Gerald Reitlinger: Auf einem Turm von Schädeln

Europäisches Tagebuch, 2. März 2023: Heute vor 123 Jahren wurde Gerald Reitlinger geboren.

von Hanno Loewy

Aus einem Archäologen und Kunstsammler wurde ein Historiker des Holocaust. Das Leben Gerald Reitlingers führte ihn zunächst in die alte Vergangenheit Asiens, bevor ihn die jüngste Vergangenheit Europas dazu brachte, sich in die Archive der Täter zu versenken.

Geboren wurde der jüngste Sohn von Albert Reitlinger und Emma Brunner – die aus der gleichnamigen Hohenemser Familie stammte – am 2. März 1900 in London. Nach seinem Kunststudium an Londoner Akademien und der Kulturwissenschaften in Oxford nahm Reitlinger 1930-31 an Ausgrabungen im Irak teil, unternahm Forschungsreisen in den Iran, die Türkei und nach China. 1932 erschien sein Buch A Tower of Skulls. A Journey Through Persia and Turkish Armenia. Daneben sammelte er mit Begeisterung syrische wie persische Keramik – und lebte das Leben eines exzentrischen Connaisseurs, der für seinen galligen Humor bekannt war.

Gerald Reitlinger, Portrait von Christopher Wood; © Ashmolean Museum, Wikimedia Commons

Im Zweiten Weltkrieg diente er in der britischen Armee zunächst in der Luftabwehr, dann als Ausbilder. Doch nach 1945 widmete er sein Leben der Erforschung des Holocaust. 1953 veröffentlichte er in London die erste Gesamtdarstellung der Schoa: The Final Solution. Betroffen und skeptisch stellt er den nationalen Gedächtnisverlust in Frage, der die ehemaligen Täterländer bald flächendeckend erfasst hatte. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte lehnte es ab, Reitlingers Buch zu veröffentlichen. Man wollte sich in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht von „außen“ stören lassen. Das Buch erschien schließlich trotzdem auf Deutsch unter dem Titel Endlösung. 1956 folgte seine Studie über The SS. Alibi of a Nation 1922-1945. Das Buch bekam von seinem deutschen Verlag freilich einen weniger sarkastischen Titel verpasst, um sie dem deutschen Publikum schmackhaft zu machen: Die SS – Tragödie einer deutschen Epoche. Noch ein drittes Buch über die NS-Verbrechen folgte. The House Built on Sand. The Conflicts of German Policy in Russia 1939–1945 erschien 1960 in London, und unter dem Titel Ein Haus auf Sand gebaut. Hitlers Gewaltpolitik in Russland 1941–1944 auch auf Deutsch.
Reitlinger schrieb über den Holocaust mit unbestechlichem Blick. Aber selbst dem Studium der monströsen Aktenbestände der SS gewann er mit bissigem Sarkasmus einen schwachen Optimismus ab: „Hiob wünschte in seinem Elend, sein Widersacher möge ein Buch schreiben, und sein Gebet wurde erhört, denn es gibt in Wahrheit nichts, das dieser Widersacher nicht zu Papier gebracht hätte. Ich habe fast volle vier Jahre unter diesen Urkunden verbracht und habe ihre Gesellschaft nicht nur düster oder niederdrückend gefunden. Denn auf vielen Seiten huscht und glimmt etwas, ohne das jede Regierung eine Hölle auf Erden wäre – menschliche Fehlbarkeit. (…) Es kann sein, daß mörderisches Rassegefühl unausrottbar in der Natur von Ameisen und Menschen liegt; der Roboterstaat jedoch, der ihm vollen Ausdruck geben würde, kann und wird niemals von Bestand sein.“

Und doch endet sein Buch mit unbequemen Fragen und zugleich mit einer großbürgerlichen Sehnsucht nach „alten Werten“:
„Ist die Beseitigung von auserlesenen Opfern etwas, das geradezu in der Natur des übermächtigen modernen ‚demokratischen‘ Staates verborgen liegt? Kann es wieder geschehen, und kann es in andern Ländern geschehen? Es mag lange dauern, bevor wir die Antwort auf diese Fragen kennen, die wie ein roter Faden durch dieses ‚Postmortem‘ über die Endlösung laufen.
Es ist schwer zu glauben, daß es in Deutschland oder im deutschbesetzten Teil Europas einen Menschen gab, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war und während der letzten zwei Jahre des Krieges nicht wußte, daß die meisten Juden verschwunden waren, oder nicht irgendwo gehört hätte, daß sie erschossen oder vergast worden sind. Ebensowenig nehme ich an, daß es einen Menschen gab, der nicht einen Freund hatte, der jemanden kannte, der ein Massaker gesehen hatte. Mehr als hundert Millionen Menschen müssen von diesen Dingen gewußt und über sie im Flüsterton mit andern gesprochen haben. (…) Der Deutsche von 1933 war eine Art Karikatur der europäischen Zivilisation, die um so leichtfertiger, habgieriger und unkritischer wurde, je mehr materieller Fortschritt die alten Werte untergrub.“

Nach seinen drei Büchern über die NS-Verbrechen kehrte Reitlinger zur Kunst- und Kulturgeschichte zurück. Sein dreibändiges Werk The Economics of Taste (1961-1970) widmet sich der Geschichte des Kunstmarktes von 1760 bis zur Gegenwart. Seine eigene, bedeutende Sammlung, die kurz vor seinem Tod 1978 durch ein Feuer in seinem Haus beschädigt wurde, vermachte er dem Ashmolean Museum in Oxford, wo sie heute die „Gerald Reitlinger Gallery“ bildet.

Eugenie Goldstern – Europäische Ethnologie zwischen Pogrom und Massenvernichtung

Europäisches Tagebuch, 01. März 2023: Heute vor 139 Jahren kam (wahrscheinlich) Eugenie Goldstern in Odessa zur Welt.

von Raphael Einetter

Eugenie (auch Jenja bzw. Jenny) Goldsterns Geburtsdatum ist nicht abschließend geklärt. So tauchen sowohl der 16. Dezember 1883 als auch der 1. März 1884 in Quellen und Literatur auf. Gesichert ist jedenfalls, dass sie im damals zum russischen Kaiserreich zählenden (und heute ukrainischen) Odessa geboren wurde. Als Tochter einer wohlhabenden Familie entstammte sie als vierzehntes Kind der Ehe des Kaufmanns Abraham Goldstern (1832-1905) und dessen Frau Marie Goldstern, geb. Kitower (1844-1913). Die Familie war stark von deutsch-österreichischen Einflüssen geprägt, weshalb die Umgangssprache auch deutsch war, wie Gerhard Milchram bereits 2009 in seinem Beitrag zum Ausstellungskatalog Hast du meine Alpen gesehen? festhielt. Darin ging er auch darauf ein, dass besonderen Wert auf die Erziehung von Eugenie Goldstern und ihren Geschwistern gelegt wurde, was sich an der Anstellung von französischen Gouvernanten, englischen Kindermädchen sowie deutschen Hauslehrern ablesen ließ. 1905 flüchtete Eugenie Goldstern mit einem Teil ihrer Familie vor den Pogromen, bei denen zaristische Soldaten in Odessa ein Blutbad anrichteten, nach Wien.

Eugenie Goldstern, um 1910; Sammlung Frances Freemann, Wellington

Dort absolvierte sie das Gymnasium, interessierte sich für Volkskunde und besuchte ab 1911 als Gasthörerin an der Universität Wien die Vorlesungen von Michael Haberlandt, der zur selben Zeit das Amt als Direktor des Volkskundemuseums Wien angetreten hatte. Das Programm des Vereins für Volkskunde las sich – freundlich betrachtet – wie ein Programmtext vergleichender, europäischer Ethnografie:

„Von den Karpaten bis zur Adria wohnt in dem von Natur und Geschichte gefügten Rahmen des Vaterlandes eine bunte Fülle von Völkerstämmen, welche wie in einem Auszug die ethnographische Mannigfaltigkeit Europas repräsentiert. Germanen, Slaven und Romanen – die Hauptstämme der indo-europäischen Völkerfamilie – setzen in verschiedener historischer Schichtung und nationalen Abschattungen die österreichische Bevölkerung zusammen. Wir bekümmern uns aber nicht um die Nationalitäten selbst, sondern um ihre volksthümliche, urwüchsige Grundlage.“

Doch verleugnete dieser „vergleichende“ Blick, wie sich bald zeigen würde, weder seine rassistischen Prämissen, noch seine paternalistische, deutsch-österreichische Perspektive.

Da eine Promotion in Wien für sie nicht möglich war, setzte die sprachgewandte Eugenie Goldstern, die neben ihrer deutschen Muttersprache auch des Russischen, Polnischen und Französischen mächtig war, ihre Studien beim französischen Ethnologen Arnold van Gennep im schweizerischen Neuchâtel fort. Van Genneps bahnbrechende Studien zur Ethnografie der Initiationsrituale, der „rites de passage“, sollten den Weg zur strukturalistischen Entdeckung der tiefgreifenden Gemeinsamkeiten ganz unterschiedlicher „Kulturen“ öffnen. Und so waren auch Goldsterns Forschungen zum Lebensalltag und zur materiellen Kultur der Menschen in den Alpen von einer vergleichenden Perspektive geprägt, sie sowohl Osteuropa aber auch außereuropäische Gesellschaften mit in den Blick nahm.

Bessans. Volkskundliche monographische Studie über eine savoyische Hochgebirgsgemeinde. Inauguraldissertation von Eugenie Goldstern, Wien 1922

In der Schweiz unternahm sie im Rahmen ihrer Feldforschung Reisen durch entlegene Regionen in den Alpen, wie beispielsweise 1912 in die Hochgebirgstäler des Wallis. Im Winter 1913/1914 beobachtete, fotografierte und dokumentierte sie mehrere Monate das Leben der Menschen im französischen Bessans in Hochsavoyen, wobei sie auch den sozialen Lebensbedingungen ihre Aufmerksamkeit widmete. Schließlich lebte sie monatelang mit den Menschen dort zusammen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrach ihre Forschungen, die sie nach ihrer erzwungenen Rückkehr nach Österreich zunächst im Lammertal in Salzburg fortsetzte. 1918 konnte sie die Feldforschung im schweizerischen Wallis bzw. Graubünden wieder aufnehmen und ihr Studium 1921 schließlich mit der Promotion in Fribourg (Schweiz) bei Paul Girardin beenden. In ihrer Dissertation behandelte sie die Hochgebirgsvölker in Savoyen und Graubünden, insbesondere jene von Bessans sowie des Münstertals in Graubünden.

Während sich die Wiener Volkskunde immer stärker über Rassismus und Antisemitismus definierte, veröffentlichte die Wissenschaftlerin 1924 nochmals Erkenntnisse ihrer Studien zu „alpinen Spielzeugtieren“ und schenkte dem Wiener Volkskundemuseum mehrmals Objekte aus ihrer, über die Jahre gewachsenen, Forschungssammlung.

