Kein Benzin – aber Zaubertrank

Boris Johnson am Parteitag der Torys

Europäisches Tagebuch, 6.10.2021: Großbritannien erlebt gerade ein seltsames Schauspiel. Seit Wochen leeren sich die Regale in den Supermärkten, weil die Lieferengpässe stetig dramatischer werden – und an den Tankstellen stauen sich die Automobile und es kommt zu Aggressionen und Handgreiflichkeiten entnervter Autofahrer. Das Benzin wird knapp, weil es nicht mehr im Land verteilt werden kann.
Der Grund dafür ist kein Geheimnis, es fehlt an Transportkapazitäten, denn die Arbeitskräfte sind nicht da. Keine Lastwagenfahrer aus Europa, keine Verteilung. Viele Fahrer sind während der Pandemie aufs Festland zurückgekehrt, und durch die neuen Bedingungen des Brexits können sie nicht mehr in Großbritannien arbeiten.

Die Regierung lässt sich nun so allerhand einfallen. Zum Beispiel verschickt sie landesweit Briefe an europäische Staatsbürger, die noch im Lande sind und laut Führerschein Fahrzeuge bis zu 7.5 Tonnen führen dürfen, ob sie nicht kurzfristig als Lastwagenfahrer einspringen wollen. Die Tageszeitung „Independent“ zitiert einen Deutschen mit den Worten, er würde doch lieber seinen Job bei einer Investmentbank behalten.

Nicht nur in Supermärkten und an den Tankstellen, auch in der Pflege ist die Krise unverkennbar, und sie trifft die Schwächsten. Denn natürlich sind auch die europäischen Pflegekräfte wie durch einen bösen Zauber verschwunden. Die Logistik der Schlachthöfe bricht nun ebenfalls schrittweise zusammen. Auch dort fehlen die Arbeitskräfte und viele Bauern beginnen ihre Schweine zu „keulen“. Schon warnt der Verband der Schweinebauern, bald müssten 120.000 Schweine grundlos getötet werden.

Premier Boris Johnson verkündet hingegen, wie großartig die britischen Fähigkeiten der Logistik seien, „our fantastic skill of logistics“. Und er lässt sich auf dem Parteitag der Torys, der britischen Konservativen feiern, als hätte er gerade ein goldenes Zeitalter für die britischen Inseln eingeläutet. Er verspricht höhere Löhne, höheres Wachstum, niedrigere Steuern. Die Realität sieht hingegen gerade anders aus. Die während der Pandemie gewährte Erhöhung der Sozialhilfe hat die Regierung wieder einkassiert.

Die Bevölkerung ruft Johnson jedenfalls auf, das Leben zu genießen, so wie Kabinettsmitglied Michael Cove, der vor einigen Wochen auf der Tanzfläche eines Nachtklubs in Aberdeen gesichtet wurde. Johnson hat seinen eigenwilligen Humor nicht verloren: „Wir haben führende Regierungsvertreter in die verschwitztesten Clubs geschickt, um zu zeigen, dass jeder absolut sicher tanzen kann.“ Schließlich besitze Großbritannien mit Astrazeneca ein „britisches Phänomen, unser Zaubertrank.“

 

Von Erntehelfern und Hausangestellten in Italien – und einem Virus der gerne Auto fährt

Rückblick, 18.8.2020: Im Frühjahr machten Nachrichten die Runde, dass die Ernte in Italien gefährdet sei, weil die Erntehelfer ausbleiben. Zugleich hat deren prekäre Situation in Italien durch die Corona-Pandemie kurzfristig mehr Aufmerksamkeit erfahren.
Bislang haben inzwischen ca. 200’000 Menschen, die bislang schwarz in Italien arbeiten, eine Legalisierung ihrer Beschäftigung beantragt, wie nun das italienische Innenministerium meldete. Die Frist für die Anträge ist am 15.8. abgelaufen. Erwartet war von dem vereinfachten Verfahren vor allem eine Verbesserung der Situation von Erntehelfern, doch die meisten der Anträge betreffen wie jetzt zu erfahren ist vor allem Hausangestellte, z.B. aus Marokko, der Ukraine und aus Bangladesch. Offenbar ist fraglich, ob die Landwirte, die die Anträge für die Erntehelfer hätten unterstützen müssen, überhaupt dazu bereit waren. Hat dies doch auch eine höhere Bezahlung der Ersthelfer zur Folge, die viele Landwirte offenbar scheuen.

