“Symbolpolitik”

Europäisches Tagebuch, 12.9.2020: Der österreichische Kanzler postet eine Videobotschaft. Das hat für ihn den unbestreitbaren Vorteil, sich keine unbequemen Fragen von aufsässigen Journalisten mehr gefallen lassen zu müssen. Das Lügen fällt noch leichter so.
Es können ja nicht jedes Jahr mehr hier ankommen, sagt er. Doch es werden seit Jahren immer weniger. 2019 wurden so wenige Asylanträge gestellt, wie kaum zuvor seit dem Jahr 2000.

Einmal mehr bekräftigt er seine Weigerung, unbegleitete Kinder oder irgendjemand anderes aus dem zerstörten Lager Moria aufzunehmen. Und demonstriert dabei eine eigensinnige Version von „Moral“. „Dieses menschenunwürdige System aus 2015, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“ Von welchem „System“ spricht er? Von welchem Gewissen?
Man werde stattdessen „vor Ort helfen, damit eine menschenwürdige Versorgung sichergestellt ist.“ Dazu hatte man inzwischen jahrelang die Möglichkeit. Und Österreich hat keinen Finger gerührt. Denn die Verhältnisse in Moria sollten ja als Abschreckung dienen, und konnten deswegen gar nicht menschenunwürdig genug sein. Die Forderung nach mehr humanitärem Engagement Österreichs „vor Ort“ hat Sebastian Kurz schon als Außenminister und erst recht als Bundeskanzler bislang nur rhetorisch interessiert. Geschehen ist so gut wie nichts. Nun fordert er ein „einen ganzheitlichen Ansatz“. Was meint er damit? „Symbolpolitik“ lehnt er ab, womit er offenkundig die bescheidenen (beschämenden?) Versuche Deutschlands, Frankreichs und einiger anderer europäischer Staaten (incl. der Schweiz) meint, wenigstens ein paar hundert Kinder aus dem Inferno auf Moria zu befreien.

Das ist der gleiche Mann, der bei Gedenkfeiern für die Opfer der Shoah pflichtschuldig ernst dreinschaut, wenn der Talmud zitiert wird: „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.“ Ob das wirklich stimmt weiß ich auch nicht. Aber jedes aus dem Dreck von Lesbos gerettete Kind wird es zumindest so empfinden.

Tausende von Flüchtlingen campieren dort nach wie vor im Freien. Aber auch für Salzburgs Landeshauptmann Haslauer sind die 13.000 Flüchtlinge nur ein kollektiver Brandstifter und Erpresser, der sein Haus angezündet hat, „damit (sein) Nachbar (ihn) aufnehmen muss“. Und dem man deswegen auch nicht helfen soll. Diese kranke Logik ist derzeit nicht nur in Österreichs Regierung, sondern vor allem in sozialen Netzwerken verbreitet. Hat es Sinn dagegen noch irgendwie zu argumentieren? Mit so hilflosen Sätzen wie:
Die meisten Menschen dort haben überhaupt nichts angezündet, sondern nur ein paar von ihnen. Und war es In Österreich nicht bislang üblich, Kinder aus einem Haus zu retten, auch wenn einer der Hausbewohner vielleicht ein Brandstifter war? Die Menschen in Moria haben aber gar nicht in einem „Haus“ gewohnt, sondern waren gegen ihren Willen in ein Lager gesperrt. Und sie wurden dort unter Bedingungen „gehalten“, von denen jeder und jede wusste, dass sie irgendwann zu einer Explosion der Verzweiflung führen musste. Am Ende kam Corona ins Lager und die nackte Panik.
Wie will man überhaupt miteinander reden, wenn solche einfachen Wahrheiten keine Rolle mehr spielen? Aber genau darum geht es ja. Hier soll nicht miteinander geredet werden. Deswegen ja auch eine Videobotschaft.

“Friedensabkommen”?

Europäisches Tagebuch, 15.9.2020: Israels Premier Netanjahu und der Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate Sheikh Abdullah bin Zayed Al Nahyan sowie der Außenminister von Bahrain Dr. Abdullatif bin Rashid Al-Zayan unterzeichneten heute Nachmittag in Washington im Beisein von Donald Trump einen sogenannten „Friedensvertrag“. Mund-Nasen-Schutz wird dabei nicht getragen, mit solchen Dingen möchte man sich im Weißen Haus nach wie vor nicht abgeben.

Der Unterzeichnung vorausgegangen sind noch bis in die letzten Stunden Kabbalen zwischen den israelischen Regierungsparteien um die Frage, wer den Vertrag überhaupt unterzeichnen darf. Der unter Anklage stehende Premier Netanjahu benötigte dazu eine Erlaubnis des Außenministers der rivalisierenden Partei Kahol Lavan

Der Wortlaut des „Friedensabkommens“ – zwischen drei Staaten, die sich gar nicht im Krieg miteinander befinden – bleibt weiterhin ein Rätsel, denn bislang werden nur Gerüchte über dessen Inhalt verbreitet. Klar ist jedenfalls, dass der Vertrag offenbar den Weg frei macht für eine Reihe von größeren Waffendeals, darunter die Lieferung von amerikanischen F-35 Kampfjets an die VAE, die deren strategische Rolle am Golf deutlich aufwerten. Angeblich würde der Vertrag auch den Weg zu einer „Zwei-Staatenlösung“ offenhalten. Was die Trump-Administration allerdings unter einer solchen „Zwei-Staatenlösung“ versteht, haben Israelis und Palästinenser, wie auch die erstaunte Weltöffentlichkeit, letztes Jahr schon erfahren: ein Flickenteppich von Bantustans unter israelischer Kontrolle. Also ein erster Klasse Begräbnis. Dass die arabischen Monarchen am Golf sich in Wahrheit nicht einmal mehr rhetorisch um irgendwelche „Friedenslösungen“ oder die Interessen der Palästinenser scheren, ist im Grunde keine neue Erkenntnis. 
Die Annexion großer Teile des besetzten Westjordanlands, vor allem entlang des Jordans, und damit die endgültig-endgültige Absage an irgendeinen „Palästinenserstaat“ wurde freilich nicht nur für die bessere Optik einstweilen verschoben. Diese Verschiebung entspricht durchaus den gegenwärtigen israelischen Interessen daran, den sogenannten „Status-Quo“ nicht allzu rasch in die Richtung einer gewaltsamen „Einstaaten-Lösung“ – ohne Ausgleich mit der arabischen Bevölkerung und ohne deren Gleichberechtigung – zu verschieben. Denn auf diesem Weg lauern bekanntlich jede Menge Probleme. Auch wenn Netanjahu diesen Schritt seinen rechtsradikalen Partnern immer wieder versprechen muss, um sich deren wahlentscheidende Unterstützung zu versichern. 

Hinter dem neuen Pakt stehen nicht zuletzt gemeinsame Sicherheits-Interessen, worunter nicht zuletzt der Machterhalt der absolutistischen Herrschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain zu verstehen ist. Hinter den Kulissen ist diese Zusammenarbeit zwischen Israelis, Amerikanern, manchen Golfstaaten und auch einigen Palästinensern wie dem ehemaligen „Sicherheitschef“ der Fatah Mohammed Dahlan schon seit Jahren im Gange, und längst auch kein Geheimnis mehr.
Benjamin Netanjahu hingegen sieht in der absoluten Monarchie der Emirate eine „fortschrittliche Demokratie“. Welche Rückschlüsse das auf sein eigenes Verständnis von Israel als Demokratie zulässt ist ebenfalls kein Geheimnis mehr. 
Zu den wenigen wirklichen Überraschungen gehört da eher, wie sehr sich manche von diesem Coup blenden lassen, mit dem sowohl Netanjahu wie Trump von den katastrophalen Folgen ihrer Politik für die eigene Bevölkerung ablenken wollen. Israel ist nun ab Freitag wieder im Lockdown. Aus dem Musterknaben der Pandemiebekämpfung ist der Krisenprimus geworden. Die USA sollte auch längst wieder im Lockdown sein, täglich sterben immer noch bis zu 1000 Menschen im reichsten, „größten“ Land der Welt.
Aber europäische Zeitungen wie die NZZ feiern das Abkommen zwischen Israel und den VAE unverdrossen als historischen Schritt zum „Frieden“. Immerhin, der israelische Fußballclub Beitar, traditionell mit den rechtspopulistischen Parteien verbunden und stolz darauf als einziger israelischer Profi-Club noch nie einen arabischen Spieler aufgestellt zu haben, verhandelt nun mit neuen Investoren: einer Gruppe von Scheichs aus den Arabischen Emiraten. Auch jüdische Rechtsradikale wissen: „denn nur der Scheich ist wirklich reich“.   

Brexit 2.0

Europäisches Tagebuch, 14.9.2020: Das Britische Unterhaus beschließt die von Premier Boris Johnson beantragte einseitige Aufkündigung des Brexit-Vertrags im Zuge des sogenannten „Binnenmarktgesetztes“. Dass damit sowohl britische Gesetze als auch internationales Recht gebrochen werden, scheint nicht nur der Brexit-Regierung sondern auch der Mehrheit des Parlaments egal zu sein. Hauptargument ist der in der Tat prekäre Status, den Nordirland in dem neuen Regelwerk erhält, das Johnson als großen Deal nicht einmal einem Jahr durchs Parlament peitschte. In einer Zollunion mit Irland und der EU – und einer Zollgrenze zum Rest des britischen Königreiches. Jedenfalls dann, wenn es mit den Verhandlungen eines umfassenden Freihandelsabkommens zwischen Großbritannien und der EU hapert. Seine Vorgänger John Major und Tony Blair sind nun „entsetzt“, aber das schert die Austritts-trunkene Mehrheit ohnehin nicht. 
Einmal mehr zeigt sich, welchen Preis die Brexiteers offenbar für ihren nationalistischen Aufstand gegen die europäische Einigung zu zahlen bereit sind. Der mühsam erreichte, gleichwohl prekäre Friedenszustand in Nordirland droht nun ganz bewusst geopfert zu werden. Dass Johnson gerne mit dem Feuer spielt ist allen bekannt. Aber die meisten seiner Torys folgen ihm nun wie Lemminge. Es braucht nur ein paar absurde Verschwörungstheorien wie sie unter rechtspopulistischen Führern immer beliebter werden: die EU plane eine „Lebensmittelblockade“ zwischen Nordirland und dem restlichen Königreich. 
Dabei überschätzen die Brexiteers Großbritanniens Möglichkeiten, sich außerhalb der EU unter dem Protektorat der USA zu einer internationalen Wirtschafts- und Handelsmacht aufzuspielen auf groteske Weise. Das wird sich rächen, wenn es längst zu spät ist. So wie es aussieht, wird sich Großbritannien in den nächsten Jahren weniger mit seiner großartigen, in Wirklichkeit ziemlich maroden Ökonomie beschäftigen, als mit den Zentrifugalkräften, die der Brexit freisetzt, von Nordirland bis Schottland, und schließlich auch in London. Auf die vermutlich die Antwort nur mehr nationalistischer Furor sein wird. Zu den Hintergründen der ökonomischen Perspektiven siehe auch diesen interessanten Beitrag von Paul Mason auf IPG: https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/detail/im-groessenwahn-4634/?utm_campaign=de_40_20200911&utm_medium=email&utm_source=newsletter