl, nämlich 3220, in Österreich gar nicht „aufgenommen“ worden. Sie wurden in Österreich geboren. In vielen anderen Ländern hätten sie damit keinen „Schutzstatus“ nötig. Sie wären Staatsbürger. Aber dies einmal nur am Rande.
2324 Minderjährige, die 2020 Schutz erhalten haben, sind hingegen tatsächlich als Flüchtlinge nach Österreich gekommen. Gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen. Die meisten von ihnen sind schon jahrelang im Land und warteten auf eine Entscheidung.

Kurz zusammengefasst: 5000 in Österreich letztes Jahr „aufgenommene unbegleitete Minderjährige“ sind tatsächlich 186. Die Herbergseltern Nehammer und Raab lügen wie gedruckt. Aber das ist nicht wirklich neu. Und es ist ihnen auch vollkommen egal.

Rückblick, 17.3.2020: In einer Videokonferenz diskutieren Angela Merkel, Emmanuel Macron, Boris Johnson und Recep Tayyip Erdogan über die Lage der Flüchtlinge in der Türkei. Angesichts des von den Medien auch in Österreich angeheizten Propagandakriegs zwischen der EU und dem Erdogan-Regime in der Türkei setzen beide Seiten inzwischen auf Geheimdiplomatie, um nach einer Lösung zu suchen, die beiden Seiten Gesichtswahrung erlaubt.
Die EU hatte mit ihrer Weigerung, den Flüchtlingsdeal zwischen Europa und der Türkei zu verlängern, Erdogan zu einem Propagandacoup provoziert, auf Kosten der Flüchtlinge, die mit falschen Versprechungen an die türkisch-griechische Grenze gekarrt wurden, um Druck auf Griechenland und die EU auszuüben.