Krampus mit Kind aus Bessans, 19. Jhdt,, Sammlung Eugenie Goldstern, Österreichisches Museum für Volkskunde, Wien, Foto: Österreichisches Museum für Volkskunde

Die angestrebte Karriere in Wien blieb ihr als jüdischer Frau jedoch verwehrt und so zog sich Goldstern gezwungenermaßen aus der Wissenschaft zurück. Ihre Leistungen wurden zu ihren Lebzeiten weder in Österreich noch in der Schweiz, wo sie dem alpinen Museum in Bern einen kleineren Teil ihrer Sammlung schenkte, wirklich anerkannt. Unverheiratet und kinderlos half sie in weiterer Folge ihrem Bruder Samuel Goldstern der seit 1915 und bis zur Arisierung 1938 die Fango-Heilanstalt in der Wiener Lazarettgasse leitete. Die meisten Familienmitglieder konnten nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aus Österreich flüchten, doch Eugenie Goldstern blieb, gemeinsam mit ihrem Bruder Sima Goldstern, weiterhin in Wien. Am 14. Juni 1942 musste sie am Bahnhof Wien Aspang einen Deportationszug nach Lublin besteigen. Nach der Ankunft wurde sie als „nicht arbeitsfähig“ selektiert und ins Vernichtungslager Sobibor verschleppt, wo sie – wahrscheinlich am 17. Juni – bei Ihrer Ankunft ermordet wurde.

Ihre Sammlung blieb lange Zeit in beiden Museen unbeachtet. 1999 machte Albert Ottenbacher mit seiner Eugenie Goldstern-Biografie zum ersten Mal ein größeres Publikum auf sie aufmerksam und 2005 wurde ihr im Wiener Museum für Volkskunde eine erste Ausstellung gewidmet.

René Samuel Cassin und die Menschenrechte

Europäisches Tagebuch, 20. Februar 2023: Heute vor 47 Jahren starb der Jurist und Völkerrechtler René Cassin.

von Hanno Loewy

1968 wurde René Samuel Cassin für seine Verdienste um die Menschenrechte der Friedensnobelpreis verliehen.
Geboren wurde er am 5. Oktober 1887 in Bayonne. Sein Vater Azarie Henri Cassin entstammte einer sefardischen, portugiesisch-marranischen Familie und war als Weinhändler in Nizza tätig. Seine Mutter Gabrielle Dreyfus stammte hingegen aus einer elsässisch-jüdischen Familie.
Cassin zog als promovierter Jurist in den 1. Weltkrieg und kehrte schon im Oktober 1914 schwer verwundet zurück. Noch während des Krieges gründete er mit anderen Kriegsteilnehmern die „Union fédérale“, den französischen Verband der Kriegsopfer, dem er von 1922 als Präsident vorstehen sollte. 1921 und 1924 organisierte er Konferenzen von Kriegsversehrten und Veteranen, die für Verständigung und Friedensabkommen zwischen den verfeindeten Nationen eintraten. Er tat dies freilich als französischer Patriot, der von einer universellen französischen Mission überzeugt war: „Wir verkörpern seit Jahrhunderten ein Ideal der Freiheit, der Unabhängigkeit, der Menschlichkeit“, deshalb seien die Mitglieder der Union fédérale die „Vertreter der französischen Moral in der Welt“.

Als Professor lehrte er Völkerrecht, ab 1920 in Lille, dann ab 1929 an der Sorbonne in Paris. Vor allem aber war Cassin in unzähligen Nichtregierungsorganisationen und politischen Ämtern aktiv. Von 1924 bis 1938 vertrat er Frankreich beim Völkerbund. 1940 emigrierte er nach London und gründete mit Charles de Gaulle „France Libre“, die französische Exilarmee in den britischen Streitkräften.

Rene Cassin (mitte rechts) im Comité National Français mit Charles de Gaulle, London 1942, Foto: Keystone; © Wikimedia Commons

Von 1941 bis 1943 wurde er Nationalkommissar der Freien Französischen Regierung in London und 1944 gehörte er zu den Initiatoren des Französischen Komitees für die Nationale Befreiung in Algier und bereitete als Präsident deren juristischer Kommission die französische Gesetzgebung nach 1945 vor. 1944 wurde er Vizepräsident des französischen Staatsrates, eine Funktion, der er bis 1960 innehatte. 1946 wurde er außerdem Präsident der französischen Elite-Hochschule École nationale d’Administration.

Von 1946 bis 1958 vertrat er Frankreich bei den Vereinten Nationen und gehörte zu den Begründern der UNESCO. Vor allem aber gehörte er zum engsten Kreis der Verfasser der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen“, zusammen u.a. mit Karim Azkoul, dem libanesischen Diplomaten und Philosophen.
Von 1959 bis 1968 schließlich war er Vizepräsident, dann Präsident des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes.

Eine Palästinareise in den 1930er Jahren, vielleicht auch sein sefardisches Familienerbe, hatte ihn dazu motiviert sich für die Förderung der arabisch-jüdischen Bevölkerung Palästinas einzusetzen. Nach 1945 wurde er neben seinen vielen anderen Ämtern auch Präsident der „Alliance Israelite Universelle“ (die im 19. Jahrhundert die Ideale der französischen Revolution vertrat und europäische Bildung unter orientalischen Juden verbreiten sollte, nicht ohne eine gewisse Portion europäisch-kolonialem Hochmut).

„Hitlers Hauptziel war die Auslöschung der Juden“, schrieb Cassin, „aber ihre Vernichtung war auch Teil einer Attacke auf Alles, wofür die Französische Revolution stand: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschenrechte. Hitlers Rassismus war im Kern ein Versuch, die Prinzipien der Französischen Revolution auszulöschen.“ Das hinderte Cassin zwar nicht, nach der Vernichtung des europäischen Judentums das jüdisch-nationale, zionistische Projekt zu unterstützen. Doch forderte er nach 1945 auch klare Einschränkungen nationaler Souveränität in allen Fragen der Menschenrechte, die vor jeder nationalen Gesetzgebung Vorrang haben müssten und auch mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden müssten.
Sein Eintreten für soziale Rechte weckte in den USA Misstrauen. Ein Beamter des State Department stand nicht an, ihn als „Kryptokommunisten“ zu bezeichnen. Doch neben seinem Engagement für die Menschenrechte und für die Ideale der Gleichheit, blieb Cassin in vielen gesellschaftspolitischen Fragen ein klassisch konservativer Liberaler. So hatte er gegenüber der rechtlichen Gleichstellung von Frauen eine zögerliche Haltung, ja er stimmte im französischen Exilparlament in Algier sogar gegen eine sofortige Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts. Cassin starb am 20. Februar 1976 in Paris.

Muhammad Asads Weg nach Mekka – und zurück

Europäisches Tagebuch, 20. Februar 2023: Heute vor 31 Jahren starb Muhammad Asad in Andalusien, dem Sehnsuchtsort des modernen Islam.

von Hanno Loewy

Für den Europäischen Islam ist Muhammad Asad bis heute eine der wichtigsten Vordenker.
Geboren aber wurde er als Leopold Weiss, am 2. Juli 1900 in Lemberg. Schon bald nach seiner Geburt übersiedelte seine Familie nach Wien. Als Sohn eines Rabbiners erfuhr er eine streng religiöse Erziehung, was ihn jedoch nicht davon abhielt, das Judentum und seine Gesetze zu hinterfragen. Auf der spirituellen Suche nach einer universalistischen Gottheit empfand er das Judentum zunehmend als Stammesreligion, was es ihm immer weiter entfremdete. Ein Ausgangspunkt für seine anhaltende Suche war das „Daodejing“ von Lao-Tse unter dem Titel „Die Bahn und der rechte Weg“, nachgedichtet von Alexander Ular. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren machte er gemeinsam mit seiner späteren Frau, der Künstlerin Elsa Schiemann, eine Palästina-Reise, um seinen Onkel Dorian Feigenbaum zu besuchen. Auf dieser Reise wurde seine Faszination für den Orient und den Islam geweckt, dessen Spiritualität er als Gegenentwurf zum Materialismus der „westlichen Welt“ idealisierte. Weitere Reisen folgten, die er als Korrespondent der Frankfurter Zeitung unternahm.

1926 konvertierte er mit Elsa Schiemann und deren Sohn aus erster Ehe in Berlin zum Islam, änderte seinen Namen in Muhammad Asad und unternahm den Haddsch, die Pilgerreise nach Mekka, auf der ihn ein Unglück traf: seine Frau starb an Malaria. Asad vertiefte sich in Hamburg in Koranstudien und lebte längere Zeit in Saudi-Arabien, wo er 1930 mit Munira seine zweite Ehe einging. Mit Saudi-Arabiens Gründer, König Ibn-Saud, war er freundschaftlich und als Berater verbunden.

In der NS-Zeit wurden alle Angehörigen Muhammad Asads, die in Europa geblieben waren, ermordet, er selbst war in einem britischen Lager in Indien interniert. Der Philosoph Muhammad Iqbal bat ihn schließlich, an der Gründung Pakistans als muslimischem Staat mitzuarbeiten.

Muhammad Asad als stellvertretender Boschafter Pakistans bei den Vereinten Nationen; © islam.in.ua

Asad verfasste einen Vorschlag für die pakistanische Verfassung, den er 1948 veröffentlichte, der aber nicht angenommen wurde. Gleichwohl erhielt er den ersten pakistanischen Pass und wurde stellvertretender Botschafter des neuen Landes bei den Vereinten Nationen in New York. 1952 ließ er sich von seiner saudi-arabischen Frau scheiden und heiratete die amerikanische Konvertitin Pola „Hamida“, eine einstige Katholikin. Als Botschafter Pakistans trat er zurück und lebte später in der Schweiz, in Marokko, Portugal und ab 1987 in Südspanien.

Asad publizierte viel, bekannt ist er aber vor allem für zwei Werke: zum einen für seine bis heute hoch angesehene Koran-Übersetzung ins Englische, The Message of The Qur‘an, zum anderen für seine Autobiografie Der Weg nach Mekka, die ein Bestseller wurde. Enttäuscht von manchen extremistischen und intoleranten Strömungen im Islam starb er 1992 in Mijas in Andalusien, seiner letzten Heimat. Am 14. April 2008 wurde der Platz vor dem Haupteingang der UNO-City in Wien nach ihm Muhammad -Asad-Platz benannt.

„Allah wird schon helfen“. Die Arabistin Hedwig Klein

Europäisches Tagebuch, 12. Februar 2023: Heute vor 112 Jahren wurde die Wissenschaftlerin Hedwig Klein in Antwerpen geboren.

von Hanno Loewy

Hedwig Klein; © Institut für die Geschichte der Deutschen Juden, Hamburg

Ihren Vater, den Kaufmann Abraham Wolf Klein, verlor Hedwig Klein mit nicht einmal fünf Jahren. Er starb als Soldat an der Ostfront für das Deutsche Reich. Da lebte die Familie schon in Hamburg. Bis 1927 dauerte es freilich noch, dass Hedwig, ihre Mutter und ihre Schwester die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten.
1931 schrieb Hedwig Klein sich an der Universität Hamburg zum Studium ein. Ihre Wahl: Islamwissenschaft, Semitistik und englische Philologie.  Im Seminar galt sie als zurückhaltend und bescheiden – und zugleich als kritischer Geist, der sich nicht mit fixen Lehrmeinungen abspeisen ließ, sondern leise und bestimmt Zweifel anmeldete. Bald hatte sie den Spitznamen „Šakkāka“, die gewohnheitsmäßige Zweiflerin.