Vor zwei Tagen erklärte Bundeskanzler Sebastian Kurz: der Corona-Virus komme mit dem Auto nach Österreich. Vermutlich wollte er eimal wieder über die Balkanroute sprechen. Die offenbar noch nicht dicht genug ist. Gemeint sind aber natürlich Urlauber, nicht zuletzt Menschen die auf dem Westbalkan ihren Heimaturlaub verbringen. Wie auch immer, es mag sein, dass der Virus gerne Auto fährt. Doch 80% der Infektionen in Österreich haben original österreichische Quellen. Die staatliche Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit ARGES studiert die Infektionsquellen sehr genau. Bis zum 9.8.2020 jedenfalls könnte man ca. 80-100 Neuinfektionen auf den Westbalkan zurückführen – von ca. 740 bis ca. 870 in den letzten vier Wochen. Aber Kanzler Kurz lässt keine Gelegenheit aus, um Ressentiments zu schüren. Er macht das sehr professionell.

 

“Corona ist nicht gefährlich”

Rückblick, 17.6.2020: Gestern hielt der Vorsitzende der FPÖ, Norbert Hofer, auf einer FPÖ-Demonstration am Viktor-Adler-Markt in Wien eine seiner üblichen Hetzreden. Die seinem Ruf als das “gemäßigte” Gesicht der Partei seltsamerweise keinen Abbruch tun.
„Ich fürchte mich nicht vor Corona, Corona ist nicht gefährlich. Da ist der Koran gefährlicher, meine Lieben, als Corona.“ Hofer kassiert dafür nun einige Anzeigen. Aber das gehört wohl zum Kalkül. Denn so kann er sich einmal mehr als Opfer inszenieren. Nach deutlicher Kritik an Hofer seitens muslimischer Gemeinden, der protestantischen Kirche und der Israelitischen Kultusgemeinde, reagiert nach einigen Tagen auch die katholische Kirche mit dem eher allgemeinen Aufruf, keine Religion „öffentlich schlecht zu machen“, so Kardinal Schönborn.

Wie “ungefährlich” Corona ist, erleben derzeit vor allem die Ärmsten. Der neueste Ausbruch der Corona Infektion in einem Deutschen Schlachtbetrieb wirft erneut ein Schlaglicht auf die besondere Gefährdung von Arbeitskräften in Billiglohnsegmenten, vor allem Wanderarbeiter aus Osteuropa, die unter besonders prekären und beengten Verhältnissen in irgendwelchen substandard Wohnheimen untergebracht werden. Mindestens 650 Neuinfektionen in der Fleischfabrik Tönnies in Westfalen sind vermutlich darauf zurückzuführen. Auch in Österreich arbeiten Billig-Arbeitskräfte nach wie vor unter menschenunwürdigen Verhältnissen, zum Beispiel bei Spargelbetrieben im Marchfeld, die ihre Arbeitskräfte aus Osteuropa in skandalösen Unterkünften unterbringen.

Die Unsichtbaren

Rückblick, 16.5.2020: In Italien droht die Ernte zu verfaulen. Im Zeichen von Corona merkt man plötzlich, dass die „illegalen“ schwarzen Migranten in Wirklichkeit das Land ernähren. Ca. 670.000 Einwanderer ohne gültige Papiere leben schätzungsweise in Italien. Von etwa 200.000 Ausländern, die in der Altenpflege, oder als Kinder- und Dienstmädchen in privaten Haushalten arbeiten, sind 70% nicht legal beschäftigt. Neben hunderttausenden von Saisonarbeitern, die aus Nordafrika oder Rumänien eingeflogen werden, arbeiten auch mindestens 130.000 „Unsichtbare“ in der Landwirtschaft. Migranten, die ohne jeden Status untergetaucht sind und in rechtswidrigen und menschenverachtenden Lebens- und Beschäftigungsverhältnissen vegetieren. Die Bauern sparen sich die Versicherung und zahlen 20 bis maximal 30 € Lohn – am Tag. Mafiose Vermittler kassieren für den Transport zur Arbeit und für unwürdige Massenquartiere. Wer dort an Corona bekommt hat Pech gehabt. Die Landwirtschaftsministerin Teresa Bellanova weiß, wovon die Rede ist. Sie war selbst einmal Landarbeiterin. „Ich habe auf den Feldern viele Freundinnen verloren, die auf dem Arbeitsweg oder an Überarbeitung gestorben sind. Sie hatten nicht so viel Glück wie ich“, sagte Bellanova bei ihrer Vereidigung zur Landwirtschaftsministerin im vergangenen September. Nun will sie gegen die Sklavenarbeit auf den Feldern und in den Ställen vorgehen.

