Epilog: Was wäre wenn?

Foto: Eva Jünger

Was wäre, wenn wir gefragt würden, was für uns Europa ist? Wie wollen wir Europa definieren? Ist Europa Heimat? Ist es mehr oder weniger Heimat als Westeuropa, Deutschland, Österreich, Bayern, Vorarlberg?

Ist Europa ein Erdteil, oder eigentlich nur ein Subkontinent? Bildet es eine geografische Einheit? Ist es die Summe einzelner Nationalstaaten oder auch eine historisch-kulturelle Einheit? Wo ist Europa zu Ende?

Gibt es so etwas, wie einen europäischen Wertekanon? Wer definiert den? Und verlaufen alle Grenzen Europas in Europa?

Was wäre, wenn wir gefragt würden, mit welchen Ländern weiter über einen EU-Beitritt verhandelt werden sollte? Mit allen 47 europäischen Ländern oder nur mit ausgewählten? Und nach welchen Kriterien sollten sie eingeladen werden?

Was wäre, wenn es keine politischen Grenzen gäbe? Gäbe es keine Konflikte? Welchen Stellenwert hat Freizügigkeit?

Was wäre, wenn wir ein europäisches Parlament mit echten Befugnissen hätten? Wenn es einen europäischen Souverän gäbe? Wie demokratisch könnte Europa dann funktionieren?

Was wäre, wenn wir Europa ganz anders dächten? Wenn wir es als historische Verantwortung dächten? Dann wären Städte wie New York, Tel Aviv, Beirut und viele andere vielleicht europäische Städte.

Was wäre, wenn wir Europa als soziale Verantwortung dächten? Dann wären alle damals und heute für Europa arbeitenden Gesellschaften zugleich auch europäische.

Was müsste geschehen, damit Europa gemeinsam handeln kann? Was wäre, wenn wir Europa als globale Verantwortung dächten?

Und was hinterlassen unsere Besucher*innen auf der Weltkarte und der Europakarte?

Foto: Daniel Schvarcz

 

Hohenems:
Hier zum Stand am 28.9.2021:

Unsere Europakarte – Ende September

Hier zum Stand am 25.8.2021:

Unsere Europakarte – Die Diskussion geht weiter

Hier zum Stand am 25.7.2021:

Unsere Europakarte – Kommentare unserer Ausstellungsbesucher*innen

Hier zum Stand am 20.5.2021:

Unsere Europakarte – neue Kommentare unserer Besucher:innen

Hier zum Stand am 23.4.2021:

Unsere Europakarte – Unsere Weltkarte. Ein Update

Hier zum Stand am 17.2.2021:

Viele Antworten auf viele europäische Fragen – und manche neue Frage

 

 

Europas Grenzen

Ausstellungsinstallation Europas Grenzen. Foto: Dietmar Walser

„Wir konnten reisen ohne Pass und Erlaubnisschein, wohin es uns beliebte, niemand examinierte uns auf Gesinnung, auf Herkunft, Rasse und Religion.“ Als Stefan Zweig 1941 im brasilianischen Exil seine etwas idealisierten „Erinnerungen eines Europäers“ fertigstellte, hatte er eine radikal veränderte Realität in Europa vor Augen. 
Schon 1938 hatte die Schweiz ihre Grenzen vor den immer zahlreicheren jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland geschlossen und verweigerte ihnen politisches Asyl. Der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger rettete in der Zeit von 1938 bis 1939 hunderten von ihnen das Leben, auch durch die gefälschte Datierung von Grenzübertritten. 1939 wurde er vom Dienst suspendiert und verurteilt und erst 1995 von der Schweiz rehabilitiert. Während Grüninger als Flüchtlingshelfer geehrt wird, werden heute viele Helfer erneut kriminalisiert.

Eine der großen Errungenschaften der Europäischen Union ist das Schengener Abkommen von 1985, das die Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb der EU ermöglicht. 

Auch nicht-EU-Länder wie die Schweiz, Liechtenstein, Island und Norwegen nehmen inzwischen am Abkommen teil. An der österreichisch-schweizerischen Grenze bei Hohenems gehört der kleine Grenzverkehr in beide Richtungen längst zum Alltag. 
Auch Rumänien, Bulgarien und Kroatien sollen dem Schengen-Raum beitreten. Manche Branchen, wie die Landwirtschaft, die Baubranche oder die Pflegedienste sind auf „Wanderarbeiter“ aus Süd-Osteuropa inzwischen existentiell angewiesen.