1937 stellt sie ihre Doktorarbeit fertig: die kritische Edition einer arabischen Handschrift über die islamische Frühgeschichte. Doch Juden sind nun, ab dem Frühjahr 1937 nicht mehr zur Doktorprüfung zugelassen.
Hedwig Klein bleibt hartnäckig, sie überzeugt die Universitätsleitung dazu, eine Ausnahme zuzulassen. Ihre Arbeit wird mit der Bestnote „Ausgezeichnet“ bewertet, ihr Betreuer Arthur Schaade bescheinigen ihr ein „Maß an Fleiß und Scharfsinn, das man manchem älteren Arabisten wünschen würde.“

1938 soll die Arbeit gedruckt werden, auch die Promotionsurkunde ist schon aufgesetzt, doch da wird das Imprimatur zurückgezogen. Das Verbot, Juden zu promovieren, wird nun mit aller Gründlichkeit durchgesetzt.
Hedwig Klein plant ihre Emigration. Doch es gelingt ihr nicht, ein Visum zu erhalten, weder in Frankreich noch in den USA. Mit Hilfe des Hamburger Wirtschaftsgeographen Carl August Rathjens erhält sie schließlich die Einladung eines Arabisch-Professors in Bombay. Und am 19. August sticht ihr Dampfer von Hamburg aus in See. Zwei Tage später schreibt sie Rathjen eine hoffnungsvolle Postkarte. „Allah wird schon helfen…“
Doch in Antwerpen erhält das Schiff den Befehl zurückzukehren und einen deutschen Hafen anzulaufen. Da ist der deutsche Überfall auf Polen schon in Vorbereitung, und damit der nächste Weltkrieg.

Noch einmal hilft ihr Arthur Schaade. Klein wird dem gerade in die NSDAP eingetretenen Arabisten Hans Wehr empfohlen. Die Reichsregierung, so fordert Wehr, solle sich „die Araber“ zu Verbündeten machen, gegen Frankreich und England, und gegen die Juden in Palästina. Und das Auswärtige Amt wiederum sieht in Hans Wehr den richtigen Mann für die Erarbeitung eines deutsch-arabischen Wörterbuches. Denn das braucht es nun dringend, nicht zuletzt für eine gelungene Übersetzung von „Mein Kampf“ ins Arabische.

Ihre Mitarbeit am deutsch-arabischen Wörterbuch bewahrt Hedwig Klein zunächst vor der Deportation nach Riga im Dezember 1941, die Schaade mit einer Intervention gerade noch verhindern kann. Klein sei unersetzbar.
Doch am 11. Juli 1942 ist es soweit. Der erste Deportationszug, der von Hamburg direkt ins Vernichtungslager Auschwitz führt, bringt auch Hedwig Klein zu ihren Mördern. So, wie auch ihre Schwester, ihre Mutter und ihre Großmutter ermordet werden.

1947 setzt Carl August Rathjen durch, dass Hedwig Kleins Dissertation posthum gedruckt wird. Und in „Abwesenheit“ wird Hedwig klein zum Doktor der Philosophie erklärt.
Hans Wehr hingegen wird nach dem Krieg als Mitläufer eingestuft und nutzt Kleins Mitarbeit an seinem Wörterbuch nun dazu sich zu „entlasten“. Das deutsch-arabische Wörterbuch erscheint 1952. Im Vorwort dankt Wehr einem „Fräulein Dr. H. Klein“ für ihre Mitwirkung. Über ihren gewaltsamen Tod verliert er kein Wort. „Der Wehr“ ist bis heute das meistbenutzte deutsch-arabische Wörterbuch, 2011 ist es zuletzt in seiner 5. Ausgabe erschienen. Ohne Stefan Buchens Nachforschungen zu ihrem Leben, wüsste bis heute niemand von Hedwig Klein.[1]

[1] https://de.qantara.de/inhalt/die-jüdin-hedwig-klein-und-mein-kampf-die-arabistin-die-niemand-kennt

 

Louise Weiss: Die Alterspräsidentin

Europäisches Tagebuch, 25. Januar 2023: Heute vor 130 Jahren wurde Louise Weiss geboren.

von Hanno Loewy

Nach ihr ist heute das Hauptgebäude des europäischen Parlamentes in Straßburg benannt. Geboren wurde sie am 25. Januar 1893 in Arras, ihre Eltern – die Mutter jüdisch, der Vater protestantisch – stammten aus dem Elsass. Schon während des ersten Weltkriegs, der zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich nicht zuletzt symbolisch um Elsass-Lothringen gefochten wurde, begann Louise Weiss – als Kriegskrankenschwester arbeitend – unter Pseudonym zu schreiben. Es sollten noch viele Romane, Theaterstücke und politische Schriften folgen, zum Beispiel über die neugegründete Tschechoslowakei, der Weiss in privaten Beziehungen besonders zugetan war.

Louise Weiss nach der Wahl zur Alterspräsidentin des Europäischen Parlaments, 1979; Quelle: Communauté Européenne

1918 schon gründete sie, gerade einmal 25jährig, die Zeitschrift L’Europe Nouvelle, in der sie für französisch-deutsche Verständigung und die Vereinigung Europas warb. Zu den Autoren gehörten Thomas Mann, Aristide Briand, Gustav Stresemann oder Rudolf Breitscheid. 1930 gründete sie die École de la Paix, ein privates Institut für internationale Beziehungen – dessen Träume 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland vorerst ausgeträumt waren. 1934 konzentrierte sich Louise Weiss deshalb auf eine andere gesellschaftliche Auseinandersetzung, den Kampf um das Frauenwahlrecht. Gemeinsam mit Cécile Brunsvig gründete sie die Vereinigung „La femme nouvelle“, ihre Kampagnen sorgten für öffentliches Aufsehen, nicht nur, als sie sich mit anderen Sufragetten in Paris an eine Laterne anketteten, wofür manche österreichische Politiker sie heute vermutlich als “Terroristin” beschimpfen würden. Ihre Klage vor dem französischen Staatsrat, dem Conseil d’Etat blieb erfolglos. Es sollte noch zehn Jahre dauern, bis in Frankreich das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Zu dieser Zeit war Louise Weiss in der Résistance gegen die nationalsozialistischen Besatzer und das französische Vichy Regime aktiv. 1945 begründete sie mit Gaston Bouthoul ein Institut für Kriegs- und Konfliktforschung in London.

Bekannt wurde sie aber vor allem durch Dokumentarfilme und literarische Berichte von ihren Reisen, die sie nach Japan, China, Indien und Vietnam, nach Kenia und Madagaskar, Alaska und in den Nahen Osten unternahm. Ihre Kunst- und ethnografische Sammlung befindet sich heute im Chateau de Rohan im elsässischen Saverne, dem Stadtmuseum.
Eine Aufnahme in die Académie Francaise wurde ihr noch 1975 verweigert. Erst 1980 sollte mit Marguerite Yourcenar die erste Frau in diesen bislang Männern vorbehaltenen elitären Zirkel zugelassen werden.

1979 wurde Louise Weiss bei der ersten Direktwahl des Europaparlaments für die Gaullisten zur französischen Abgeordneten gewählt. Und sie war bis zu ihrem Tod 1983 dessen erste Alterspräsidentin. In den vielen Erinnerungen an die „Gründerväter“ Europas kommt sie trotz der prominenten Benennung des Straßburger Parlamentsgebäudes selten vor. Aber sie war ja auch kein „Vater“.

Moritz Julius Bonn: Zollfeindliche Luft und europäische Demokratie

Europäisches Tagebuch, 25. Januar 2023: Heute vor 58 Jahren starb Moritz Julius Bonn in London.

von Hanno Loewy

Erst in jüngster wird der fast vergessene Gelehrte als Vorbote sozialliberalen Denkens wieder entdeckt – und nicht zuletzt auch als früher Kritiker des Kolonialismus. In wenigen Wochen wird die deutsche Ausgabe seiner Autobiographie Wandering Scholar (So macht man Geschichte? Bilanz eines Lebens) in einer Neuausgabe in der Europäischen Verlagsanstalt in Hamburg erscheinen, herausgegeben von Jens Hacke, der viel zur Neuentdeckung Bonns beigetragen hat.

Moritz Julius Bonn
Quelle: Bundesarchiv

Aufgewachsen in Frankfurt am Main kehrte Moritz Julius Bonn am Ende seines Lebens  und vielen Stationen in Deutschland, Österreich, England und den USA ganz pragmatisch – wenn auch wohl nur auf dem Korrespondenzwege – an jenen Ort zurück, mit dem er intensive Kindheitserinnerungen verband: Hohenems, die Heimat seiner Mutter.

Er war es schließlich, der in den 1950er Jahren einen vorläufigen Schlussstrich unter die Geschichte der Familie Brunner in Hohenems setzte: er organisierte den Verkauf des Brunnerhauses an der ehemaligen Israelitengasse, die 1909 in Brunnerstraße umbenannt worden war – bevor sie 1938 nach einem Nazi-Terroristen benannt wurde, der 1934 den Innsbrucker Polizeipräsidenten ermordet hatte.

Das Brunner-Haus gehörte auch nach 1945 noch immer einer Erbengemeinschaft von Nachkommen des letzten Hohenemser Brunner, Marco, der 1888 gestorben war – Nachkommen, die 1938 aus Wien in die USA geflohen, oder schon vorher emigriert waren, so wie Moritz Julius Bonns Mutter Elise, die 1872 den Frankfurter Bankier Julius Bonn geheiratet hatte.

Moritz Julius Bonn wurde 1873 in Frankfurt am Main geboren. 1876 verbrachte die Familie aus geschäftlichen Gründen in London, doch ein Jahr später starb sein Vater. Moritz Julius verbrachte seine Kindheit in Frankfurt, und die Sommerfrische in Hohenems, wo er das Landleben bei seinem Großvater Marco genoss – und, wie Bonn später schreiben sollte, die „zollfeindliche Luft“ der österreichisch-schweizerischen Grenzregion.

Nach Studien in Heidelberg, München, Wien, Freiburg und London, sowie Forschungsaufenthalten in Irland und Südafrika begann seine erfolgreiche Laufbahn als Nationalökonom. In Italien lernte er die Engländerin Theresa Cubitt kennen, die er 1905 in London heiratete, im gleichen Jahr, in dem er sich über die englische Kolonialherrschaft in Irland habilitierte. Bei Kriegsausbruch 1914 war Bonn unterwegs zu einer Gastprofessur in den USA. Bis 1917 lehrte er dort an verschiedenen Universitäten, bevor er nach dem Kriegseintritt der USA nach Deutschland zurückkehren musste. Als Politikberater nahm er an zahlreichen Nachkriegskonferenzen teil, schrieb über Freihandel und wirtschaftlichen Wiederaufbau, kritische Studien über den Kolonialismus, das Ende der Imperien und über die europäische Demokratie. Mit dem autoritären Staatsrechtler Carl Schmitt, der später zum Vordenker der Nazis werden sollte, stritt er über das Wesen demokratischer Herrschaft. Während Schmitt ethnische Homogenität propagierte, sah Bonn als Demokratie nur in Pluralismus und ethnischer Diversität als überlebensfähig an. Bonn gehörte zu den führenden Wirtschaftsfachleuten der Weimarer Republik, wurde Rektor der Handelshochschule in Berlin und Leiter des von ihm gegründeten Instituts für Finanzwesen.