Doch dazu muss den „Illegalen“ zunächst ein legaler Weg aus der Unsichtbarkeit ermöglicht werden. Dagegen laufen die Populisten natürlich Sturm. Aber jetzt hat Bellanova – im Zeichen von Corona – neue Argumente. Kann sich das Land in Zeiten der Pandemie tatsächlich leisten, hunderttausende von Menschen in „systemrelevanten“ Bereichen illegal zu beschäftigen, ohne dass diese Menschen eine Chance auf ärztliche Behandlung haben? Ob das gegen die Blockade von rechts helfen wird ist freilich nicht ausgemacht.

Rückblick 15.5.2020: Der ORF berichtet über die Bedrohung der Demokratie in Ungarn. Dort werden die ersten Menschen verhaftet, weil sie sich im Internet kritisch über Orban und seine Regierung äußern. Das Ermächtigungsgesetz im Zeichen von Corona zeigt Wirkung. Das Parlament ist auf unbegrenzte Zeit in Ferien. Und das, was Orban als „Fake News“ definiert hat, also Kritik an seiner Person, kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Das trifft in Orbans „illiberaler Demokratie“ jetzt vor allem einzelne Menschen, denn die Medien sind in Ungarn ohnehin fast vollständig unter seiner Kontrolle. Eine Verordnung der Regierung hat schon vor einiger Zeit festgelegt, dass Medien bei bestimmten Themen vorher bei der Regierung nachfragen müssen, ob eine Berichterstattung darüber erlaubt ist…

Der ORF aber spielt Rätselraten und liest im Kaffeesatz. Tarek Leitner fragt: „Warum tut Orban das bloß?“ Es gäbe tatsächlich Leute, die glauben würden, Orban wolle eine Diktatur errichten. Kann das sein? Ernst Gelegs in Budapest wird um seine Einschätzung gebeten. Auch er sinniert, als würde er schon um seine Akkreditierung fürchten, und in seinem Vorzimmer säße die Geheimpolizei. Immerhin würde ja die Staatsanwaltschaft gar keine Anklage gegen die gerade Verhafteten erheben. Warum also macht Orban das dann bloß? Könnte es wirklich sein, dass er mit seinen Maßnahmen einfach die Leute einschüchtern wolle? Wann wird er den Ausnahmezustand wohl wieder aufheben? Praktisch gelte der ja unbegrenzt. Aber vielleicht, so Gelegs, ja frühestens Ende Juni. Ja Ende Juni, so versucht es Ernst Gelegs es mit paradoxer Pädagogik, würde Urban das wohl tun. Denn schließlich wolle Orban ja seine Kritiker Lügen strafen. Wenn er sie nicht einfach irgendwann alle verhaften lässt, wenn noch welche übrig bleiben. Und der ORF sich weiter fragen, was Orban denn damit dann bloß meinen könnte.

Die Philippinen statt Rumänien?

Europäisches Tagebuch, 11.5.2021: In Österreich fehlen bis 2030 schätzungsweise 75000 Pflegekräfte. Die Wirtschaftskammer will offenbar ein Programm starten, das dem Mangel an Pflegekräften mit dem Import von Pfleger:innen von den Philippinen abhelfen soll.
Schon vor einem Jahr hat die türkisblaue Landesregierung Oberösterreichs eine Agentur beauftragt, Arbeitskräfte auf den Philippinen anzuwerben. Dabei wurde auf die sonst so oft gehörten markigen Sprüche wie „Deutsch ist Pflicht“ verzichtet. Deutschkenntnisse sind auch nach den neuen Plänen der Wirtschaftskammer verzichtbar. Der Spracherwerb soll „in der Praxis“ erfolgen. Die Rede ist von diplomierten Pflegern und Pflegerinnen, die nach zwei Jahren Arbeit unter fachlicher Aufsicht als Krankenpfleger:innen arbeiten sollen. Dabei wird mit Rekrutierungskosten von 8000-12000 Euro gerechnet. Die Gewerkschaften und die SPÖ mahnen stattdessen schon länger bessere Arbeitsbedingungen und Entlohnung, und die Einführung einer 35 Stunden Woche für die Pflegeberufe ein. Auch die Umschulung von Arbeitslosen für die Pflege soll attraktiver gestaltet werden. Ob das freilich reichen wird, Menschen hier im Land für einen Beruf zu erwärmen, der in unserer Gesellschaft allgemein noch nicht wirklich ernst genommen wird? Das scheint noch ein langer Weg zu sein.
Der Ausbruch der Covid-19 Pandemie im letzten Frühjahr hat immerhin schlagartig die Aufmerksamkeit für die Misere im Pflegebereich erhöht. Und dies sowohl in den Krankenhäusern, deren Personal seit dem letzten Frühjahr vor allem mit öffentlichen Streicheleinheiten bedacht, aber nach wie vor schlecht bezahlt wird. Wie erst recht in der Heimpflege, die im April 2020 zusammenzubrechen drohte, weil die Anreise von Heimpflegerinnen aus Osteuropa blockiert war. Ob die Anwerbung auf den Philippinen diese Probleme lösen kann? Aber den Pflegeberuf wirklich attraktiver zu machen, wird viel Geld kosten.
Am wachsenden Bedarf nach Heimpflege hingegen, wird nur dann etwas zu ändern sein, wenn grundsätzlich über Alternativen nachgedacht würde, zum Beispiel über die Förderung des Zusammenlebens und Wohnen mehrerer Generationen, oder mehr gemeinschaftliche Wohnformen für ältere Menschen. Mehrgenerationenprojekte: Das freilich würde einem anderen Prestigeprojekt der Wirtschaftskammer und des Wirtschaftsbundes widersprechen. Nämlich der Erhöhung der Mobilität, und wenn es sein muss auch zwangsweise, durch die Drohung mit der Kürzung des Arbeitslosengeldes, die derzeit in der österreichischen Regierung für Spannungen sorgt.

Rückblick, 11.5.2020: Der erste Transitzug mit Pflegerinnen aus Rumänien ist in Österreich angekommen, nachdem wochenlang mit der ungarischen Regierung über ein Durchfahrtsrecht verhandelt worden ist. 33.000 Familien in Österreich sind auf 24-Stunden-Betreuung durch Pflegekräfte angewiesen, die im Monat weniger als 1000,- € für 14 Tage 24-Stunden-Dienst bekommen, „natürlich“ ohne 13 oder 14 Monatsgehalt, und davon noch die Fahrtkosten zwischen ihren Heimatorten und Österreich bezahlen müssen – wenn die Familien, in denen sie arbeiten, nicht „nebenher“ die Pflegerinnen dabei unterstützen.
Viele der Frauen waren deshalb auf eben jene Sozialleistungen angewiesen, die die türkisblaue Bundesregierung 2019 gekürzt hat. Die sogenannte „Indexierung“ der Familienbeihilfe war eines der populistischen Prestigeprojekte von Sebastian Kurz.

Im Klartext bedeutete das für die zumeist aus Rumänien stammenden Pflegerinnen eine Halbierung der Unterstützung für jedes Kind – d ren Betreuung häufig wiederum Geld kostet, da die Mütter 1000 Kilometer entfernt von zu Hause arbeiten müssen. Trotzdem ist die Pflegearbeit für Frauen aus Osteuropa angesichts der Lohnunterschiede und der sozialen Situation in ihren Heimatländern nach wie vor finanziell attraktiv. Viele Familien dort sind auf diese Verdienste im Ausland existentiell angewiesen. Ob das auf Dauer so bleiben wird, ist allerdings kaum abzusehen.

Erntehelfer

Rückblick, 3.5.2020: Außenminister Schallenberg verhandelt mit der Ukraine über Reisegenehmigungen für ukrainische Erntehelfer. Jedes Jahr braucht Österreich mehr als 14.000 Arbeitsmigranten als Erntehelfer in der Landwirtschaft. Sie leisten harte, schlecht bezahlte körperliche Arbeit. Österreicher finden sich für diese Arbeiten kaum noch. Dieses Jahr sind nun große Teile der Ernte in Gefahr. Österreich will nun eine Luftbrücke für die dringend benötigten Arbeitsmigranten einrichten.

Tausende von Arbeitsmigranten aus Afrika, die in den spanischen Provinzen Huelva und Almeria den Betrieb der größten Produktionsstätten für Früchte und Gemüse in der gesamten EU ermöglichen leiden besonders unter den Auswirkungen des Corona Lock downs. Sie leben dort ohnehin unter menschenunwürdigen Bedingungen in Slumsiedlungen, zum Teil ohne Wasserversorgung, Sanitäranlagen oder Elektrizität. Sie verdienen 30,- € am Tag für schwere körperliche Arbeit. Viele von ihnen leben und arbeiten dort schon seit Jahren, ein Drittel von Ihnen ohne legalen Status. Nun sind viele in ihre Heimatländer zurückgekehrt, andere können aufgrund der Reisebeschränkungen die Farmen nicht erreichen. Diejenigen die weiter arbeiten sind dem Ansteckungsrisiko mehr oder weniger ungeschützt ausgesetzt. So sind nicht nur große Teile der Ernte und damit die europäische Versorgung mit Obst und Gemüse, sondern auch die Menschen, von denen sie in Wirklichkeit abhängt unmittelbar bedroht – und dies auch dann, wenn die spanische Regierung den Lockdown nun wieder zurückfährt.

Die EU-Kommission kündigt eine EU-Finanzhilfe von 3,3 Milliarden Euro an, die mit der Europäischen Investitionsbank den Ländern des Westbalkans zur Überwindung der Krise im Gesundheits- und Sozialwesen zur Verfügung gestellt werden soll.

 

Mangelnde Solidarität

Rückblick, 28.3.2020: „Das Klima, das zwischen den Staats- und Regierungschefs zu herrschen scheint, und die mangelnde europäische Solidarität stellen eine tödliche Gefahr für die Europäische Union dar“, erklärt der frühere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors.

Die von der Türkei an die Grenze zu Griechenland gebrachten syrischen Flüchtlinge durften ihre Notunterkünfte verlassen und werden nun zurück in die Türkei gebracht.

Niederösterreich lässt 281 Pflegerinnen und Pfleger aus Rumänien und Bulgarien mit Sondermaschinen einfliegen. Die 24-Stunden Betreuung droht sonst zusammenzubrechen. Auch andere österreichische Bundesländer planen ähnliche Maßnahmen. Nachdem osteuropäische Arbeitskräfte jahrelang von der Boulevardpresse wie auch von türkisen und blauen Politikern immer wieder als Sozialschmarotzer beschimpft worden sind, und ihre Sozialleistungen gekürzt wurden, werden sie nun heftig umworben.

Erntehelfer und Arbeitssklaven

Europäisches Tagebuch, 25.3.2021: Vor einigen Wochen hat Portugal im Zuge seiner Ratspräsidentschaft den Versuch unternommen, die soziale Situation, die Arbeitsbedingungen, die Entlohnung und den legalen Status von Erntehelfern in der EU zu verbessern. Zahlreiche EU-Staaten haben sich der Forderung angeschlossen, Agrarförderungen. von der Einhaltung von Standards abhängig zu machen. Auch im EU-Parlament engagieren sich immer mehr Abgeordnete in dieser Frage.

