Österreichische Arithmetik: 5000 = 186

Europäisches Tagebuch, 17.3.2021: Kurz vor Weihnachten 2020 wollten wie uns heute wieder in Erinnerung gerufen wird,  ein paar österreichische Regierungsmitglieder Herbergseltern spielen. Schließlich stand wieder das Fest der Herbergssuche der Flüchtlinge Josef und Maria auf der Tagesordnung. Es sei doch gar nicht so, dass man hartherzig sei und Flüchtlingskindern auf den griechischen Inseln jede Hilfe verweigern würde. Alles nur schlechte Nachred‘.

Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass Bundesinnenminister Nehammers großzügige „Hilfe vor Ort“, also die im Oktober gelieferten Zelte,  in einer griechischen Lagerhalle vergammelte, und einmal mehr die verstörenden Bilder der Flüchtlingslager auf Lesbos und Samos die Runde machten, rückten Karl Nehammer und Susanne Raab aus, um herzenswarme Stimmung zu verbreiten.
Österreich habe mehr als 5000 Kindern im Jahr 2020 Schutz gewährt, behauptete der Innenminister. Und „Integrationsministerin“ Susanne Raab sekundierte am 18. Dezember in der Nachrichtensendung ZIB2, Österreich habe in diesem Jahr mehr als „5000 unbegleitete Minderjährige aufgenommen“. Zweifel an dieser Zahl wurden unmittelbar laut. Dann wurde das Thema von der Tagespolitik verdrängt.
Gestern hat Karl Nehammer endlich eine entsprechende parlamentarische Anfrage der Neos im österreichischen Nationalrat beantwortet. Die dabei zu Tage geförderte Realität sieht folgendermaßen aus:

Österreich hat 2020 186 (in Worten einhundertsechsundachtzig) unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgenommen. Von den übrigen 5544 begleiteten minderjährigen Flüchtlinge, denen 2020 in Österreich ein Schutzstatus zugesprochen wurde, ist die Mehrzahl, nämlich 3220, in Österreich gar nicht „aufgenommen“ worden. Sie wurden in Österreich geboren. In vielen anderen Ländern hätten sie damit keinen „Schutzstatus“ nötig. Sie wären Staatsbürger. Aber dies einmal nur am Rande.
2324 Minderjährige, die 2020 Schutz erhalten haben, sind hingegen tatsächlich als Flüchtlinge nach Österreich gekommen. Gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen. Die meisten von ihnen sind schon jahrelang im Land und warteten auf eine Entscheidung.

Kurz zusammengefasst: 5000 in Österreich letztes Jahr „aufgenommene unbegleitete Minderjährige“ sind tatsächlich 186. Die Herbergseltern Nehammer und Raab lügen wie gedruckt. Aber das ist nicht wirklich neu. Und es ist ihnen auch vollkommen egal.

Rückblick, 17.3.2020: In einer Videokonferenz diskutieren Angela Merkel, Emmanuel Macron, Boris Johnson und Recep Tayyip Erdogan über die Lage der Flüchtlinge in der Türkei. Angesichts des von den Medien auch in Österreich angeheizten Propagandakriegs zwischen der EU und dem Erdogan-Regime in der Türkei setzen beide Seiten inzwischen auf Geheimdiplomatie, um nach einer Lösung zu suchen, die beiden Seiten Gesichtswahrung erlaubt.
Die EU hatte mit ihrer Weigerung, den Flüchtlingsdeal zwischen Europa und der Türkei zu verlängern, Erdogan zu einem Propagandacoup provoziert, auf Kosten der Flüchtlinge, die mit falschen Versprechungen an die türkisch-griechische Grenze gekarrt wurden, um Druck auf Griechenland und die EU auszuüben.

3 Gedanken zu „Österreichische Arithmetik: 5000 = 186

  1. Mich wundert, dass Hanno Loewy offenbar überhaupt noch darüber verwundert ist, dass Politiker und ihre Gender-Kolleginnen lügen, pardon, “die Unwahrheit sagen”: Das gehört doch zum täglichen Geschäft dieser Spezies Mensch, da braucht man doch nur – den entsprechend robusten Magen vorausgesetzt – die Debatten im österreichischen Parlament live mitzuverfolgen. Dort wird ständig von der einschlägigen mehr oder weniger aufmerksam lauschenden Berufskollegenschaft moniert, dass die jeweils anders Denkenden die Unwahrheit behaupten, denn für den Ausdruck “lügen” würden sie sich einen Ordnungsruf vom Präsidentenpodest herab einhandeln und der wäre schlecht für die bilanzierende Referenzstatistik. Soviel also zur Glaubwürdigkeit aus politischem Munde. Und wer’s nicht glaubt, wird trotzdem selig, sagt das volkstümliche Sprichwort.

    • Vielleicht ist das größere Problem, dass eine Mehrheit im Land offenbar belogen werden will. Denn es ist allemal schöner, mit “gutem Gewissen” Weihnachten zu feiern, als an die unerträglichen Zustände in den europäischen Flüchtlingslager zu denken. Da lässt man sich wohl gerne mit Zahlentricks täuschen.

  2. Das mit dem “belogen werden wollen”, um mit “gutem Gewissen” das Fest der Herbergssuche begehen zu können, scheint wirklich zuzutreffen, denn auch der österreichische Außenminister Schallenberg rückte damals aus, um anzukündigen, dass als “Hilfe vor Ort” von der österreichischen “SOS Kinderdorf”-Organisation auf Lesbos ein einschlägiges Projekt für 500 betroffene Kinder errichtet werden solle. Heute, drei Monate später, gab es in der ORF-“Zeit im Bild” soeben einen zutiefst aufrüttelnden Bildbericht, wonach “vor Ort” immer noch an die 2000 Kinder vor der Kälte ungeschützt im Schlamm dahindarben müssen, weil die griechische Regierung jeglichen Zutritt in das desolate Zeltlager, auch für Vertreter von “SOS Kinderdorf”, strikt untersagt hat. Nach wie vor scheint also das Prinzip der “Abschreckung” für Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union vorherrschend zu sein. Auch auf Kosten der herbergsuchenden und kranken Kinder. Ob Herr Minister Schallenberg mit seinem “guten Gewissen” ruhig schlafen kann? Österreichs “SOS Kinderdorf”-Organisation hätte nach Aussage ihrer Geschäftsführerin Plätze für 50 bis 100 Kinder anzubieten.

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