< Die Paul Grüninger Brücke, von der Schweiz aus Richtung Grenzübergang Hohenems, 2020, © Dietmar Walser, Jüdisches Museum Hohenems

> Im Sommer 2015 von Ungarn errichtete Grenzzäune zwischen Ungarn und Serbien, © Attila Kisbendedek/AFP

Anlässlich der Beitrittsverhandlungen zur EU wurde auch Serbien 2009 der kontrollfreie Zugang zum Schengenraum gewährt. Das sollte sich nach der Flüchtlingsbewegung Richtung EU ändern. Zahlreiche Länder u. a. auch Österreich und Deutschland führten die Grenzkontrollen wieder ein. Und Ungarn, in das im Sommer 2015 ca. 160.000 Flüchtlinge gelangten, errichtete an seiner „EU-Außengrenze“ zu Serbien einen 300 km langen und bis zu 4 Meter hohen Stacheldrahtzaun.

Inzwischen hat sich der Fokus der EU auf die Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei verlegt. Mehr als 4 Millionen Kriegsflüchtlinge leben in der Türkei. Im Rahmen des „EU-Türkei Abkommens“ erhielt diese von der EU finanzielle Unterstützung, um die Flüchtlingsbewegung in die EU einzudämmen. Nach Ablauf des Abkommens brachte die Türkei Ende Februar 2020 Flüchtlinge an die Grenze, um Druck auf die EU auszuüben. Griechenland setzte daraufhin das Recht auf Asyl zunächst für ein Jahr aus, was offen gegen die EU-Menschenrechts- und die Genfer Flüchtlingskonvention verstieß. 

Die „Wanderarbeit“ in Europa hingegen offenbart ihre Schattenseiten: schlechte Bezahlung, schwierige Arbeitsbedingungen und menschenunwürdige Unterbringung wurden im Zeichen von Corona unverhofft als Problem der ganzen Gesellschaft erkannt.

Rainer Münz (Wien) über Wanderarbeit in Europa:

„In allen EU-Mitgliedstaaten beheimatet“

Ausstellungsinstallation “In allen EU-Mitgliedsstaaten beheimatet”. Foto: Dietmar Walser

Es gibt in Europa viele sprachliche und ethnische Minderheiten, zu denen etwa die Samen, Bretonen, Basken, Sorben, Friesen, Sarden, Pavee, Jenischen oder die Roma zählen. Zu den Roma gehören Sinti, Manouches, Kalderasch, Lovara und Aschkali. Mit 10–12 Millionen Menschen insgesamt stellen die Roma die größte Minderheit in Europa dar und sind nach der Europäischen Kommission „in allen EU-Mitgliedstaaten beheimatet“. Allen Klischees entgegen, ist die überwiegende Mehrheit der europäischen Roma sesshaft. Nachdem schätzungsweise Hunderttausende europäische Roma Opfer des NS-Rassenwahns wurden, sind sich die europäischen Staaten heute offiziell ihrer menschenrechtlichen Verpflichtung zum Schutze aller ihrer Minderheiten bewusst. Am 1. Februar 1998 trat ein Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Kraft. 2007 errichtete der Künstler Damian Le Bas (1963–2017) gemeinsam mit seiner Frau Delaine den ersten Roma-Pavillon auf der Biennale in Venedig.

< Damian Le Bas, Gipsyland Europe, Berlin 2017, © Delaine Le Bas

> Abgeschobene Roma am Flughafen Lyon, 2010, © Philippe Desmazes/AFP

Als Maßnahme einer gezielt und vorrangig gegen Roma gerichteten „Sicherheitsoffensive“ lösten im August 2010 französische Sicherheitskräfte 40 nicht bewilligte Roma-Lager auf. 700 Menschen aus Rumänien und Bulgarien wurden gewaltsam abgeschoben, obwohl sie als EU-Bürger das Recht auf Freizügigkeit genießen. Zur Durchführung einer reibungslosen Abschiebung wurden eigene Charterflüge organisiert. Nicht nur der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma sah den Tatbestand der Diskriminierung und Verletzung der Minderheitenrechte gegeben. Französische Intellektuelle wie André Glucksmann schlossen sich an und forderten Freiheit für die „grenzüberschreitenden Wohnwagen“ ein.Der auf seine Herkunft aus einer tunesisch-jüdischen Familie stolze damalige Europaminister Frankreichs, Pierre Lellouche, verteidigte das Vorgehen der Sicherheitskräfte nicht nur, sondern stellte auch die Definition des Prinzips der Freizügigkeit innerhalb der Union zur Disposition. Kritik der EU-Kommission sah er als „Einmischung aus Brüssel“, obgleich das genannte Rahmenübereinkommen des Europarates verletzt worden war. Anderseits kritisierte Lellouche die Europäische Kommission dafür, vor dem europäischen Phänomen eines massiven „Antiziganismus“ die Augen zu verschließen und keine Visionen für eine Verbesserung der Lebenssituation der Roma überall in Europa zu entwickeln.

Yaron Matras (Manchester) über Romanes und das Stereotyp der “Fahrenden”: