Kommunikationsprobleme?

Europäisches Tagebuch, 4.11.2020: Nur kurz währte der Anflug von staatsmännischer Haltung und „inklusiver“ Besonnenheit beim österreichischen Bundeskanzler. Nur zwei Tage nach dem mörderischen Anschlag eines Djihadisten in der Wiener Innenstadt hat Sebastian Kurz wieder begonnen, den EU-feindlichen Rechtspopulismus zu bedienen. Und zeigt sich unbeeindruckt von jeder Kenntnis rechtsstaatlicher Prinzipien. Das geht wie? So: Statt konkret zu werden, von wem derzeit eine Bedrohung in Österreich ausgeht, muss erst einmal wieder die Allzweckwaffe der Rede vom „politischen Islam“ in Stellung gebracht werden. Diese immer wieder bemühte Worthülse hat den Vorteil, dass sie im Zweifelsfall alles und jeden meinen kann, was irgendwie mit dem Islam in Verbindung gebracht werden kann. Islamische Politiker aus mehrheitlich von Muslimen bewohnten Staaten lassen sich damit genauso etikettieren, wie fanatische Djihadisten, die Terroranschläge verüben. Frauen, die Kopftücher tragen, weil sie ihre muslimische Identität betonen wollen genauso, wie Menschen, die manche ethischen Grundsätze des Islams (ja, die gibt es, wie zum Beispiel die des Spendens für Bedürftige – hier heißt das Caritas…) auch in der Welt der Politik umgesetzt sehen wollen, genauso wie Menschen, die ein bestimmtes Verständnis von Islam zur Rechtfertigung ihrer männlichen, politischen, ethnischen oder sozialen Machtansprüche benutzen, und dafür zu allen Schandtaten bereit sind. Gibt es eigentlich kein politisches Christentum? Gibt es keine CDU und keine christlich-soziale ÖVP, keine menschenrechts-aktive Caritas und keine evangelikalen, gewaltbereiten Trump-Anhänger? Um einmal das breite, widersprüchliche Spektrum nur ein wenig anzudeuten.

Doch wer von „politischem Islam“ spricht, wie Sebastian Kurz und so viele andere, möchte genau diese Differenzierung einebnen und stattdessen die Kultur eines Generalverdachts pflegen. Jene „Kultur“, die mit daran schuld ist, Menschen wie den Attentäter von Wien, in seinem djihadistischen Wahn zu bestärken, der genau diese Weltsicht des „wir“ und „die anderen“ teilt – und radikalisiert.

Doch dann beglückte Sebastian Kurz die Öffentlichkeit mit der überraschenden Einsicht, dass das Attentat nicht stattgefunden hätte, wenn der Täter, der nach zwei-Dritteln seiner Haftzeit entlassen wurde, noch immer in Haft sitzen würde. Darauf wären wir sonst nie gekommen.
Allerdings könnte auch der Bundeskanzler wissen, dass dies grundsätzlich nicht nur üblich ist, sondern auch sinnvoll, denn nur so hat die Justiz eine Handhabe, dem Verurteilten Auflagen zu erteilen, zum Beispiel die Teilnahme am Deradikalisierungsprogramm und die regelmäßige Betreuung durch Bewährungshilfe, auch über einen längeren Zeitraum, als die eigentliche Haft dauern würde. Aber die diffuse Botschaft des Bundeskanzlers war klar: die (grüne) Justizministerin und die Justiz, ja die rechtstaatlichen Verfahren überhaupt sind irgendwie schuld an dem Debakel. Umso „nötiger“ schien diese Schuldzuweisung aus Sicht des türkisblauen Kanzlers freilich, nachdem klar wurde, dass vor allem das Innenministerium seines Parteikollegen Nehammer und der Verfassungsschutz im Besonderen einen echten Erklärungsbedarf haben. Nachdem bekannt geworden ist, dass der Attentäter versucht hatte in der Slowakei Munition für ein Kalaschnikow Gewehr zu besorgen, worüber der slowakische Geheimdienst seine österreichischen Kollegen informierte. Nur die Justiz und die Bewährungshilfe wusste von solchen Dingen nichts.
Karl Nehammer musste in seiner Pressekonferenz, die erst mit einer Stunde Verspätung (und offenbar einigem Klärungsbedarf hinter den Kulissen) begann, kleinlaut zugeben, dass es hier offenbar „Kommunikationsprobleme“ gegeben hat, „Fehler“, die nach einer unabhängigen Untersuchung rufen. Justizministerin Zadic wiederum unterließ es höflich, nun ihrerseits Retourkutschen anzubringen.
Stattdessen sucht Sebastian Kurz nun öffentlich die Schuld bei – na ja, natürlich, wen wundert es – also, so unglaublich das eigentlich ist, tatsächlich bei der Europäischen Union und ihrer „falschen Toleranz“. Gegenüber in Wien geborenen österreichischen Staatsbürgern, wie dem Attentäter vom Montag? Nach Logik von Argumenten sollte hier niemand fragen. Die Tendenz ist die übliche. Der Kurz‘sche Anflug von Vernunft hat nur einen kurzen Tag lang gedauert.

Dazu auch ein treffender Kommentar von Johannes Huber auf „Die Substanz“:

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