Schließlich arbeiten die häufig illegal oder weit unter Kollektivverträgen oder Mindestlöhnen Beschäftigten unter zum Teil unerträglichen Verhältnissen, bis zu 12, ja manchmal 17 Stunden am Tag, untergebracht in menschenunwürdigen Behausungen. Dies gilt nicht zuletzt für die großen Agrarproduzenten Europas, Spanien und Italien. Aber auch für Länder wie Österreich.
Portugal hat vorgeschlagen, die EU-Agrarförderungen (immerhin ein Drittel des EU-Budgets) davon abhängig zu machen, dass Landwirte und Lebensmittelkonzerne endlich menschenwürdige Arbeitsbedingungen schaffen und soziale Rechte respektieren. Im Europäischen Rat haben 12 Länder jedoch Portugals Vorschläge abgelehnt, nicht zuletzt die österreichische Landwirtschaftsministerin Köstinger, die stattdessen eine „Informationskampagne“ starten will. Nun bringt sie auch eine „Evaluierung“ ins Spiel. Alles soll dazu dienen, offenbar Zeit zu gewinnen. Wofür auch immer. Interessanterweise sind es weder Italien noch Spanien, die den portugiesischen Vorschlag blockieren, sondern neben Österreich auch Belgien, Bulgarien, Kroatien, Zypern, Tschechien, Finnland, Griechenland, Ungarn, Malta, Rumänien, Lettland und die Slowakei. Der österreichische EU-Abgeordnete Thomas Waitz (Grüne) spricht von „sklavenartigen Verhältnisse und erklärt, es könne nicht sein, „dass man weiter öffentliches Geld bekommt, obwohl man Arbeitsrechte untergräbt.“ Waitz geht davon aus, dass eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse auch einen faireren Wettbewerb innerhalb der EU zulassen würde. Eine Einigung ist wohl noch in weiter Ferne. Schließlich gibt es wirtschaftliche Interessen daran, dass EU-Agrarprodukte auch auf dem Weltmarkt „konkurrenzfähig“ bleiben. Aber das geht zusehends auf Kosten derjenigen, die dafür schuften müssen.

Heute Abend spricht der österreichische Migrationsexperte Rainer Münz im Jüdischen Museum Hohenems über Wanderarbeit und Migration in Europa – vor, während und nach der Covid-Krise. Hier die Aufzeichnung des Abends.

Rückblick, 25.3.2020: Ausländische Erntehelfer fehlen in Österreich. Laut dem Branchenverband Obst und Gemüse mangelt es bereits an 2500 Helfern. Im Mai könnten es 5000 sein. Die meisten Erntehelfer kommen aus Rumänien und anderen osteuropäischen Staaten und können derzeit weder aus- noch einreisen. Auch in der Fleischproduktion und -verarbeitung fehlen hunderte von Arbeitskräften.

Heimpflege in Corona-Zeiten

Rückblick, 18.3.2020: Am österreichisch-ungarischen Grenzübergang Nickelsdorf steht eine 45 Kilometer lange Fahrzeugkolonne, nach dem die ungarische Regierung die Grenzen geschlossen hat. Viele im Stau arbeiten als Heimpflegerinnen in Österreich und wollen nach zwei Wochen 24 Stundenpflege turnusmäßig zurück zu ihren Familien in Rumänien. Am Tag zuvor hat schon die Slowakei die Grenzen geschlossen und lässt nur eigene Staatsbürger zurück. Ohne die 60.000 HeimpflegerInnen, vor allem aus Rumänien und der Slowakei, aber auch aus Serbien und Bulgarien, die die 24 Stunden Pflege in Österreich aufrechterhalten, würde das System bald zusammenbrechen, warnen die betroffenen Organisationen und Behörden.
Noch vor wenigen Monaten wurde in Österreich damit Wahlkampf gemacht, diesen Menschen die Sozialleistungen zu kürzen. Nun erwägt Österreich besondere Prämien für die Pflegerinnen um den Kollaps insbesondere der Altenpflege im Land verhindern zu können.

Die EU Kommission veröffentlicht Leitlinien für Fluggastrechte bei Stornierungen.

Die Zahl der Corona-Toten in Italien ist vor drei Tagen schon auf über 1800 gestiegen. Die Regierungen der norditalienischen Regionen warnen vor Engpässen. Es gibt nicht genug Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Schutzkleidung. In Kärnten gibt es zur gleichen Zeit 4 Corona-Fälle und 155 Intensivbetten.