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 musste Bonn emigrieren, zuerst nach Salzburg, dann nach London, und schließlich in die USA, wo er an diplomatischen Bemühungen teilnahm, die US-Regierung davon zu überzeugen in den Krieg einzutreten um Europa zu retten. Dort schrieb er auch seine Autobiographie Wandering Scholar (die auf deutsch 1953 unter dem Titel So macht man Geschichte erschien). 1946 ließ er sich endgültig in London nieder, wo er 1965 verstarb. Sein letztes Buch war dem Projekt der europäischen Einheit gewidmet: Wither Europe – Union or Partnership? Er machte sich darin keine Illusionen. Es würde noch ein weiter Weg zur den Vereinigten Staaten von Europa sein, und die europäischen Nationalismen seien auch nach der Katastrophe der Weltkriege noch lange nicht überwunden sein.

Sein Denken als sozialliberaler Demokrat blieb zeitlebens von seinem Hohenemser Hintergrund geprägt, dem „Vielvölkerstaat“ der Habsburger und den demokratischen Freiheitsidealen der nahen Schweiz. So schrieb er in seiner Autobiographie:

„Lange bevor ich das österreichische Problem verstand, hatte ich manche seiner Facetten gesehen. Von Vorarlberg her waren mir die Gesichter der slowenischen Hausierer vertraut, die allerlei Drahtwaren in ihren Kiepen trugen und das Land durchwanderten. Adolf Hitler, den ich ein paarmal aus der Nähe betrachten konnte, hatte große Ähnlichkeit mit diesen „Mausefallenhändlern“, wie man sie in Hohenems nannte. Er hatte dieselben hohen Backenknochen, das harte, strähnige Pferdehaar und starre grau-blaue Augen. Er war sicher gleich ihnen und Millionen anderer österreichischer Untertanen ein Mischling. Denn Österreich war ein echter Völkerstaat, in dem trotz aller nationalen Antipathien Mischungen an der Tagesordnung waren. Im Raumland des stärksten Kampfes, in Böhmen, gab es führende Tschechen mit deutschen Namen und Deutschnationale mit tschechischen Vorzeichen. Unser Postmeister in Hohenems war aus Ungarn. Meine Stiefgroßmutter war in Bozen geboren; sie sprach von ihren italienischen Nachbarn immer als den „Welschen“. Meine Vettern in Triest hatten neben ihrem Hauptgeschäft einen kleinen offenen Laden, wo sie Baumwollwaren verkauften. Dort sah ich Kroaten in ihren weißen Schafpelzen, Dalmatier und Bosnier. Jedermann in Triest sprach italienisch, doch schon eine halbe Stunde außerhalb der Stadt befand man sich in einer rein slowenischen Gegend, wo die meisten Leute weder deutsch noch italienisch verstanden. Eine Kusine meiner Mutter war in Brünn verheiratet. Ihr Mann war trotz seines ausgesprochen jüdischen Aussehens ein führender Deutschnationaler, der sich über den drohenden Verlust der Vormachtstellung der deutsch-sprachigen Bezirke Böhmens und Mährens nicht beruhigen konnte. (…) Das Habsburgische Reich war ein Splitterreich, das sich mit nahezu allen europäischen Problemen auseinanderzusetzen hatte. Es war einzig in seiner Art, denn es bestand fast ausschließlich aus mehr oder minder unerlösten Minderheiten. (…)

Mit dem Aufkommen von Demokratie und Maschinenzeitalter hatten die Kräfte, die die alte Monarchie zusammenhielten, die Krone, der Hof, die Kirche, das Beamtentum und vor allem die gemeinsame Armee an Einfluss verloren. Sie hatten aber auch einen starken Verbündeten gewonnen: die Sozialdemokraten. Die österreichischen Sozialisten hatten die Bedeutung eines wirtschaftlich geeinten Reiches im Donauraum begriffen. Sie sahen darin die Nabe Europas; wurde sie herausgerissen, so wurde der Wagen aus der Bahn geschleudert.“[1]

[1] Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte, 1953, S. 67ff.

 

Bruno Kreisky und der Mut des Unvollendeten

Europäisches Tagebuch, 22. Januar 2023: Heute vor 112 Jahren wurde Bruno Kreisky in Wien geboren.

von Hanno Loewy

Bis heute polarisiert in Österreich die Erinnerung an den wohl populärsten Bundeskanzler der Republik, der zugleich alles andere als ein typischer Politiker Österreichs war.
Gerade seine politischen Gegner ließen daran keinen Zweifel aufkommen. 1970 kandidierte ÖVP-Bundeskanzler Josef Klaus mit der Parole „Ein echter Österreicher“. Womit, so das Kalkül, über den Juden und Emigranten Kreisky eh schon alles gesagt wäre. Aber Bruno Kreisky führte die SPÖ zur relativen Mehrheit von 48,5 %. Und nach dem auch unter seinen Freunden höchst umstrittenen Zwischenspiel eines Kabinetts mit Duldung durch die FPÖ erreichte die SPÖ dreimal hintereinander mit Kreisky eine absolute Mehrheit. Lang ist‘s her, möchte man sagen.

Bruno Kreisky, SPÖ-Vorsitzender und Bundeskanzler, im Wahlkampf für die Nationalratswahl 1983. Foto: Votava, wikipedia

Kreisky hatte keine Skrupel auch mit ehemaligen Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten. Und zwar gerade weil er sich nicht sagen lassen wollte, er würde als Jude Politik machen. Kreisky war vor allem eines, ein europäischer Politiker und die eigene Erfahrung von Verfolgung und Exil hatte ihn seinen eigenen österreichischen Patriotismus gelehrt: der darin bestand, kein Nationalist sein zu wollen. Und schon gar kein jüdischer Nationalist.
Das sollte ihn schließlich noch in eine Auseinandersetzung treiben, in der weder sein Gegner noch er selbst irgendwelchen Ruhm ernten konnten. Seine erbitterte Fehde mit dem erzkonservativen Nazi-Jäger Simon Wiesenthal steht bis heute wie ein erratischer Block in der österreichischen Erinnerungslandschaft.
Simon Wiesenthal, dessen gute Beziehungen zur ÖVP kein bisschen vom traditionellen Antisemitismus der Christlichsozialen getrübt war, skandalisierte genüsslich Kreiskys Hemmungslosigkeit, mit „Ehemaligen“, also früheren Nazis zusammenzuarbeiten, ob solchen in der FPÖ oder erst Recht in der SPÖ. Vier der dreizehn Minister von Kreiskys sozialdemokratischem Kabinett 1970 hatten der NSDAP angehört. Und FPÖ-Chef Friedrich Peter, mit dem Kreisky 1975 eine Koalition erwog, war in einer SS-Terroreinheit aktiv gewesen, was Wiesenthal ebenfalls gezielt an die Öffentlichkeit brachte.
Kreiskys darauffolgende, untergriffige Ausfälle gegen Wiesenthal („Nazi-Kollaborateur“) sind tragisch legendär. Österreich konnte dabei zuschauen, wie zwei Juden sich öffentlich an die Gurgel gingen. Aber hinter dem Streit stand keineswegs nur Kreiskys politisches Kalkül, sich bei Teilen der Wählerschaft anzudienen. Dahinter stand – mehr oder weniger unausgesprochen – auch die Auseinandersetzung über jüdische Erfahrungen aus denen Wiesenthal und Kreisky diametral entgegengesetzte Schlüsse gezogen hatten.
Kreisky, am 22. Januar 1911 in Wien geboren, war schon in der Jugend in sozialistischen Organisationen aktiv und seine traumatischen Erfahrungen begannen nicht erst 1938 mit dem Nationalsozialismus, sondern im österreichischen Faschismus des Ständestaats. 1936 wurde der junge Sozialist Kreisky zu Kerkerhaft verurteilt. Er hatte allen Grund, den politischen Nachkommen der Austrofaschisten ebenso zu misstrauen, wie den Nationalsozialisten, die ihn 1938 ins Exil trieben. Kreisky überlebte in Schweden und lernte dort auch den aus Deutschland emigrierten Willy Brandt kennen – der Beginn einer lebenslangen Freundschaft.
Kreisky blieb ein passionierter Europäer, dem Zionismus hingegen konnte er nichts abgewinnen. Für ihn war es keine Frage, am Aufbau eines demokratischen Österreichs nach 1945 mitzuwirken. Seine vier Kanzlerschaften waren geprägt von Reforminitiativen in der Sozialpolitik wie in der Bildungspolitik, genauso wie im Familien- und Strafrecht – und wie bei so vielen Sozialdemokraten von einem Vertrauen in Aufklärung und technischen Fortschritt, ein Vertrauen, das ihn auch blind sein ließ für die neuen Fragen, die mit der Auseinandersetzung um das Atomkraftwerk Zwentendorf auf die Tagesordnung kamen. Fragen nach dem Umgang des Menschen mit seiner Umwelt. Auch die Niederlage bei der Volksabstimmung hinderte ihn jedoch nicht, 1979 zum vierten Mal die Wahlen zu gewinnen.
Während Simon Wiesenthal Israel als Anker seiner eigenen Identität in Österreich verstand, versuchte Kreisky im Nah-Ost Konflikt zu vermitteln. Was ihn in Widersprüche verwickelte. Er pflegte Beziehungen zu arabischen Politikern wie Sadat und Gaddafi, und verhandelte zugleich mit Moskau diskret über die Freilassung jüdischer Sowjetbürger, die nach Israel emigrieren wollten.
Was Kreisky am besten beherrschte, war die Kunst, mit der Öffentlichkeit zu spielen. Seine Pressekonferenzen sind unvergessen. Nicht unbedingt, worum es dabei jeweils ging. Aber der Stil war ein neuer. Statt Verlautbarungen gab es Kommunikation. Und manchmal auch Provokation. Willy Brandt, Weggefährte Kreiskys über fünfzig Jahre, hielt 1990 auf dem Wiener Zentralfriedhof die Grabrede für ihn. „Lebewohl, mein lieber, mein schwieriger Freund.“

 

Rosa Luxemburg: Die Freiheit der Andersdenkenden

Europäisches Tagebuch, 15.1.2023: Heute vor 104 Jahren wurde die Sozialistin Rosa Luxemburg in Berlin von Angehörigen der „Garde-Kavallerie-Schützen-Division“ ermordet. Ihre namentlich bekannten Mörder wurden nie bestraft.

1871 im polnischen, damals zu Russland gehörenden Zamosc geboren, zog sie schon im Alter von zwei Jahren mit ihrer Familie nach Warschau. Ein jähr später wurde ein Hüftleiden der dreijährigen irrtümlich als Tuberkulose diagnostiziert und falsch behandelt. Ihr Leben lang würde sie daran leiden, zu Hinken.
Mit fünf Jahren wurde sie zu fast einem Jahr Bettruhe verurteilt, lernte autodidaktisch Lesen und Schreiben, blieb kleinwüchsig, und begann mit neun Jahren, deutsche Texte ins Polnische zu übersetzen, Gedichte und Novellen zu schreiben. Über Kaiser Wilhelm, der Warschau besuchte, als sie 13 Jahre alt war, schrieb sie ein polnisches Spottgedicht, in dem es hieß: „Sage deinem listigen Lumpen Bismarck / Tue es für Europa, Kaiser des Westens / Befiehl ihm, daß er die Friedenshose nicht zuschanden macht.“

Rosa Luxemburg, um 1883

Rosa wuchs vielsprachig auf, zuhause wurde Polnisch und Deutsch gesprochen, sie sprach Russisch und Französisch, las Englisch, verstand Italienisch, und lernte Latein und Altgriechisch. Schon als 15jährige schloss sie sich revolutionären Kreisen an, einer 1882 gegründeten Gruppe namens „Proletariat“. 1888 flieht sie vor der zaristischen Polizei in die Schweiz.
In Zürich dürfen Frauen gleichberechtigt wie Männer studieren. Der einzige Ort in Europa, wo dies möglich ist. Viele junge, jüdische Frauen aus Osteuropa nutzen diese Chance. Rosa studiert Philosophie, Mathematik, Botanik und Zoologie, dann Völkerrecht und Staatsrecht, Volkswirtschaft, Staatswissenschaft und Geschichte.

Die Botanik ist ihre große Leidenschaft, doch ihr Lebensinhalt wird schließlich doch, angezogen durch einen jungen Revolutionär aus Russland,  der politische Kampf für die Freiheit – für alle. Bald schließt sie sich der Polnischen Sozialistischen Partei an. Doch entgegen der Parteilinie vertritt sie einen entschiedenen Internationalismus, gründet mit ihrem Lebensgefährten Leo Jogiches und anderen Genossen die polnische Exilzeitung Arbeitersache in Paris und wendet sich gegen den polnischen Nationalismus. Sie wird aus der Partei ausgeschlossen und gründet eine neue Solzialdemokratische Partei, die statt für Polens Unabhängigkeit für demokratische Reformen in Russland eintritt. Ein unabhängiges Polen sei eine Fata Morgana, die das polnische Proletariat nur vom Klassenkampf ablenken würden, so wie auch in anderen Ländern. Fortan wird sie als Jüdin Ziel ständiger antisemitischer Attacken, wird als „jüdisches Auswurf“ beschimpft, deren „teuflisches Zerstörungswerk“ die „Ermordung Polens“ zum Ziel habe.
Ihr Kampf gegen den wachsenden Nationalismus auch in der Arbeiterbewegung brachte sie mit vielen führenden Sozialdemokraten, später auch mit Lenin in heftige Konflikte. Als Jüdin und als Frau schlagen ihr immer wieder entwürdigende Untertöne, auch in Äußerungen von Genossen entgegen. Trotzdem wird sie, ab 1897 in Deutschland lebend, zu einer der Wortführerinnen des linken Flügels der SPD.

SPD Parteischule, 1907
Rosa Luxemburg (vierte von links, neben August Bebel)

Den Reformismus lehnt sie ebenso ab wie den autoritären Parteizentralismus Lenins. Immerhin gelingt es ihr, führende westeuropäische Sozialdemokraten zu einer entschiedenen Erklärung gegen den wachsenden Antisemitismus zu bewegen. Auf ihr Judentum möchte sie freilich selbst nicht zurückgeworfen werden.  „Was willst Du mit den speziellen Judenschmerzen? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putumayo, die Neger in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fangball spielen, ebenso nahe.“ Ihr Internationalismus geht über Europa hinaus. „Ich habe keinen Sonderwinkel im Herzen für das Ghetto. Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt.“

Rosa Luxemburg
Foto: Karl Pinkau, Wikimedia

Den kommenden Weltkrieg und all die damit verbundenen Bestialitäten, die Katastrophe Europas, sieht sie mit großer Klarheit voraus. 1913 hält sie in Frankfurt am 25. September im „Titania“ in der Basaltstraße eine mutige Rede gegen den Krieg, die sie ins Gefängnis bringen würde: „Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so erklären wir: ‚Nein, das tun wir nicht!‘“ Weniger als ein Jahr später muss sie ernüchtert feststellen, dass auch in den europäischen Arbeiterparteien der Nationalismus alle Vernunft – und alle Träume vom internationalen Klassenbewusstsein – hinweggeschwemmt hatte. Im August 1914 gründete sie mit anderen Kriegsgegnern in der SPD die „Gruppe Internationale“ aus der später die „Spartakusgruppe“ hervorgehen sollte.

Schon im Februar 1914 wurde Luxemburg aufgrund ihrer Frankfurter Rede wegen „Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze und Anordnungen der Obrigkeit“ zu vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Im Februar 1915 musste sie ihre Haft im Berliner „Weibergefängnis“ antreten. Ihre Briefe aus der Haft gehören zu den bewegendsten Schriften, die sie hinterlassen sollte.

„Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin kein richtiger Mensch, sondern auch irgendein Vogel oder ein anderes Tier in Menschengestalt;” so schreibt sie aus dem Gefängnis an Karl Liebknecht, “innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag (…) Mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den ,Genossen‘.“
Auch ein Herbarium wird sie im Gefängnis anlegen. Ihre Liebe zu den Pflanzen hat sie niemals aufgegeben.

1916 wieder entlassen, wurde sie schon drei Monate später erneut verhaftet. Bis 1918 verbrachte sie schließlich mehr als drei Jahre im Gefängnis. In ihren dort unter dem Pseudonym Junius verfassten Thesen zog sie 1917 eine fatalistische und zugleich trotzige Bilanz: „Der Weltkrieg hat die Resultate der vierzigjährigen Arbeit des europäischen Sozialismus zunichte gemacht.“ Nicht durch eine größere Macht seien die Sozialisten zerstört worden, sie hätten sich selbst „gesprengt“. Die Hauptaufgabe in dieser Situation sei: „das Proletariat aller Länder zu einer lebendigen revolutionären Macht zusammenzufassen, es durch eine starke internationale Organisation mit einheitlicher Auffassung seiner Interessen und Aufgaben, mit einheitlicher Taktik und politischer Aktionsfähigkeit im Frieden wie im Kriege zu dem entscheidenden Faktor des politischen Lebens zu machen, zu dessen Rolle es durch die Geschichte berufen ist“. Und zugleich kritisierte sie die totalitären Tendenzen der russischen Revolution: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenken.“
All das blieb Utopie. Im November 1918 spaltete sich die Arbeiterbewegung und die kurzlebige Räterepublik in Deutschland. Im Bürgerkrieg verbündete sich die Mehrheit der Sozialdemokraten unter Ebert mit Freikorps und kaiserlichen Truppen zur Niederschlagung der schwachen revolutionären Kräfte des Spartakusaufstands.

In diesen Tagen, in denen sich die Ereignisse überschlugen, geriet auch Rosa Luxemburg in scharfen Gegensatz zur Führung der Spartakisten um Karl Liebknecht. Vergeblich warnte sie vor dem aussichtslosen Versuch einer bewaffneten Revolution und forderte, sich demokratischen Wahlen zu stellen. Doch ihre Mahnungen gingen unter. Die letzten Wochen ihres Lebens müssen von Ohnmacht und verzweifeltem Willen geprägt gewesen sein, gegen ihre eigenen Überzeugungen öffentlich in der Zeitung Die rote Fahne an der Revolution festzuhalten – während in den Straßen Berlins zum Mord an ihr und Liebknecht aufgerufen wurde.
Am 15. Januar 1919 wurde sie, am gleichen Tag wie Karl Liebknecht, in Berlin von Soldaten der „Garde-Kavallerie-Schützen-Division“ verhaftet und auf bestialische Weise ermordet. In einem Berliner Nobelhotel, in dem die Miliz ihr Quartier aufgeschlagen hatte, wurde sie gequält, dann zu einem Auto geschleppt. Mit einem Gewehrkolben versuchten ihre Mörder ihr den Kopf einzuschlagen, fuhren die in zwischen ohnmächtige zum Landwehrkanal, schossen ihr unterwegs in den Kopf, umwickelten ihre Leiche mit Stacheldraht und warfen sie ins Wasser. Ende Mai wurden ihre Überreste an einer Schleuse gefunden. Zu ihrer Beerdigung am 13. Juni 1919 kamen Tausende.

Die Beisetzung von Rosa Luxemburg am 13. Juni 1919
Bundesarchiv, Koblenz

Der Heidelberger Sozialdemokrat Julius Gumbel erforschte später die politischen Morde in Deutschland. Er kam auf folgende Zahlen: Von 1918 bis 1922 ermordeten Linke 22 Menschen. Es kam zu 38 Verurteilungen. Die Rechte verübte im selben Zeitraum 354 Morde. Es kam zu 24 Verurteilungen. In 23 Fällen sprachen die Gerichte selbst geständige Täter, die sich offen ihrer Taten brüsteten, frei.
1935 schändeten die Nazis ihr Grab und ließen auch ihre sterblichen Überreste verschwinden.

 

Siehe auch:
„Rosa Luxemburg. Herbarium“, Evelin Wittich (Hrsg.), Karl Dietz Verlag, Berlin 2019.

Die Heimatlosen: Ursula Hirschmann und die Geburt des Europäischen Föderalismus

Europäisches Tagebuch, 8.1.2023:

Heute vor 32 Jahren starb Ursula Hirschmann

von Hanno Loewy

Ursula Hirschmann

Geboren wurde Ursula Hirschmann am 2. September 1913 in Berlin in eine bürgerliche jüdische Familie. Wie ihr Bruder Albert Otto Hirschmann begann sie dort ihr Studium der Volkswirtschaftlslehre – und trat 1932 der Jugendorganisation der SPD bei, deren Politik ihr bald nicht entschieden genug im Kampf gegen den Nationalsozialismus war. So suchte sie die Nähe zu kommunistischen Mitstreitern.

1933 mussten Ursula Hirschmann und ihr Bruder nach Paris emigrieren, wo sie mit der Gruppe „Neu Beginnen“ in Berührung kam.

Studienausweis von Ursula Hirschmann, www.risorgimentofirenze.it

Vor allem aber traf sie den jungen italienischen Philosophen und Sozialisten Eugenio Colorni wieder, dem sie schon 1931 in Berlin begegnet war. Gemeinsam zogen sie nach Triest, wo Colorni seit 1934 einen Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik innehatte. Auch Colorni entstammte einer jüdischen Familie, hatte sich in seiner Jugend gar für den Zionismus interessiert – doch für beide wurde nicht ihr Judentum und auch nicht der Kommunismus, sondern die Einheit Europas zum Lebensthema, auch wenn Colorni nicht einmal die Geburt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957 erleben durfte.

1935 heirateten Hirschmann und Colorni in Triest und schlossen sich dem antifaschistischen Widerstand an. Colorni gehörte bald zum inneren Zirkel der Sozialistischen Partei und veröffentlichte unter Pseudonym Beiträge zur Sozialpolitik. Doch im September 1938 wurde Colorni verhaftet und nach Haft in verschiedenen Gefängnissen 1939 auf die Gefangenen-Insel Ventotene verbannt, wohin Ursula Hirschmann ihm folgen durfte. Sie trafen dort auf Altiero Spinelli und Ernesto Rossi, die sich ebenfalls mit Ideen der Europäischen Einigung auseinandersetzten. Gemeinsam entstand das Ventotene-Manifest „für ein freies und vereintes Europa“‚ das heute als eines der bedeutendsten Dokumente auf dem langen Weg zum Europäischen Föderalismus gilt. Darin heißt es unter anderem:

„Es gilt, einen Bundesstaat zu schaffen, der auf festen Füßen steht und anstelle nationaler Heere über eine europäische Streitmacht verfügt. Es gilt endgültig mit den wirtschaftlichen Autarkien, die das Rückgrat der totalitären Regime bilden, aufzuräumen. Es braucht eine ausreichende Anzahl an Organen und Mitteln, um in den einzelnen Bundesstaaten die Beschlüsse, die zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung dienen, durchzuführen. Gleichzeitig soll den Staaten jene Autonomie belassen werden, die eine plastische Gliederung und die Entwicklung eines politischen Lebens, gemäß den besonderen Eigenschaften der verschiedenen Völker, gestattet.“

Manifesto Movimento Federalista Europeo, 1943
Altiero Spinelli Institute for Federalist Studies

Auch Altiero Spinelli hatte sich vom autoritären Kommunismus abgewandt und vertrat nun eine radikale Vision Europäischer Einheit, die sowohl eine soziale Integration, als auch eine wirkliche europäische Demokratie bedeuten sollte, auf der Basis von Gleichheit und Recht. Auch gegenüber der sich in den 1950er Jahren vor allem über Wirtschaftsinteressen formierenden Europäischen Gemeinschaft hielt er an dieser Vision fest. Von 1976 bis zu seinem Tod 1986 sollte Spinelli als Abgeordneter im Europäischen Parlament für eine Europäische Verfassung und die Aufwertung des EU-Parlaments zur tatsächlichen Vertretung eines europäischen Souveräns kämpfen. Zuvor hatte er schon als italienisches Mitglied der Europäischen Kommission (1970-1976) die Einrichtung des Europäischen Rates als Bühne der nationalen Interessen als Rückschritt und Schwächung des Integrationsprozesses kritisiert.
Mit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments sah Spinelli den Moment gekommen, konkrete Schritte zur Erarbeitung einer Europäischen Verfassung zu unternehmen.

Alberto Spinelli, 1984
© European Union – EP

Und tatsächlich nahm am 14. Februar 1984 das EU-Parlament Spinellis Entwurf für eine Europäische Verfassung  an, der dem europäischen Parlament  legislative Kompetenzen zuwies, die weit über das hinausgingen, was bis jetzt Realität geworden ist. Doch die Initiative wurde von den nationalen Regierungen im Keim erstickt. Keines der nationalen Parlamente leitete das im Entwurf vorgesehen Zustimmungsverfahren ein. Spinelli, 1984 noch einmal ins EU-Parlament gewählt, starb am 23. Mai 1986 resigniert in Rom.

Was noch heute ein unerfüllter Traum ist, schien im Zeichen des Weltkriegs und der Vernichtung des alten Europas eine reale, ja die einzige Hoffnung. Und bis heute ist der Geist des Ventotene-Manifest eine Flaschenpost, die auf dem europäischen Meer treibt.
Damals gelang es immerhin, den Text aufs Festland zu bringen. Ursula Hirschmann schmuggelte das auf Zigarettenpapierchen festgehaltene Manifest in einem gebratenen Hühnchen von der Insel Ventotene an Land und bearbeitete den Text redaktionell. Gemeinsam mit Ernesto Rossis Frau Ada und Spinellis Schwestern Fiorella und Gigliola gelang es Ursula Hirschmann auch, das Manifest 1941 unter den Widerstandsgruppen und auf Flugblättern in Rom und Mailand zu verbreiten. 1942 erreichte das Manifest die Schweiz und Frankreich und 1943 zirkulierte eine deutsche Übersetzung von Ursula Hirschmann im Deutschen Reich. Hirschmann war darüberhinaus auch an der Herausgabe der Untergrundzeitschrift L‘Unita Europea beteiligt, die 1943 zum ersten Mal erschien.

L’Unita Europea

Im Mai 1943 floh Colorni, mittlerweile seit 1941 im süditalienischen Melfi interniert, nach Rom, wo er im Versteck als Flüchtling lebte. Und es gelang ihm auch, im August am geheimen Gründungstreffen des Movimento Federalista Europeo in Mailand teilzunehmen, das Alberto Spinelli organisiert hatte. Doch im Mai 1944, wenige Tage vor der Befreiung durch die Alliierten, wurde Colorni in Rom von einer Patrouille angehalten und erschossen. Auch Leone Ginzburg und Guglielmo Jervis, die zu den Gründern des MFE zählten, kamen in diesen Monaten des bewaffneten Kampfes in Italien ums Leben.

Zu diesem Zeitpunkt hatten Hirschmann und Colorni sich schon getrennt. Gemeinsam mit Alberto Spinelli war Ursula Hirschmann in die Schweiz aufgebrochen, um von Genf aus, die Aktivitäten der Föderalistischen Bewegung neu zu organisieren. Und schließlich heirateten beide.
Im März 1945 waren Spinelli und Hirschmann auch gemeinsam in Paris an der Organisation der Konferenz für eine Europäische Föderation beteiligt, an der auch George Orwell, Albert Camus, Louis Mumford und viel andere prominente Intellektuelle teilnahmen – und sich bald angesichts der Spaltung Europas in Ost und West und dem beginnenden kalten Krieg resigniert von diesem Projekt abwandten.
Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft sollte in den kommenden Jahren zunächst ein Wirtschaftsprojekt werden.

Ursula Hirschmann und Eugenio Colorni mit ihrer Tochter Silvia, auf Ventotene

Neben alledem brachte Ursula Hirschmann sechs Töchter zur Welt, drei von Eugenio Colorni (Silvia, Renata und Eva) und drei von Altiero Spinelli (Diana, Barbara, Sara). Eva Colorni würde später einmal den indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen heiraten.

Hirschmann und Spinelli blieben ihr Leben lang ihrem europäischen Aktivismus treu. Spinelli als EU-Politiker – und Ursula Hirschmann als Vorkämpferin einer europäischen Frauenbewegung. Hirschmanns Bruder Albert, der während des Kriegs mit Varian Fry die Flüchtlingsroute über die Pyrenäen organisiert hatte, wurde hingegen in den USA zu einem der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler.
In ihrem Briefwechsel mit Natalia Ginzburg in den 1970er Jahren reflektierte Ursula Hirschmann ihre eigene Identität und Heimatlosigkeit mit radikaler Ehrlichkeit und schonungsloser Kritik am neuen Nationalismus, der schon damals überall blühte: „selbst in Israel wird er die vergifteten Früchte tragen“, schreibt sie an Ginzburg im Oktober 1972, „die er überall hervorgebracht hat: auffällige Erfolge, weniger auffällige, aber tiefe Wunden, ein Geist der Rache, der Vergeltung und so weiter bis zu neuen Völkermorden.”

1975 gründet sie in Brüssel die Femmes pour l’Europe, die sich auf konkrete Themen konzentrieren wollten, von der Förderung des Zugangs zur Ausbildung und der Verteidigung der Lohngleichheit bis hin zum Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Immigrantinnen und Frauen in Entwicklungsländern. Doch noch im selben Jahr erleidet sie eine Hirnblutung von der sie sich nie ganz erholen wird.

Am 8. Januar 1991 stirbt Ursula Hirschmann in Rom. Ihre Autobiographie Noi senza Patria (Wir Heimatlosen) erscheint zwei Jahre später. Darin zog sie das Resumee ihrer europäischen Existenz.
„Ich bin keine Italienerin, auch wenn ich italienische Kinder habe, ich bin keine Deutsche, auch wenn Deutschland einst meine Heimat gewesen ist. Ich bin nicht einmal Jüdin, auch wenn es reiner Zufall war, dass ich nicht gefangen genommen und in einem dieser Öfen in einem der Vernichtungslager verbrannt wurde. Wir „déraciné”, die „Entwurzelten“ Europas, die wir öfter die Grenze als unsere Schuhe wechselten, wie Brecht schreibt, dieses Königreich der Entwurzelten, auch wir haben nichts anderes mehr zu verlieren, als unsere Ketten in einem Vereinigten Europa, deswegen sind wir Föderalisten.“

Quellen:
Silvana Boccanfuso, Ursula Hirschmann – Una donna per l’Europa, 2019;
https://europeanmemories.net/stories/ventotene-80/ (8.1.2023);
https://www.thefederalist.eu/site/index.php/en/essays/2505-the-ventotene-manifesto-and-the-birth-of-the-movimento-federalista-europeo-within-the-italian-resistance (8.1.2023)

 

Benno Wolf: Von der Höhlenforschung zum Naturschutz

Europäisches Tagebuch, 6.1.2023: Heute vor 80 Jahren stirbt Benno Wolf im KZ Theresienstadt.

von Friedhardt Knolle

1945 endete in Europa ein Unrechtsstaat, der – neben all seinen Menschheitsverbrechen – auch den Einsatz für den Naturschutz auf katastrophale Weise zurückwarf. Mit der Gleichschaltung aller Vereinigungen war ein Klima der Denunzierung und Unterdrückung geschaffen worden, das schon lange vor dem Krieg die freie Forschung mehr oder weniger zum Erliegen brachte. Naturschützer und Forscher, die sich widersetzten oder nicht genehm waren, wurden ausgegrenzt und verfolgt. Dies traf auch einen der Pioniere des Naturschutzes in Deutschland: den Juristen und Höhlenforscher Dr. Benno Wolf.

Benno Wolf
Foto: Franz Mühlhofer, Archiv VdHK

Wolf wurde 1871 in Dresden geboren. Er hatte jüdische Vorfahren, war aber evangelisch getauft. Wolf studierte Jura und kam nach Referendarszeiten im Rheinland und Hessen im Jahre 1912 nach Berlin-Charlottenburg, wo er seitdem als Richter am dortigen Landgericht tätig war. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dort dem Naturschutz, denn seine Berufung auf eine der begehrten Stellen in der Reichshauptstadt war auch erfolgt, weil er sich bereit erklärt hatte, neben seiner richterlichen Tätigkeit ehrenamtlich als juristischer Berater bei der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege zu arbeiten. Als am 7. Dezember 1912 in Berlin die fünfte Konferenz für Naturdenkmalpflege in Preußen stattfand, hob Prof. Dr. Hugo Conwentz, seines Zeichens Geheimer Regierungsrat, in seiner Eröffnungsrede dieses Engagement besonders hervor. Schließlich trug das erste preußische Naturschutzgesetz von 1920 in weiten Teilen die Handschrift von Benno Wolf. Auf dessen Grundlage ergingen im Gefolge besondere Verordnungen zum Tier- und Pflanzenschutz und zur Schaffung von Naturschutzgebieten. 1933 kam Benno Wolf seiner drohenden Entlassung durch die neuen Machthaber mit einem freiwilligen Abschiedsgesuch zuvor.

Bereits seit 1898 hatte sich Benno Wolf selbst auch intensiv mit der Höhlenforschung beschäftigt und war rasch dafür bekannt geworden. Er vollbrachte nicht nur für seine Zeit befahrungstechnische Höchstleistungen, z.B. in slowenischen Schachthöhlen, sondern entwickelte sich aufgrund seiner vielen Kontakte zum Nestor der deutschen Höhlenforschung: Wolf vermittelte Experten aus dem In- und Ausland für höhlenkundliche Projekte, beschaffte Geld für Forschungsvorhaben, publizierte einen weltweiten Höhlentierkatalog, redigierte die Hauptverbandszeitschrift bis 1937 und war Nestor sowie langjähriges Vorstandsmitglied des Hauptverbandes Deutscher Höhlenforscher. Um den Verband politisch nicht zu sehr zu exponieren, legte Wolf seine Funktionen jedoch rechtzeitig in andere Hände.

Vor allem besaß Wolf aber eine wertvolle und umfangreiche private höhlenkundliche Bibliothek, die ihm als Grundlage für die Arbeit an einem Welthöhlenverzeichnis diente – einem heute kaum mehr vorstellbaren Projekt. Mit der Untertageverlagerung von Teilen der NS-Rüstungsproduktion weckte dieses Material auch die Begehrlichkeiten der Nazi-Schergen. So schrieben seine Gegner damals, dass man „diesen Wolf endlich von der Bildfläche verschwinden lassen sollte, um seiner Unterlagen habhaft zu werden“.

So wurde Benno Wolf im Juli 1942 als 71jähriger im Berlin von der Gestapo verhaftet und nach Theresienstadt deportiert, wo er infolge der unmenschlichen Haftbedingungen im Januar 1943 starb.

Im Gedenken an den Nestor der deutschen Höhlenforschung und ersten deutschen Höhlenforscher von internationalem Format vergibt der Verband der deutschen Höhlen- und Karstforscher seit 1996 den ideellen Dr.-Benno-Wolf-Preis. Mit diesem werden nicht nur besondere Leistungen im Höhlenschutz und in der Höhlenforschung gewürdigt, sondern es soll auch ein Zeichen gegen Intoleranz und Unfreiheit in der wissenschaftlichen Forschung gesetzt werden.

 

“Die letzten Europäer” im Jüdischen Museum München

Europäisches Tagebuch, 22.11.2022: Heute eröffnete die Ausstellung “Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee” im Jüdischen Museum München.

Bis zum 21. Mai 2023 wird hier eine erweiterte Fassung der Hohenemser Ausstellung gezeigt, mit zusätzlichen Themenstationen, Medieninszenierungen und einer großen Installation des Künstlers Arnold Dreyblatt, die extra für die Münchner Ausstellung entstanden ist.

Zur Eröffnung sprachen Katrin Habenschaden, Bürgermeisterin der Landeshauptstadt München, Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, Felicitas Heimann-Jelinek und Michaela Feurstein-Prasser, Kuratorinnen der Ausstellung, und Bernhard Purin, Direktor des Jüdischen Museums München.

Photo: Daniel Schvarcz

Felicitas Heimann-Jelinek und Michaela Feurstein-Prasser,
Photo: Daniel Schvarcz

Photo: Daniel Schvarcz

Photo: Eva Jünger

Arnold Dreyblatt, Photo: Daniel Schvarcz

Foto: Daniel Schvarcz

Photo: Daniel Schvarcz

Die letzten Europäer, Photo: Daniel Schvarcz

Photo: Daniel Schvarcz

Photo: Daniel Schvarcz

Photo: Eva Jünger

Photo: Daniel Schvarcz

Paul Grüninger und die Flüchtlingspolitik

Europäisches Tagebuch, 22.02.2022: Heute vor 50 Jahren starb Paul Grüninger, der Schweizer Polizeihauptmann, dem viele hundert jüdische Flüchtlinge 1938-39 ihr Leben verdankten.

Paul Grüninger

Grüninger gehörte zu den wenigen Schweizer Beamten, die sich der offiziellen Politik der Schweiz, die die Abwehr der Flüchtlinge an allen Grenzen betrieb, offen widersetzten. Und dies auch in jenen folgenreichen Augusttagen des Jahres 1938, als die Schweizer Flüchtlingspolitik ihren Niederschlag selbst in den Maßnahmen des Deutschen Reiches finden sollte.

Am 17. August 1938 lädt Heinrich Rothmund, Chef der Fremdenpolizei im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement die kantonalen Polizeidirektoren nach Bern ins Zimmer 86 des Parlamentsgebäudes. Die außerordentliche Konferenz soll die Lage an der Grenze beraten und den Umgang mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen, die aus dem Deutschen Reich versuchen in die Schweiz zu gelangen. Einer der Teilnehmer ist der Hauptmann der Kantonspolizei von St. Gallen, Paul Grüninger.

Rothmund eröffnet die Konferenz mit einem Lagebericht, der die Situation dramatisch erscheinen lässt. Weit mehr als 1000 illegale Flüchtlinge befänden sich in der Schweiz. Und das Deutsche Reich würde nun auch an alle Österreicherinnen und Österreicher deutsche Pässe verteilen. Man müsse über eine Ausdehnung der für Österreicher geltenden Visumpflicht für alle Deutsche nachdenken. Der Züricher Polizeidirektor Robert Briner, seines Zeichens auch Präsident der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe, liefert das von Rothmund erwartete Stichwort:

„Können wir unsere Grenzen nicht besser verschließen? Die Entfernung der Flüchtlinge ist schwieriger als ihre Fernhaltung.“

Der St. Galler Regierungsrat Valentin Keel spricht von der „Kulturschande der Judenverfolgung“ in Deutschland, eine Bemerkung, die ins Protokoll nicht aufgenommen wird. Der Thurgauer Polizeichef Ernst Haudenschild weiß darauf folgende Antwort:

„Die grösste Strafe für die deutschen Behörden ist die Zurückschiebung aller Flüchtlinge. Heute beschäftigen uns die Juden, in einigen Monaten wohl andere Flüchtlinge aus Deutschland. Unsere kantonale Regierung hat uns strikte Weisung erteilt, alle Flüchtlinge abzuweisen. Wir haben keine politischen und keine jüdischen Flüchtlinge in unserem Kanton. Man mag in Bern befehlen und beschliessen, was man will, unser Kanton wird keine Flüchtlinge zulassen.“

Der einzige, der in dieser Schweizer Flüchtlingskonferenz offenen Widerspruch wagt, ist Paul Grüninger:

„Die Ausführungen des Vorredner überraschen. Die Rückweisung der Flüchtlinge geht schon aus Erwägungen der Menschlichkeit nicht. Wir müssen viele hereinlassen. Wir haben ein Interesse daran, diese Leute möglichst zusammen zu erhalten, damit die Kontrolle erfolgen kann und ebenfalls aus hygienischen Gründen. Wenn wir die Leute abweisen, kommen sie eben ‚schwarz‘ und unkontrollierbar. Vollkommene Abschließung der Grenze ist nicht möglich.“[1]

Vorsichtige Unterstützung für Grüninger kommt vor allem vom Vertreter Graubündens, Departementssekretär Dr. Bühler. Auch die sozialdemokratischen Vertreter aus Basel und Schaffhausen, Polizeidirektor Brechbühl und Regierungsrat Bührer, sprechen sich – vorläufig – gegen rücksichtslose Abschiebungen und Zurückweisungen aus. Die übrigen fordern, ganz im Sinne Rothmunds, die sofortige Schließung der Grenzen.

In der folgenden Pressemitteilung ist von den abweichenden Meinungen nicht mehr die Rede. Einmütig habe man die Grenzschließung gegenüber Flüchtlingen beschlossen. Zwei Tage später wird den Polizeidirektoren mitgeteilt,

„dass eine weitere Zureise von illegalen Flüchtlingen nicht geduldet werden könne. (…) Da die Ostgrenze namentlich bei Diepoldsau schwer zu schützen ist, wurde die dortige Grenzkontrolle aus den Beständen der freiwilligen Grenzschutzkompagnien verstärkt.“[2]

Paul Grüninger, der sich in der Konferenz offen gegen die Grenzschließung ausgesprochen hat, ist zu diesem Zeitpunkt schon seit Wochen mit den Anordnungen aus Bern im Konflikt.

1891 in St. Gallen geboren, hatte Grüninger zunächst eine Laufbahn als Primarlehrer eingeschlagen. Und als leidenschaftlicher Fußballer hatte er mit seinem Team, dem St. Galler Club FC Brühl, 1915 als Linksaußenstürmer die Schweizer Meisterschaft gewonnen. 1919 wechselt Grüninger in den Polizeidienst, wo er 1925 zum Kommandanten der St. Galler Kantonspolizei aufsteigt. Und Präsident seines Fußballvereins wird.

Alice und Paul Grüninger bei ihrer Hochzeit, 1921

1938 ist Grüninger mit der Not der Flüchtlinge konfrontiert. Zunächst reagiert er unentschieden, dann gehorcht er immer stärker seinem Mitgefühl. Immer wieder kommen Flüchtlinge, denen es gelungen ist illegal über die Grenze zu gelangen, in sein Büro in St. Gallen und bitten um eine Aufenthaltsgenehmigung, immer öfter wird er selbst an die Grenze gerufen um an Ort und Stelle zu entscheiden. Und meistens entscheidet er zugunsten der Flüchtlinge. Die Israelitische Flüchtlingshilfe unter Sidney Dreyfus richtet in St. Gallen ein eigenes Büro ein. Anfang August reichen die Flüchtlingsquartiere in Privatunterkünften und Pensionen nicht mehr aus. In Diepoldsau richtet Grüninger in einem leerstehenden Stickereilokal ein Flüchtlingslager ein. Die Kosten dafür muss die Israelitische Flüchtlingshilfe tragen, wie auch sonst für die Versorgung der Flüchtlinge. Schließlich beginnt Grüninger auch damit, Wertgegenstände für die Flüchtlinge über die Grenze zu schmuggeln.
Als mit der Grenzschließung am 18. August die Anweisung kommt, niemand mehr aufzunehmen, bleibt Grüninger und Dreyfus nur noch die Wahl, die Ankunft jener Menschen zurückzudatieren, denen der Grenzübertritt danach noch gelingt. Es sind diese lebensrettenden „Amtspflichtverletzungen“ und „Urkundenfälschungen“, für die Paul Grüninger bald darauf entlassen und vor Gericht gestellt werden wird.

Vertreter der Schweiz verhandeln hingegen mit den Deutschen über die von Rothmund geforderte Visumpflicht. Die deutsche Seite schlägt eine Kennzeichnung der Pässe von Juden vor und fordert auch von der Schweiz, das gleiche zu tun.

Eine generelle Kennzeichnung von jüdischen Schweizer Bürgern kommt für Rothmund nicht in Frage. Was die Flüchtlinge angeht, so ist Ihm ist freilich eine andere Lösung lieber, nicht so anstößig in den Augen der Weltöffentlichkeit, aber genauso effektiv: eigene Kontrollen, wer jüdisch ist und wer nicht. Vier Wochen nach der Konferenz berichtet er am 15. September 1938 dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement:

„Es ist uns bis heute gelungen, durch systematische und vorsichtige Arbeit die Verjudung der Schweiz zu verhindern. (…) Haben wir das Visum, so ist Deutschland vollkommen frei, den Emigranten Papiere zu geben, wie es will, und braucht sie auch nicht als solche zu bezeichnen. Wir würden sie herausfinden unter denen, die nicht in der Lage wären, einen Arierausweis, ein Mitgliedbuch der Partei, der deutschen Arbeitsfront (…) usw. vorzulegen. (…) An der Grenze hätten wir eine saubere Ordnung.“[3]

Erinnerung an Paul Grüninger in der Ausstellung “Die letzten Europäer”

Die deutsche Seite will freilich eine generelle Visumpflicht für alle Reichsbürger nicht hinnehmen. So einigt man sich schließlich auf den J-Stempel in den Pässen deutscher Juden. Die Stigmatisierung wird amtlich. Im Januar schreibt Rothmund befriedigt an den Schweizer Gesandten in Den Haag, Arthur-Edouard de Pury:

„Wir haben nicht seit zwanzig Jahren mit dem Mittel der Fremdenpolizei gegen die Zunahme der Überfremdung und ganz besonders gegen die Verjudung der Schweiz gekämpft, um uns heute die Emigranten aufzwingen zu lassen.“[4]

Anfang 1939 wächst der Druck auf Grüninger, wie auch auf Regierungsrat Keel, der um seine Wiederwahl fürchten muss. Rothmund verlangt eine Untersuchung der ihm zugetragenen „Unregelmäßigkeiten“ im Kanton St. Gallen. Und der Vaterländische Verband droht damit, den „Skandal“ illegaler Einreisen öffentlich zu machen. Am 3. April 1939 wird Grüninger suspendiert, schließlich unehrenhaft unter Entziehung seiner Pensionsansprüche entlassen. 1940 folgt seine Verurteilung zu einer Geldstrafe. In der Folge mehren sich die Versuche Grüninger auch moralisch zu denunzieren. Haltlose Unterstellungen machen die Runde. Ihm wird vorgeworfen, sich persönlich bereichert zu haben. Ja Sympathien für die Nationalsozialisten werden ihm nun nachgesagt. Die Schweizer Polizei lässt ihn beschatten. Doch nichts bleibt von diesen Denunziationen übrig, als manche Gerüchte, die noch viele Jahre nach seinem Tod absurden Widerhall in rechtsgerichteten Schweizer Medien finden.

Grüninger ist 1940 nicht nur entehrt, sondern auch mittellos. Die Jüdische Gemeinde traut sich nicht, ihn offen zu unterstützen. Die Flüchtlingshilfe insgesamt ist bedroht. Der Textilindustrielle Elias Sternbuch, Schwager von Recha Sternbuch, gibt ihm schließlich eine Stelle als Regenmantelverkäufer in Basel. (Seine Reisen nach Basel erregen den Argwohn der ihn beschattenden Detektive. Niemand kommt auf den naheliegenden Gedanken, dass er dort für jüdische Freunde tätig ist.)

Doch als Geschäftsmann taugt Grüninger nicht. Nach vergeblichen Versuchen als Handelsvertreter wird er in den 1950er Jahren wieder Primarlehrer in Au im Rheintal, aushilfsweise, bis zu seiner Pensionierung als verarmter und verfemter Privatier. Erst am Ende der 1960er Jahre beginnt man sich wieder ein wenig für ihn und seine Rolle als Retter zu interessieren.

Paul Grüninger um 1970

Doch die Versuche, sein Wirken anzuerkennen, bleiben unbeholfen, ja peinlich. 1970 bedankt sich die Regierung des Kanton St. Gallen bei ihm – konsequenzenlos – fürs eine „menschliche Haltung“. Der Vorstand der Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds tut sich besonders schwer, hin und hergerissen zwischen einem schlechten Gewissen und den immer noch kursierenden Denunziationen. Im September 1971 erhält Grüninger eine Anerkennung von Yad Vashem als «Gerechter unter den Völkern». Schon im Mai ist erste Fernsehdokumentation auf Schweizer Bildschirmen zu sehen: „Hauptmann Grüninger“. Grüninger wird interviewt und erklärt lakonisch, er würde das, was er getan hat, jederzeit wieder tun. Im Vorfeld schon droht der St. Galler Regierungsrat dem Schweizer Fernsehen, „sollte die St. Gallische Regierung in diesem Film angegriffen werden, müssen wir uns vorbehalten, aus der bisher mit Rücksicht auf Herrn Grüninger geübten Reserve herauszutreten.“

Am 22. Februar1972 stirbt Paul Grüninger in St. Gallen. Zwei Monate noch vor seinem Tod hat er auch aus Deutschland „Anerkennung“ erfahren. Bundespräsident Gustav Heinemann schenkt ihm einen Farbfernseher. Grüninger wird auf dem Ortsfriedhof von Au im Rheintal beigesetzt. Es wächst Gras über die Geschichte.

Das inzwischen neu gestaltete Grab von Paul Grüninger in Au, Kanton St. Gallen

Erst 1993 macht ein Buch von Stefan Keller, Grüningers Fall, wieder eine breite Öffentlichkeit auf seine Geschichte aufmerksam. Im gleichen Jahr wird Paul Grüninger nun endlich politisch rehabilitiert und bald darauf auch das Urteil gegen ihn aufgehoben. In Wien wird eine Schule nach ihm benannt, auch einige Straßen und Plätze, in St. Gallen, Hohenems oder Jerusalem. 1998 wird seine Familie entschädigt. Ruth Roduner, seine Tochter, gründet mit dem Geld die Paul Grüninger Stiftung, die seitdem Engagement für die Menschenrechte unterstützt.

2012 wird schließlich auch die Grenzbrücke über den Alten Rhein zwischen Hohenems und Diepoldsau nach ihm benannt. Zugegen war neben Robert Kreutner, der 1938 mit seiner Familie über die Grenze bei Hohenems geflohen war, auch Ruth Roduner-Grüninger, Paul Grüningers Tochter. Auch sie ist vor wenigen Wochen, am 29.12.2021 verstorben, in ihrem 101. Lebensjahr. [5]

Einweihung der Paul Grüninger Brücke, 2012, mit Ruth Roduner-Grüninger und Robert Kreutner

[1] BAR E 4260 (C) 1969/146 Band 6: Konferenzen der kantonalen Polizeidirektoren, Protokoll der Sitzung vom 17. Aug. 1938 in Bern. (zit. nach Jörg Krummenacher, Flüchtiges Glück. Zürich 2005, S. 117f.)

[2] Zitiert nach Stefan Keller, Grüningers Fall. Zürich 1993, S. 50.

[3] Bericht des Chefs der Polizeiabteilung vom 15. September 1938 an das EJPD, zitiert nach: Carl Ludwig, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart, Bern 1966/1957, S. 112

[4] Le Chef de la Division de Police du Département de Justice et Police, H. Rothmund, au Ministre de Suisse à La Haye, A. de Pury, 27. Januar 1939, Diplomatische Dokumente der Schweiz 1848-1945, Vol. 13 (1939-1940), Bern 1991, S. 22.

[5] Zu Paul Grüningers Geschichte siehe Stefan Keller, Grüningers Fall. Zürich 1993.

Die letzten Europäer – in Wien

Europäisches Tagebuch, 20.1.2022: Ausstellungseröffnung im Wiener Volkskundemuseum. Unsere Ausstellung “Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee” begibt sich auf Wanderschaft. Erste Station ist das Volkskundemuseum in Wien.
Pandemiebedingt findet die Eröffnung als Soft Opening statt. Die Reden werden verschoben… Aber im wunderbaren, experimentierfreudigen Museum ist die Ausstellung nun bis Montag, den 18. April 2022 zu sehen. Wieder eingerichtet von Martin Kohlbauer.

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Die letzten Europäer – im Wiener Volkskundemuseum. Foto: kollektiv fischka/kramar

Die letzten Europäer im Wiener Volkskundemuseum. Foto: kollektiv fischka/kramar

Die letzten Europäer im Wiener Volkskundemuseum. Foto: kollektiv fischka/kramar

Die letzten Europäer im Wiener Volkskundemuseum. Foto: kollektiv fischka/kramar

Die letzten Europäer im Wiener Volkskundemuseum. Foto: kollektiv fischka/kramar

Die letzten Europäer im Wiener Volkskundemuseum. Foto: kollektiv fischka/kramar

Die letzten Europäer im Wiener Volkskundemuseum. Foto: kollektiv fischka/kramar

Die letzten Europäer im Wiener Volkskundemuseum. Foto: kollektiv fischka/kramar

Kein Benzin – aber Zaubertrank

Boris Johnson am Parteitag der Torys

Europäisches Tagebuch, 6.10.2021: Großbritannien erlebt gerade ein seltsames Schauspiel. Seit Wochen leeren sich die Regale in den Supermärkten, weil die Lieferengpässe stetig dramatischer werden – und an den Tankstellen stauen sich die Automobile und es kommt zu Aggressionen und Handgreiflichkeiten entnervter Autofahrer. Das Benzin wird knapp, weil es nicht mehr im Land verteilt werden kann.
Der Grund dafür ist kein Geheimnis, es fehlt an Transportkapazitäten, denn die Arbeitskräfte sind nicht da. Keine Lastwagenfahrer aus Europa, keine Verteilung. Viele Fahrer sind während der Pandemie aufs Festland zurückgekehrt, und durch die neuen Bedingungen des Brexits können sie nicht mehr in Großbritannien arbeiten.

Die Regierung lässt sich nun so allerhand einfallen. Zum Beispiel verschickt sie landesweit Briefe an europäische Staatsbürger, die noch im Lande sind und laut Führerschein Fahrzeuge bis zu 7.5 Tonnen führen dürfen, ob sie nicht kurzfristig als Lastwagenfahrer einspringen wollen. Die Tageszeitung „Independent“ zitiert einen Deutschen mit den Worten, er würde doch lieber seinen Job bei einer Investmentbank behalten.

Nicht nur in Supermärkten und an den Tankstellen, auch in der Pflege ist die Krise unverkennbar, und sie trifft die Schwächsten. Denn natürlich sind auch die europäischen Pflegekräfte wie durch einen bösen Zauber verschwunden. Die Logistik der Schlachthöfe bricht nun ebenfalls schrittweise zusammen. Auch dort fehlen die Arbeitskräfte und viele Bauern beginnen ihre Schweine zu „keulen“. Schon warnt der Verband der Schweinebauern, bald müssten 120.000 Schweine grundlos getötet werden.

Premier Boris Johnson verkündet hingegen, wie großartig die britischen Fähigkeiten der Logistik seien, „our fantastic skill of logistics“. Und er lässt sich auf dem Parteitag der Torys, der britischen Konservativen feiern, als hätte er gerade ein goldenes Zeitalter für die britischen Inseln eingeläutet. Er verspricht höhere Löhne, höheres Wachstum, niedrigere Steuern. Die Realität sieht hingegen gerade anders aus. Die während der Pandemie gewährte Erhöhung der Sozialhilfe hat die Regierung wieder einkassiert.

Die Bevölkerung ruft Johnson jedenfalls auf, das Leben zu genießen, so wie Kabinettsmitglied Michael Cove, der vor einigen Wochen auf der Tanzfläche eines Nachtklubs in Aberdeen gesichtet wurde. Johnson hat seinen eigenwilligen Humor nicht verloren: „Wir haben führende Regierungsvertreter in die verschwitztesten Clubs geschickt, um zu zeigen, dass jeder absolut sicher tanzen kann.“ Schließlich besitze Großbritannien mit Astrazeneca ein „britisches Phänomen, unser Zaubertrank.“