Das britische Gesundheitssystem NHS ist auf die Corona-Pandemie noch schlechter vorbereitet: Großbritannien hat nach zahlreichen Sparprogrammen der vergangenen Jahre nur noch 6,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner (Im Vergleich Österreich: zuletzt etwa 23).

Donald Trump hat in einem Presse-Briefing erklärt: „Ich habe immer gewusst, dass das eine Pandemie ist. Ich hatte das Gefühl, dass es eine Pandemie ist, lange bevor es als Pandemie bezeichnet wurde.“

Europas Grenzen

Ausstellungsinstallation Europas Grenzen. Foto: Dietmar Walser

„Wir konnten reisen ohne Pass und Erlaubnisschein, wohin es uns beliebte, niemand examinierte uns auf Gesinnung, auf Herkunft, Rasse und Religion.“ Als Stefan Zweig 1941 im brasilianischen Exil seine etwas idealisierten „Erinnerungen eines Europäers“ fertigstellte, hatte er eine radikal veränderte Realität in Europa vor Augen. 
Schon 1938 hatte die Schweiz ihre Grenzen vor den immer zahlreicheren jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland geschlossen und verweigerte ihnen politisches Asyl. Der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger rettete in der Zeit von 1938 bis 1939 hunderten von ihnen das Leben, auch durch die gefälschte Datierung von Grenzübertritten. 1939 wurde er vom Dienst suspendiert und verurteilt und erst 1995 von der Schweiz rehabilitiert. Während Grüninger als Flüchtlingshelfer geehrt wird, werden heute viele Helfer erneut kriminalisiert.

Eine der großen Errungenschaften der Europäischen Union ist das Schengener Abkommen von 1985, das die Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb der EU ermöglicht. 

Auch nicht-EU-Länder wie die Schweiz, Liechtenstein, Island und Norwegen nehmen inzwischen am Abkommen teil. An der österreichisch-schweizerischen Grenze bei Hohenems gehört der kleine Grenzverkehr in beide Richtungen längst zum Alltag. 
Auch Rumänien, Bulgarien und Kroatien sollen dem Schengen-Raum beitreten. Manche Branchen, wie die Landwirtschaft, die Baubranche oder die Pflegedienste sind auf „Wanderarbeiter“ aus Süd-Osteuropa inzwischen existentiell angewiesen.

< Die Paul Grüninger Brücke, von der Schweiz aus Richtung Grenzübergang Hohenems, 2020, © Dietmar Walser, Jüdisches Museum Hohenems

> Im Sommer 2015 von Ungarn errichtete Grenzzäune zwischen Ungarn und Serbien, © Attila Kisbendedek/AFP

Anlässlich der Beitrittsverhandlungen zur EU wurde auch Serbien 2009 der kontrollfreie Zugang zum Schengenraum gewährt. Das sollte sich nach der Flüchtlingsbewegung Richtung EU ändern. Zahlreiche Länder u. a. auch Österreich und Deutschland führten die Grenzkontrollen wieder ein. Und Ungarn, in das im Sommer 2015 ca. 160.000 Flüchtlinge gelangten, errichtete an seiner „EU-Außengrenze“ zu Serbien einen 300 km langen und bis zu 4 Meter hohen Stacheldrahtzaun.

Inzwischen hat sich der Fokus der EU auf die Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei verlegt. Mehr als 4 Millionen Kriegsflüchtlinge leben in der Türkei. Im Rahmen des „EU-Türkei Abkommens“ erhielt diese von der EU finanzielle Unterstützung, um die Flüchtlingsbewegung in die EU einzudämmen. Nach Ablauf des Abkommens brachte die Türkei Ende Februar 2020 Flüchtlinge an die Grenze, um Druck auf die EU auszuüben. Griechenland setzte daraufhin das Recht auf Asyl zunächst für ein Jahr aus, was offen gegen die EU-Menschenrechts- und die Genfer Flüchtlingskonvention verstieß. 

Die „Wanderarbeit“ in Europa hingegen offenbart ihre Schattenseiten: schlechte Bezahlung, schwierige Arbeitsbedingungen und menschenunwürdige Unterbringung wurden im Zeichen von Corona unverhofft als Problem der ganzen Gesellschaft erkannt.

Rainer Münz (Wien) über Wanderarbeit in Europa: