Hilde Meisel – Hilda Olday – Hilda Monte: The Unity of Europe

Europäisches Tagebuch, 17. April 2023: Heute vor 78 Jahren, wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde die Schriftstellerin Hilda Monte am Grenzkontrollpunkt Tipis zwischen Vorarlberg und Liechtenstein erschossen.

von Hanno Loewy

Geboren wurde die sozialistische Widerstandskämpferin unter dem Namen Hilde Meisel am 31. Juli 1914 in Wien, drei Tage nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns gegen Serbien, mit der der erste Weltkrieg begann.

1915 zog ihre Familie – ihre Eltern Rosa und ernst Meisel und ihre ältere Schwester Margot – nach Berlin, wo ihr Vater ein Import-Export Geschäft führte. Schon als Jugendliche schloss sie sich dem „Internationalen Sozialistischen Kampfbund“ (ISK) an, der 1926 vom Philosophen Leonard Nelson gegründet wurde. 1929 besuchte sie zum ersten Mal England, 1932 ging sie für kurze Zeit nach Paris. Regelmäßig veröffentlichte sie in der ISK-Zeitschrift Der Funke Analysen der politischen und wirtschaftlichen Situation in England, Frankreich und Deutschland, Spanien und den Kolonien, nicht zuletzt in Afrika. Einer der letzten Texte, die sie im Februar 1933 im Funke veröffentlichte, beschäftigte sich mit dem Waffenschmuggel zwischen italienischen, österreichischen und ungarischen Faschisten, der über die Munitionsfabriken von Hirtenberger in Österreich abgewickelt wurde.
Die Jahre 1933 und 1934 erlebte sie wieder im Deutschen Reich, bevor sie 1934 nach Paris und 1936 nach London emigrierte. Mehrere Male reiste sie auch danach illegal ins Deutsche Reich und half dabei, Aktionen des Arbeiterwiderstands zu organisieren. 1938 ging sie, um ihre Ausweisung aus England zu verhindern, eine Scheinehe mit dem deutsch-britischen Karikaturisten John Olday ein und wurde dadurch britische Staatsbürgerin.

Hilda Monte; © Archiv Jüdisches Museum Hohenems

Auch während des Krieges blieb sie im Widerstand aktiv, sei es als Kurierin der Internationalen Transportarbeiter-Föderation oder im Auftrag alliierter Geheimdienste. Und sie schrieb, zumeist unter dem Namen Hilda Monte. 1940 erschien ihr gemeinsam mit Fritz Eberhard (eigentlich Hellmuth von Rauschenplat) verfasstes Buch How to conquer Hitler. Sie war am Aufbau des Radiosenders „Europäische Revolution“ beteiligt und arbeitete für die deutschen Arbeiter-Sendungen der BBC. 1942 berichtete sie im Radio auch über die begonnene Massenvernichtung der Juden im besetzten Polen. Daneben schrieb sie Gedichte – und arbeitete an ihrem Roman Where Freedom Perished, der erst 1947 erscheinen sollte.

1943 erschien in London ihr Buch The Unity of Europe, in dem sie eine Vision für ein vereintes sozialistisches Europa mit gemeinsamen Institutionen, als politisch unabhängige revolutionäre Kraft zwischen den USA und der Sowjetunion entwickelte.

1944 ließ sie sich zusammen mit Anna Beyer, einer ISK-Kameradin, im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes OSS und österreichischer Sozialisten ins besetzte Frankreich einschleusen. Bald darauf holten René und Hanna Bertholet sie in die Schweiz, ins Tessin und nach Zürich, wo sie mit sozialistischen Emigranten gemeinsam Pläne für die Zeit nach der Befreiung entwarfen – und Hilda Monte davon träumte in China Genossenschaften aufzubauen und alternative Wirtschaftsformen zu studieren, während sie in Mußestunden Tonskulpturen anfertigte.

Im April 1945 meldete sie sich erneut für einen heiklen Auftrag. Von Zürich aus ging sie illegal über die Grenze, um Kontakt mit Sozialisten in Vorarlberg herzustellen, mit einem Fragebogen im Kopf, der das Verhältnis verschiedener Widerstandsgruppen zu einander und die politischen Perspektiven in Vorarlberg nach der Befreiung ausloten sollte. Vermutlich sollte sie auch die Möglichkeiten ausloten, sozialistische Emigranten ins Reich zu schleusen, um den politischen Neuanfang nach der Befreiung vorzubereiten.

Auf dem Rückweg von Feldkirch nach Liechtenstein wurde sie am 17. April 1945 in der Nacht an der Grenze von einer Grenzwache aufgegriffen und im Zollamt Tisis festgehalten. Beim Versuch, in den Morgenstunden zu fliehen, wurde sie angeschossen und verblutete an Ort und Stelle.
Ihre gefälschten Papiere wiesen sie als Eva Schneider aus Berlin aus: „Kontoristin im Propagandaministerium“. Sie wurde als „vermutlich protestantisch“ auf dem evangelischen Friedhof von Feldkirch beigesetzt. Österreichische Sozialisten setzten auf ihr Grab den Stein mit der Inschrift: „Hier ruht unsere unvergessliche Genossin Hilde Monte-Olday. Geb. 31.7. 1914 in Wien. Gest. 17.4.1945 in Feldkirch. Sie lebte und starb im Dienste der sozialistischen Idee“.

Grab von Hilda Monte

Viele ihrer Genossinnen und Genossen wurden prominente Mitglieder der SPD, wie Susanne Miller und Willi Eichler, der große Teile des Godesberger Programms schrieb, Gründerinnen und Gründer politischer und philosophischer Akademien oder, wie Hanna und René Bertholet, der Europäischen Verlagsanstalt in Hamburg. All dies hat Hilda Monte, geboren am Beginn des ersten Weltkriegs, getötet in den letzten Kriegstagen des zweiten, nicht mehr erlebt. Auch nicht die Gründung der Europäischen Gemeinschaft.

1943, als ihr Buch The Unity of Europe erschien, schrieb sie in einem Brief an Julius Braunthal, den Sekretär der Sozialistischen Internationale in London: „If you ask me what nationality you should add to my name – I must say that I don’t quite know how to answer that question. I am British by nationality now, Hungarian by origin, and have lived and worked a lot in Germany. I can only define myself as a European, but I guess that we have not reached the stage where that is permissible.” Mit diesem Anspruch würde sie auch heute noch scheitern.

Moritz Julius Bonn: Zollfeindliche Luft und europäische Demokratie

Europäisches Tagebuch, 25. Januar 2023: Heute vor 58 Jahren starb Moritz Julius Bonn in London.

von Hanno Loewy

Erst in jüngster wird der fast vergessene Gelehrte als Vorbote sozialliberalen Denkens wieder entdeckt – und nicht zuletzt auch als früher Kritiker des Kolonialismus. In wenigen Wochen wird die deutsche Ausgabe seiner Autobiographie Wandering Scholar (So macht man Geschichte? Bilanz eines Lebens) in einer Neuausgabe in der Europäischen Verlagsanstalt in Hamburg erscheinen, herausgegeben von Jens Hacke, der viel zur Neuentdeckung Bonns beigetragen hat.

Moritz Julius Bonn
Quelle: Bundesarchiv

Aufgewachsen in Frankfurt am Main kehrte Moritz Julius Bonn am Ende seines Lebens  und vielen Stationen in Deutschland, Österreich, England und den USA ganz pragmatisch – wenn auch wohl nur auf dem Korrespondenzwege – an jenen Ort zurück, mit dem er intensive Kindheitserinnerungen verband: Hohenems, die Heimat seiner Mutter.

Er war es schließlich, der in den 1950er Jahren einen vorläufigen Schlussstrich unter die Geschichte der Familie Brunner in Hohenems setzte: er organisierte den Verkauf des Brunnerhauses an der ehemaligen Israelitengasse, die 1909 in Brunnerstraße umbenannt worden war – bevor sie 1938 nach einem Nazi-Terroristen benannt wurde, der 1934 den Innsbrucker Polizeipräsidenten ermordet hatte.

Das Brunner-Haus gehörte auch nach 1945 noch immer einer Erbengemeinschaft von Nachkommen des letzten Hohenemser Brunner, Marco, der 1888 gestorben war – Nachkommen, die 1938 aus Wien in die USA geflohen, oder schon vorher emigriert waren, so wie Moritz Julius Bonns Mutter Elise, die 1872 den Frankfurter Bankier Julius Bonn geheiratet hatte.

Moritz Julius Bonn wurde 1873 in Frankfurt am Main geboren. 1876 verbrachte die Familie aus geschäftlichen Gründen in London, doch ein Jahr später starb sein Vater. Moritz Julius verbrachte seine Kindheit in Frankfurt, und die Sommerfrische in Hohenems, wo er das Landleben bei seinem Großvater Marco genoss – und, wie Bonn später schreiben sollte, die „zollfeindliche Luft“ der österreichisch-schweizerischen Grenzregion.

Nach Studien in Heidelberg, München, Wien, Freiburg und London, sowie Forschungsaufenthalten in Irland und Südafrika begann seine erfolgreiche Laufbahn als Nationalökonom. In Italien lernte er die Engländerin Theresa Cubitt kennen, die er 1905 in London heiratete, im gleichen Jahr, in dem er sich über die englische Kolonialherrschaft in Irland habilitierte. Bei Kriegsausbruch 1914 war Bonn unterwegs zu einer Gastprofessur in den USA. Bis 1917 lehrte er dort an verschiedenen Universitäten, bevor er nach dem Kriegseintritt der USA nach Deutschland zurückkehren musste. Als Politikberater nahm er an zahlreichen Nachkriegskonferenzen teil, schrieb über Freihandel und wirtschaftlichen Wiederaufbau, kritische Studien über den Kolonialismus, das Ende der Imperien und über die europäische Demokratie. Mit dem autoritären Staatsrechtler Carl Schmitt, der später zum Vordenker der Nazis werden sollte, stritt er über das Wesen demokratischer Herrschaft. Während Schmitt ethnische Homogenität propagierte, sah Bonn als Demokratie nur in Pluralismus und ethnischer Diversität als überlebensfähig an. Bonn gehörte zu den führenden Wirtschaftsfachleuten der Weimarer Republik, wurde Rektor der Handelshochschule in Berlin und Leiter des von ihm gegründeten Instituts für Finanzwesen.

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 musste Bonn emigrieren, zuerst nach Salzburg, dann nach London, und schließlich in die USA, wo er an diplomatischen Bemühungen teilnahm, die US-Regierung davon zu überzeugen in den Krieg einzutreten um Europa zu retten. Dort schrieb er auch seine Autobiographie Wandering Scholar (die auf deutsch 1953 unter dem Titel So macht man Geschichte erschien). 1946 ließ er sich endgültig in London nieder, wo er 1965 verstarb. Sein letztes Buch war dem Projekt der europäischen Einheit gewidmet: Wither Europe – Union or Partnership? Er machte sich darin keine Illusionen. Es würde noch ein weiter Weg zur den Vereinigten Staaten von Europa sein, und die europäischen Nationalismen seien auch nach der Katastrophe der Weltkriege noch lange nicht überwunden sein.

Sein Denken als sozialliberaler Demokrat blieb zeitlebens von seinem Hohenemser Hintergrund geprägt, dem „Vielvölkerstaat“ der Habsburger und den demokratischen Freiheitsidealen der nahen Schweiz. So schrieb er in seiner Autobiographie:

„Lange bevor ich das österreichische Problem verstand, hatte ich manche seiner Facetten gesehen. Von Vorarlberg her waren mir die Gesichter der slowenischen Hausierer vertraut, die allerlei Drahtwaren in ihren Kiepen trugen und das Land durchwanderten. Adolf Hitler, den ich ein paarmal aus der Nähe betrachten konnte, hatte große Ähnlichkeit mit diesen „Mausefallenhändlern“, wie man sie in Hohenems nannte. Er hatte dieselben hohen Backenknochen, das harte, strähnige Pferdehaar und starre grau-blaue Augen. Er war sicher gleich ihnen und Millionen anderer österreichischer Untertanen ein Mischling. Denn Österreich war ein echter Völkerstaat, in dem trotz aller nationalen Antipathien Mischungen an der Tagesordnung waren. Im Raumland des stärksten Kampfes, in Böhmen, gab es führende Tschechen mit deutschen Namen und Deutschnationale mit tschechischen Vorzeichen. Unser Postmeister in Hohenems war aus Ungarn. Meine Stiefgroßmutter war in Bozen geboren; sie sprach von ihren italienischen Nachbarn immer als den „Welschen“. Meine Vettern in Triest hatten neben ihrem Hauptgeschäft einen kleinen offenen Laden, wo sie Baumwollwaren verkauften. Dort sah ich Kroaten in ihren weißen Schafpelzen, Dalmatier und Bosnier. Jedermann in Triest sprach italienisch, doch schon eine halbe Stunde außerhalb der Stadt befand man sich in einer rein slowenischen Gegend, wo die meisten Leute weder deutsch noch italienisch verstanden. Eine Kusine meiner Mutter war in Brünn verheiratet. Ihr Mann war trotz seines ausgesprochen jüdischen Aussehens ein führender Deutschnationaler, der sich über den drohenden Verlust der Vormachtstellung der deutsch-sprachigen Bezirke Böhmens und Mährens nicht beruhigen konnte. (…) Das Habsburgische Reich war ein Splitterreich, das sich mit nahezu allen europäischen Problemen auseinanderzusetzen hatte. Es war einzig in seiner Art, denn es bestand fast ausschließlich aus mehr oder minder unerlösten Minderheiten. (…)

Mit dem Aufkommen von Demokratie und Maschinenzeitalter hatten die Kräfte, die die alte Monarchie zusammenhielten, die Krone, der Hof, die Kirche, das Beamtentum und vor allem die gemeinsame Armee an Einfluss verloren. Sie hatten aber auch einen starken Verbündeten gewonnen: die Sozialdemokraten. Die österreichischen Sozialisten hatten die Bedeutung eines wirtschaftlich geeinten Reiches im Donauraum begriffen. Sie sahen darin die Nabe Europas; wurde sie herausgerissen, so wurde der Wagen aus der Bahn geschleudert.“[1]

[1] Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte, 1953, S. 67ff.

 

Die Heimatlosen: Ursula Hirschmann und die Geburt des Europäischen Föderalismus

Europäisches Tagebuch, 8.1.2023:

Heute vor 32 Jahren starb Ursula Hirschmann

von Hanno Loewy

Ursula Hirschmann

Geboren wurde Ursula Hirschmann am 2. September 1913 in Berlin in eine bürgerliche jüdische Familie. Wie ihr Bruder Albert Otto Hirschmann begann sie dort ihr Studium der Volkswirtschaftlslehre – und trat 1932 der Jugendorganisation der SPD bei, deren Politik ihr bald nicht entschieden genug im Kampf gegen den Nationalsozialismus war. So suchte sie die Nähe zu kommunistischen Mitstreitern.

1933 mussten Ursula Hirschmann und ihr Bruder nach Paris emigrieren, wo sie mit der Gruppe „Neu Beginnen“ in Berührung kam.

Studienausweis von Ursula Hirschmann, www.risorgimentofirenze.it

Vor allem aber traf sie den jungen italienischen Philosophen und Sozialisten Eugenio Colorni wieder, dem sie schon 1931 in Berlin begegnet war. Gemeinsam zogen sie nach Triest, wo Colorni seit 1934 einen Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik innehatte. Auch Colorni entstammte einer jüdischen Familie, hatte sich in seiner Jugend gar für den Zionismus interessiert – doch für beide wurde nicht ihr Judentum und auch nicht der Kommunismus, sondern die Einheit Europas zum Lebensthema, auch wenn Colorni nicht einmal die Geburt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957 erleben durfte.

1935 heirateten Hirschmann und Colorni in Triest und schlossen sich dem antifaschistischen Widerstand an. Colorni gehörte bald zum inneren Zirkel der Sozialistischen Partei und veröffentlichte unter Pseudonym Beiträge zur Sozialpolitik. Doch im September 1938 wurde Colorni verhaftet und nach Haft in verschiedenen Gefängnissen 1939 auf die Gefangenen-Insel Ventotene verbannt, wohin Ursula Hirschmann ihm folgen durfte. Sie trafen dort auf Altiero Spinelli und Ernesto Rossi, die sich ebenfalls mit Ideen der Europäischen Einigung auseinandersetzten. Gemeinsam entstand das Ventotene-Manifest „für ein freies und vereintes Europa“‚ das heute als eines der bedeutendsten Dokumente auf dem langen Weg zum Europäischen Föderalismus gilt. Darin heißt es unter anderem:

„Es gilt, einen Bundesstaat zu schaffen, der auf festen Füßen steht und anstelle nationaler Heere über eine europäische Streitmacht verfügt. Es gilt endgültig mit den wirtschaftlichen Autarkien, die das Rückgrat der totalitären Regime bilden, aufzuräumen. Es braucht eine ausreichende Anzahl an Organen und Mitteln, um in den einzelnen Bundesstaaten die Beschlüsse, die zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung dienen, durchzuführen. Gleichzeitig soll den Staaten jene Autonomie belassen werden, die eine plastische Gliederung und die Entwicklung eines politischen Lebens, gemäß den besonderen Eigenschaften der verschiedenen Völker, gestattet.“

Manifesto Movimento Federalista Europeo, 1943
Altiero Spinelli Institute for Federalist Studies

Auch Altiero Spinelli hatte sich vom autoritären Kommunismus abgewandt und vertrat nun eine radikale Vision Europäischer Einheit, die sowohl eine soziale Integration, als auch eine wirkliche europäische Demokratie bedeuten sollte, auf der Basis von Gleichheit und Recht. Auch gegenüber der sich in den 1950er Jahren vor allem über Wirtschaftsinteressen formierenden Europäischen Gemeinschaft hielt er an dieser Vision fest. Von 1976 bis zu seinem Tod 1986 sollte Spinelli als Abgeordneter im Europäischen Parlament für eine Europäische Verfassung und die Aufwertung des EU-Parlaments zur tatsächlichen Vertretung eines europäischen Souveräns kämpfen. Zuvor hatte er schon als italienisches Mitglied der Europäischen Kommission (1970-1976) die Einrichtung des Europäischen Rates als Bühne der nationalen Interessen als Rückschritt und Schwächung des Integrationsprozesses kritisiert.
Mit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments sah Spinelli den Moment gekommen, konkrete Schritte zur Erarbeitung einer Europäischen Verfassung zu unternehmen.

Alberto Spinelli, 1984
© European Union – EP

Und tatsächlich nahm am 14. Februar 1984 das EU-Parlament Spinellis Entwurf für eine Europäische Verfassung  an, der dem europäischen Parlament  legislative Kompetenzen zuwies, die weit über das hinausgingen, was bis jetzt Realität geworden ist. Doch die Initiative wurde von den nationalen Regierungen im Keim erstickt. Keines der nationalen Parlamente leitete das im Entwurf vorgesehen Zustimmungsverfahren ein. Spinelli, 1984 noch einmal ins EU-Parlament gewählt, starb am 23. Mai 1986 resigniert in Rom.

Was noch heute ein unerfüllter Traum ist, schien im Zeichen des Weltkriegs und der Vernichtung des alten Europas eine reale, ja die einzige Hoffnung. Und bis heute ist der Geist des Ventotene-Manifest eine Flaschenpost, die auf dem europäischen Meer treibt.
Damals gelang es immerhin, den Text aufs Festland zu bringen. Ursula Hirschmann schmuggelte das auf Zigarettenpapierchen festgehaltene Manifest in einem gebratenen Hühnchen von der Insel Ventotene an Land und bearbeitete den Text redaktionell. Gemeinsam mit Ernesto Rossis Frau Ada und Spinellis Schwestern Fiorella und Gigliola gelang es Ursula Hirschmann auch, das Manifest 1941 unter den Widerstandsgruppen und auf Flugblättern in Rom und Mailand zu verbreiten. 1942 erreichte das Manifest die Schweiz und Frankreich und 1943 zirkulierte eine deutsche Übersetzung von Ursula Hirschmann im Deutschen Reich. Hirschmann war darüberhinaus auch an der Herausgabe der Untergrundzeitschrift L‘Unita Europea beteiligt, die 1943 zum ersten Mal erschien.

L’Unita Europea

Im Mai 1943 floh Colorni, mittlerweile seit 1941 im süditalienischen Melfi interniert, nach Rom, wo er im Versteck als Flüchtling lebte. Und es gelang ihm auch, im August am geheimen Gründungstreffen des Movimento Federalista Europeo in Mailand teilzunehmen, das Alberto Spinelli organisiert hatte. Doch im Mai 1944, wenige Tage vor der Befreiung durch die Alliierten, wurde Colorni in Rom von einer Patrouille angehalten und erschossen. Auch Leone Ginzburg und Guglielmo Jervis, die zu den Gründern des MFE zählten, kamen in diesen Monaten des bewaffneten Kampfes in Italien ums Leben.

Zu diesem Zeitpunkt hatten Hirschmann und Colorni sich schon getrennt. Gemeinsam mit Alberto Spinelli war Ursula Hirschmann in die Schweiz aufgebrochen, um von Genf aus, die Aktivitäten der Föderalistischen Bewegung neu zu organisieren. Und schließlich heirateten beide.
Im März 1945 waren Spinelli und Hirschmann auch gemeinsam in Paris an der Organisation der Konferenz für eine Europäische Föderation beteiligt, an der auch George Orwell, Albert Camus, Louis Mumford und viel andere prominente Intellektuelle teilnahmen – und sich bald angesichts der Spaltung Europas in Ost und West und dem beginnenden kalten Krieg resigniert von diesem Projekt abwandten.
Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft sollte in den kommenden Jahren zunächst ein Wirtschaftsprojekt werden.

Ursula Hirschmann und Eugenio Colorni mit ihrer Tochter Silvia, auf Ventotene

Neben alledem brachte Ursula Hirschmann sechs Töchter zur Welt, drei von Eugenio Colorni (Silvia, Renata und Eva) und drei von Altiero Spinelli (Diana, Barbara, Sara). Eva Colorni würde später einmal den indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen heiraten.

Hirschmann und Spinelli blieben ihr Leben lang ihrem europäischen Aktivismus treu. Spinelli als EU-Politiker – und Ursula Hirschmann als Vorkämpferin einer europäischen Frauenbewegung. Hirschmanns Bruder Albert, der während des Kriegs mit Varian Fry die Flüchtlingsroute über die Pyrenäen organisiert hatte, wurde hingegen in den USA zu einem der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler.
In ihrem Briefwechsel mit Natalia Ginzburg in den 1970er Jahren reflektierte Ursula Hirschmann ihre eigene Identität und Heimatlosigkeit mit radikaler Ehrlichkeit und schonungsloser Kritik am neuen Nationalismus, der schon damals überall blühte: „selbst in Israel wird er die vergifteten Früchte tragen“, schreibt sie an Ginzburg im Oktober 1972, „die er überall hervorgebracht hat: auffällige Erfolge, weniger auffällige, aber tiefe Wunden, ein Geist der Rache, der Vergeltung und so weiter bis zu neuen Völkermorden.”

1975 gründet sie in Brüssel die Femmes pour l’Europe, die sich auf konkrete Themen konzentrieren wollten, von der Förderung des Zugangs zur Ausbildung und der Verteidigung der Lohngleichheit bis hin zum Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Immigrantinnen und Frauen in Entwicklungsländern. Doch noch im selben Jahr erleidet sie eine Hirnblutung von der sie sich nie ganz erholen wird.

Am 8. Januar 1991 stirbt Ursula Hirschmann in Rom. Ihre Autobiographie Noi senza Patria (Wir Heimatlosen) erscheint zwei Jahre später. Darin zog sie das Resumee ihrer europäischen Existenz.
„Ich bin keine Italienerin, auch wenn ich italienische Kinder habe, ich bin keine Deutsche, auch wenn Deutschland einst meine Heimat gewesen ist. Ich bin nicht einmal Jüdin, auch wenn es reiner Zufall war, dass ich nicht gefangen genommen und in einem dieser Öfen in einem der Vernichtungslager verbrannt wurde. Wir „déraciné”, die „Entwurzelten“ Europas, die wir öfter die Grenze als unsere Schuhe wechselten, wie Brecht schreibt, dieses Königreich der Entwurzelten, auch wir haben nichts anderes mehr zu verlieren, als unsere Ketten in einem Vereinigten Europa, deswegen sind wir Föderalisten.“

Quellen:
Silvana Boccanfuso, Ursula Hirschmann – Una donna per l’Europa, 2019;
https://europeanmemories.net/stories/ventotene-80/ (8.1.2023);
https://www.thefederalist.eu/site/index.php/en/essays/2505-the-ventotene-manifesto-and-the-birth-of-the-movimento-federalista-europeo-within-the-italian-resistance (8.1.2023)

 

Sieger und Verlierer in Brüssel? – oder ein wegweisender Durchbruch?

Rückblick, 22.7.2020: Angesichts von 300 Millionen Rabatt pro Jahr für die nächsten sieben Jahre lässt sich Kanzler Kurz nach seiner Rückkehr von den Brüsseler Verhandlungen in Österreich als „Sieger“ feiern. Nicht nur von seinem eigenen Chefkommunikator sondern auch von den meisten Zeitungen. Als wäre das ein Erfolg, wenn es in Brüssel Sieger und Verlierer gibt. In Brüssel selbst ließ er sich von seinem Leibfotografen begleiten. Um immer im rechten Licht zu erscheinen. Die Propagandafotos wurden von der APA übernommen. Soviel zum Thema „unabhängige Presse“ in Österreich.

Für österreichische Zeitungen  besteht der mühsamste – und in mancher Hinsicht doch auch folgenreichste – Kompromiss in der Geschichte der EU vor allem aus einer österreichischen Provinzposse. Als wäre ein österreichisches Rabatt-Schnäppchen das wichtigste, was es zu Europa im Zeichen von Corona und Wirtschaftskrise, von Millionen von Arbeitslosen und einer immer spürbarer werdenden Klimakatastrophe sagen lässt. Nicht alle stimmen da mit ein. Vorarlbergs Landesrat Johannes Rauch von den Grünen richtet auf Twitter aus: „Auf diesen ‚Rabatt‘ mag ich nicht stolz sein, weder als Europäer noch als Österreicher. Sorry about“. Österreich muss in Wirklichkeit natürlich trotzdem mehr an die EU bezahlen, als bisher. Alleine schon, weil die Budget-Lücken die der Brexit hinterlässt, geschlossen werden müssen. Doch das Knausertum der geizigen Vier führt nun dazu, dass ausgerechnet in wichtigen Zukunftsbereichen die EU sparen muss, z.B. bei Investitionen in Forschungsprogramme, in Klimaschutz und Gesundheitspolitik.

Und dennoch, jenseits der nationalistischen Propaganda der „neuen FPÖ“, wie der liberale Journalist Johannes Huber die Kurz-ÖVP nun treffend bezeichnet, ist der Kompromiss wohl besser, als es scheint. So paradox das ist.

Die Einigung in Brüssel: es bleibt bei einem Gesamtvolumen von 750 Milliarden „Corona-Wiederaufbauhilfen“. Statt 500 Milliarden sollen nun bloß 390 Milliarden als Zuschüsse, der Rest als Kredite vergeben werden. Auch wenn sich die „sparsamen vier“ (bzw. fünf, die Finnen eingerechnet) nun so gerieren, als hätten sie wie David einen Goliath, nämlich Deutschland und Frankreich bezwungen, so ist der Kern des Plans der Kommissionspräsidentin damit tatsächlich ein Stück der Realität nähergekommen. Denn die Begleichung der Schulden der EU soll nun in Zukunft auch durch Einnahmen der EU gedeckt werden. Das verschafft der EU (nicht den Stammeshäuptlingen und ihren „nationalen Interessen“) in Zukunft etwas mehr Gewicht. Ein kleiner Schritt, aber vielleicht mit mehr Wirkung, als das allen in diesem Moment bewusst war.

Das EU Parlament hingegen kritisiert den Kompromiss der EU-Staatschefs, weil er nicht weit genug geht, so berichtet heute die Süddeutsche Zeitung:
„In einer überfraktionellen Entschließung, die heute verabschiedet wurde, heißt es: “Das Europäische Parlament akzeptiert die politische Übereinkunft zum mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 in seiner derzeitigen Form nicht.” Zu oft verstießen “die exklusive Einhaltung nationaler Interessen und Positionen gegen das Erreichen gemeinsamer Lösungen im allgemeinen Interesse”. In dem von Christdemokraten, Grünen, Liberalen, Linken und Sozialdemokraten ausgehandelten Resolutionsentwurf schreiben die Abgeordneten, die Kürzungen im Finanzrahmen ständen den Zielen der EU entgegen. Insbesondere die Kürzungen bei Gesundheits- und Forschungsprogrammen halten sie gerade in Zeiten einer globalen Pandemie für gefährlich. In der Entschließung kritisieren die Parlamentarier besonders, dass Zukunftsthemen zu wenig gefördert würden. Sie fordern mehr Mittel etwa für Digital- und Werteprogrammen. Sassoli kritisierte zudem beispielsweise die geplanten Kürzungen für Forschung und das Förderprogramm Erasmus. “Wir können das Budget für Forschung und junge Menschen und Erasmus nicht kürzen, das können wir nicht.” Mit den Kürzungen bei Programmen, die kohleabhängigen Regionen den Übergang erleichtern sollen, werde gegen die Green-Deal-Agenda der EU verstoßen. Die Fraktionien verlangen einen konkreten Prozentsatz an klimabezogenen Ausgaben (30 Prozent des Budgets) und Ausgaben für Biodiversität (zehn Prozent). Zudem gefährdeten Kürzungen bei Asyl, Migration und Grenzmanagement “die Position der EU in einer zunehmend volatilen und unsicheren Welt”. Zudem müsse die Hälfte der Ausgaben im EU-Haushalt und im Wiederaufbaufonds Frauen zugutekommen.
In dem Resolutionsentwurf vermissen die Abgeordneten auch einen genaueren Plan zur Rückzahlung der EU-Schulden. Die einzige für das Parlament akzeptable Variante sei es, dass die Union neue Eigenmittel schafft. Unter diesen Begriff können beispielsweise EU-weite Steuern fallen. Dafür solle es einen verbindlichen Zeitplan geben. Auch beim Thema Rechtsstaatlichkeit äußern die Abgeordneten starkes Bedauern über das Gipfelergebnis. Die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Demokratie sei erheblich geschwächt worden. Sie fordern einen wirksamen Rechtsstaatsmechanismus mit umgekehrter qualifizierter Mehrheit im Europäischen Rat, sodass Strafen bei Verstößen leichter durchgesetzt werden können.
Der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold erklärte, die Staats- und Regierungschefs hätten “große Teile der Position des Europaparlaments zum EU-Haushalt ignoriert. Mit der geplanten Resolution bekommen sie dafür die Quittung.” Das Parlament nehme seine Verhandlungsposition ernst. “Kürzungen bei den Zukunftsprogrammen, zu wenig Klimaschutz und keine effektive Handhabe gegen Rechtsstaatsverstöße von Orban & Co würden Europa langfristig schwächen”, so Giegold.“

Die sparsamen Vier

Rückblick, 17.7.2020: EU-Gipfel in Brüssel. Heute kommen die europäischen Staatschefs zum ersten Mal seit der Corona-Krise wieder selbst in Brüssel zusammen. Erneut wird versucht einen Kompromiss über die Pläne der EU-Kommission für Wiederaufbauhilfen nach der Corona-Krise zu finden, dem auch die „frugalen vier“ wie Österreichs Kanzler Sebastian Kurz Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande neuerdings nennt, zustimmen können.

Ratspräsident Michel versucht es mit Lockangeboten. So soll sich der Rabatt für die Beitragszahlungen, die Österreich leisten muss, fast verdoppeln. Aber die Zockerei geht weiter. Fraglich ist nach wie vor, welchen Anteil an der Förderung rückzuzahlende Kredite haben sollen. Dabei weiß jeder, dass eine Erhöhung der individuellen Verschuldung von Staaten wie Italien, die Krise der gesamten EU nur vergrößern würde. Es weiß auch jeder, dass ein drohender Zusammenbruch von Volkswirtschaften der Größe von Spanien, Frankreich oder Italien, ja selbst ein weiterer tiefer wirtschaftlicher Einbruch am Ende auch kleinere Volkswirtschaften wie Österreich in einen gefährlichen Strudel ziehen würden. Aber dennoch kämpfen die frugalen vier mit allen Waffen. Die Niederlande treten nun als radikalste Bremser auf: sie verlangen, dass Zahlungen erst erfolgen, wenn die damit zu tätigen Investitionen schon erfolgt, kontrolliert und erfolgreich waren.  Wie das gehen soll, weiß niemand außer dem niederländischen Premier Mark Rütte.

Ob es hingegen ngelingen wird, die Vergabe der Förderungen an Verpflichtungen auf rechtsstaatliche Standards zu knüpfen, ist offen. Der Widerstand dagegen kommt, kaum anders zu erwarten, genau von denen, die ihre rechtsstaatlichen Standards in den letzten Jahren Zug um Zug über Bord geworfen haben: Ungarn und Polen.

Die wohl tatsächlich entscheidende Frage schläft im Hintergrund. Darf die EU endlich eigene, nennenswerte Einnahmen generieren, um die Wiederaufbauhilfen zu finanzieren? Digitalsteuern, Emissionsabgaben… Das wäre, unbemerkt von dem meisten Kommentatoren die eigentliche stille Revolution. Die EU würde damit zum ersten Mal einen Schritt aus der Geiselhaft nationaler, nein: nationalistischer Interessen tun.

Und natürlich geht es am Ende um die Höhe des Rabatts mit dem die „Sparsamen“ sich zu Hause als Hüter ihrer „nationalen Interessen“ feiern lassen wollen.

Simone Veil: Präsidentin eines Parlaments im Werden

Europäisches Tagebuch, 30.6.2021: Heute vor 5 Jahren starb Simone Veil, die erste Präsidentin des direkt gewählten Europäischen Parlamentes. Bis heute kämpft dieses Parlament darum, wirklich eines zu werden, das seinen Namen verdient: Die Repräsentanz eines Europäischen Souveräns. Davon sind wir immer noch weit entfernt. Simone Veil 1979 Präsidentin dieses Traums wurde, hat als 18jährige das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt. Damals hieß sie noch Simone Jacob.

1944 war ihre Familie von der Gestapo verhaftet worden. Ihr Vater und ihr Bruder wurden nach Litauen deportiert und ermordet. Sie selbst wurde im Sommer 1944 gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Auschwitz und im Januar 1945 auf einem Todesmarsch nach Bergen-Belsen verschleppt. Dort starb ihre Mutter im März an Typhus, bevor das Lager im April von der britischen Armee befreit wurde.
1946 heiratete Simone Jacob, inzwischen Jurastudentin am Institut d’études politiques de Paris (Science Po) den ein Jahr älteren Studenten Antoine Veil aus Blamont, einen Nachkommen der zweihundert Jahre zuvor von Hohenems ins französische Blamont ausgewanderten Wilhelmine Löwenberg, deren so ausgesucht höfliche und in Hebräisch-deutscher Schönschrift verfassten Briefe an die Eltern heute eine Vitrine im Jüdischen Museum zieren.

Simone Veil wurde zunächst Richterin, dann Beamtin im Justizvollzug, um schließlich als Politikerin vor allem für die Rechte von Frauen einzutreten. Als Gesundheitsministerin ab 1974 sorgte sie für einen erleichterten Zugang zu Verhütungsmitteln. 1975 erreichte sie die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Das von ihr nach hartem Kampf durchgefochtene Gesetz zur Fristenregelung ist bis heute als Loi-Veil (Veil Gesetz) bekannt.
Als 1979 die Bürgerinnen und Bürger Europas zum ersten Mal direkt ihr Parlament wählen durften, kandidierte sie an der Spitze der UDF, der französischen Liberalen und wurde vom Parlament zur ersten Präsidentin gewählt. Bis 1993 gehörte sie dem EU-Parlament an, zuletzt war sie 1989 als Spitzenkandidatin der Liste Le Centre pour l’Europe eingezogen, nach dem die französischen Liberalen und Gaullisten in ihren Augen nicht entschieden genug für die europäische Integration eingetreten waren.
1998 sollte sie Mitglied des französischen Verfassungsgerichtes werden. Viele Jahre engagierte sie sich auch für die Erinnerung an die Shoah in Frankreich. 2008 wurde sie schließlich auch in die Académie Francaise gewählt.
Ein Jahr nach ihrem Tod 2017 wurde Simone Veil in einem Staatsakt ins Pariser Panthéon überführt und von Staatspräsident Macron mit folgenden Worten vor allem als Französin gefeiert: „Mit Simone Veil treten hier Generationen von Frauen ein, die Frankreich geschaffen haben. Möge ihnen allen heute durch sie Gerechtigkeit widerfahren.“ 15 Millionen Zwei-Euro-Münzen mit ihrem Konterfei und ihrer Häftlingsnummer aus Auschwitz wurden zu diesem Anlass geprägt und in Umlauf gebracht.

Europaplätze

Europaplätze gibt es in vielen Städten. Sie verkörpern Verbindungen und politische Bekenntnisse zu Europa. Mal mehr mal minder mit Leben erfüllt. Wir haben – gemeinsam mit dem Schweizer Künstler Yves Metzler – in Hohenems Menschen nach Plätzen gefragt, die sie mit Europa verbinden. Ein Projekt in Kooperation mit dem Europe Direct Vorarlberg und der Stadt Hohenems.

Der “Un-Platz” in Hohenems. Ausgewählt vom Visionscafe.

Yves Mettler (*1976, Morges/CH) erforscht in seinem Langzeitprojekt Europaplätze innerhalb und außerhalb Europas. Plätze an denen Europa gebaut und neu erfunden wird, improvisiert und häufig genug vergessen.
Anknüpfend an unsere aktuelle Ausstellung Die Letzten Europäer im Jüdischen Museum Hohenems konfrontierte er zwölf Projektgruppen aus Hohenems mit der Frage nach möglichen Europaplätzen in der Stadt, vom Gesangsverein Nibelungenhort bis zum Sprachcafe für Flüchtlinge, von der Wirtschaftsgemeinschaft bis zu den Jugendlichen des Jugendzentrums, von den Lehrlingen und Mitarbeitern der Fa. Collini bis zum “Kulturkreis”, von den städtischen Angestellten bis zur Bürgerinitiative “Visionscafe”. Ihre jeweilige Platz-Wahl und ihre unterschiedlichsten Erzählungen darüber machten die Gruppen gemeinsam mit Yves Mettler am Samstag, den 12. Juni, durch die Aufstellung von zwölf umgestalteten Baustellenzeichen im Stadtraum sichtbar. In den Farben und Sprachen Europas markieren sie nun bis Oktober die temporären Europaplätze in Hohenems.

Zu den 12 Plätzen und Geschichten gehts hier lang:

Die Europaplätze in Hohenems

Louise Weiss: Die Alterspräsidentin

Europäisches Tagebuch, 26.5.2021: Nach ihr ist heute das Hauptgebäude des europäischen Parlamentes in Straßburg benannt. Heute vor 38 Jahren starb Louise Weiss in Paris.
Geboren wurde sie 1893 in Arras, ihre Eltern – die Mutter jüdisch, der Vater protestantisch – stammten aus dem Elsass. Schon während des ersten Weltkriegs, der zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich nicht zuletzt symbolisch um Elsass-Lothringen gefochten wurde, begann Louise Weiss – als Kriegskrankenschwester arbeitend – unter Pseudonym zu schreiben. Es sollten noch viele Romane, Theaterstücke und politische Schriften folgen, zum Beispiel über die neugegründete Tschechoslowakei, der Weiss auch in privaten Beziehungen besonders zugetan war. Bekannt wurde sie aber auch durch Dokumentarfilme und literarische Berichte von ihren Reisen, die sie nach Japan, China, Indien und Vietnam, nach Kenia und Madagaskar, Alaska und in den Nahen Osten unternahm. Ihre Kunst- und ethnografische Sammlung befindet sich heute im Chateau de Rohan im elsässischen Saverne.
1918 schon gründete sie, gerade einmal 25jährig, die Zeitschrift L’Europe Nouvelle, in der sie für französisch-deutsche Verständigung und die Vereinigung Europas warb. Zu den Autoren gehörten Thomas Mann, Aristide Briand, Gustav Stresemann oder Rudolf Breitscheid. 1930 gründete sie die École de la Paix, ein privates Institut für internationale Beziehungen – dessen Träume 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland vorerst ausgeträumt waren. 1934 konzentrierte sich Louise Weiss deshalb auf eine andere gesellschaftliche Auseinandersetzung, den Kampf um das Frauenwahlrecht. Gemeinsam mit Cécile Brunsvig gründete sie die Vereinigung La femme nouvelle, ihre Kampagnen sorgten für öffentliches Aufsehen, nicht nur, als sie sich mit anderen Sufragetten in Paris an eine Laterne anketteten. Ihre Klage vor dem französischen Staatsrat, dem Conseil d’Etat blieb erfolglos. Es sollte noch zehn Jahre dauern, bis in Frankreich das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Zu dieser Zeit war Louise Weiss in der Resistance gegen die nationalsozialistischen Besatzer und das französische Vichy Regime aktiv. 1945 begründete sie mit Gaston Bouthoul ein Institut für Kriegs- und Konfliktforschung in London. Eine Aufnahme in die Académie Francaise wurde ihr noch 1975 verweigert. Erst 1980 wurde mit Marguerite Yourcenar die erste Frau in diesen bislang Männern vorbehaltenen elitären Zirkel zugelassen.

1979 wurde Louise Weiss bei der ersten Direktwahl des Europaparlaments für die Gaullisten zur französischen Abgeordneten gewählt. Und sie war bis zu ihrem Tod 1983 dessen erste Alterspräsidentin. In den vielen Erinnerungen an die „Gründerväter“ Europas kommt sie seltsamer Weise nicht vor. Aber sie war ja auch kein „Vater“.

Rückblick, 26.5.2020: 20% der Briten glauben, die Juden haben Corona erschaffen, um der britischen Wirtschaft zu schaden und daraus finanzielle Vorteile zu ziehen. Genauer: „Demnach stimmten 5,3 Prozent der Befragten «ein wenig» überein, 6,8 Prozent sagten, sie würden «moderat übereinstimmen», 4,6 Prozent waren weitgehend einverstanden und 2,4 Prozent waren «vollkommen einverstanden» mir der Behauptung, Juden hätten den Virus geschaffen, um die Wirtschaft aus Gründen des finanziellen Profits zum Zusammenbruch zu führen. Rund 80,8 Prozent stimmten überhaupt nicht überein mit dieser Aussage. 40 Prozent glauben, dass der Virus von mächtigen Kreisen vorsätzlich in Umlauf gebracht worden sei, um die Kontrolle auszuüben. 20 Prozent sind zumindest irgendwie der Ansicht, der ganze Virus sei ein schlechter Witz.“ (Quelle: tachles)

 

Unsere Europakarte – neue Kommentare unserer Besucher:innen

Europäisches Tagebuch, 20.5.2021: Unsere Europakarte ist inzwischen voller kontroverser Besucherkommentare zur Zukunft Europas: Bald werden wir Platz machen müssen für neue.

Rückblick, 20.5.2020: Deutschland und Frankreich trauen sich, den europäisch-gordischen Knoten zu durchschlagen und endlich über konkrete, gemeinsame europäische Wiederaufbauhilfe zu sprechen. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz will gemeinsam mit den Niederlanden, Schweden und Dänemark einen „alternativen Plan“ vorlegen.

Die von der österreichischen Regierung versprochenen Hilfen für die Wirtschaft dauern zu lange? Was fällt der Wirtschaftsministerin dazu ein? Natürlich, die EU ist schuld, ihre vielen Vorschriften. In Wirklichkeit sind die Ministerien und die Wirtschaftskammer angesichts der schieren Zahl von Anträgen und den eigenen, teils widersprüchlichen neuen Vorschriften und Erlassen heillos überfordert.

Innenminister Nehammer bietet „Wien Hilfe an“. Die Polizei solle das Contact-Tracing in Wien und die Kontrolle von Quarantänemaßnahmen „unterstützen“. Aus dem Gesundheitsministerium wird zur gleichen Zeit abgewunken. Die Kooperation mit der Bundeshauptstadt funktioniere hervorragend. Man werde ständig hervorragend informiert. Die neu aufgetretenen Coronainfektionen in Postverteilzentren in Wien und Niederösterreich, sowie in einer Asylunterkunft in Wien nutzt die ÖVP hingegen zum Wahlkampfauftakt. Dabei sind die Zahlen in Wien im Vergleich zu manchen anderen österreichischen Bundesländern, erst recht aber zu anderen europäischen Metropolen nach wie vor eher niedrig. Die neuen Fallzahlen beruhen hingegen auf langsam besser funktionierendem Contact-Tracing und entsprechenden Testungen.

Hilde Meisel – Hilda Olday – Hilda Monte: The Unity of Europe

Europäisches Tagebuch, 17.4.2021: Heute vor 76 Jahren wurde Hilda Monte in der Nähe des Grenzübergangs Tisis, zwischen Feldkirch und Liechtenstein von einem Grenzbeamten erschossen.
Unter dem Namen Hilde Meisel wurde sie am 31. Juli 1914 in Wien geboren. 1915 zog ihre Familie nach Berlin, wo ihr Vater ein Import-Export Geschäft führte. Schon als Jugendliche schloss sie sich dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) an, der 1926 vom Philosophen Leonard Nelson gegründet wurde. 1929 besuchte sie zum ersten Mal England, 1932 ging sie für kurze Zeit nach Paris. Regelmäßig veröffentlichte sie in der ISK-Zeitschrift Der Funke Analysen der politischen und wirtschaftlichen Situation in England, Frankreich und Deutschland, Spanien und den Kolonien.
Die Jahre 1933 und 1934 erlebte sie wieder im Deutschen Reich, bevor sie 1934 nach Paris und 1936 nach London emigrierte. Mehrere Male reiste sie auch danach illegal ins Deutsche Reich und half dabei, Aktionen des Arbeiterwiderstands zu organisieren. 1938 ging sie, um ihre Ausweisung aus England zu verhindern, eine Scheinehe mit dem deutsch-britischen Karikaturisten John Olday ein und wurde dadurch britische Staatsbürgerin.

Auch während des Krieges blieb sie im Widerstand aktiv, sei es als Kurierin der Internationalen Transportarbeiter-Föderation oder im Auftrag alliierter Geheimdienste. 1940 erschien ihr gemeinsam mit Fritz Eberhard verfasstes Buch How to conquer Hitler. Sie war am Aufbau des Radiosenders „Europäische Revolution“ beteiligt und arbeitete für die deutschen Arbeiter-Sendungen der BBC. 1942 berichtete sie im Radio auch über die begonnene Massenvernichtung der Juden im besetzten Polen. Daneben schrieb sie Gedichte – und arbeitete an ihrem Roman Where Freedom Perished, der erst 1947 erscheinen sollte.

1943 erschien in London ihr Buch The Unity of Europe, in dem sie eine Vision für ein vereintes sozialistisches Europa mit gemeinsamen Institutionen, als politisch unabhängige revolutionäre Kraft zwischen den USA und der Sowjetunion entwickelte.  1944 ließ sie sich zusammen mit Anna Beyer, einer ISK-Kameradin, im Auftrag des britischen und amerikanischen Geheimdienstes und österreichischer Sozialisten im besetzten Frankreich mit dem Fallschirm abwerfen, um Kontakte zur Resistance zu knüpfen. Bald darauf holten René und Hanna Bertholet sie in die Schweiz, ins Tessin und nach Zürich, wo sie mit sozialistischen Emigranten gemeinsam Pläne für die Zeit nach der Befreiung entwarfen – und Hilda Monte davon träumte in China Genossenschaften aufzubauen und alternative Wirtschaftsformen zu studieren, während sie in Mußestunden Tonskulpturen anfertigte.

Im April 1945 meldete sie sich erneut für einen heiklen Auftrag. Von Zürich aus ging sie illegal über die Grenze, um Kontakt mit Sozialisten in Vorarlberg herzustellen, mit einem Fragebogen im Kopf, der das Verhältnis verschiedener Widerstandsgruppen zu einander und die politischen Perspektiven in Vorarlberg nach der Befreiung ausloten sollte. Vermutlich sollte sie auch die Möglichkeiten ausloten, sozialistische Emigranten ins Reich zu schleusen, um den politischen Neuanfang nach der Befreiung vorzubereiten.
Auf dem Rückweg von Feldkirch nach Liechtenstein wurde sie am 17. April 1945 in der Nacht an der Grenze von einer Grenzwache aufgegriffen und im Zollamt Tisis festgehalten. Beim Versuch, in den Morgenstunden zu fliehen, wurde sie angeschossen und verblutete an Ort und Stelle.
Ihre gefälschten Papiere wiesen sie als Eva Schneider aus Berlin aus: „Kontoristin im Propagandaministerium“. Sie wurde als „vermutlich protestantisch“ auf dem evangelischen Friedhof von Feldkirch beigesetzt. Österreichische Sozialisten setzten auf ihr Grab den Stein mit der Inschrift: „Hier ruht unsere unvergessliche Genossin Hilde Monte-Olday. Geb. 31.7. 1914 in Wien. Gest. 17.4.1945 in Feldkirch. Sie lebte und starb im Dienste der sozialistischen Idee“.
Viele ihrer Genossinnen und Genossen wurden prominente Mitglieder der SPD, wie Susanne Miller und Willi Eichler, der große Teile des Godesberger Programms schrieb, Gründerinnen und Gründer politischer und philosophischer Akademien oder, wie Hanna und René Bertholet, der Europäischen Verlagsanstalt in Hamburg. All dies hat Hilda Monte, geboren am Beginn des ersten Weltkriegs, getötet in den letzten Kriegstagen des zweiten, nicht mehr erlebt.
Heute haben Vertreter der ev. Kirche Feldkirch, des Jüdischen Museums Hohenems und der Sozialdemokratischen Partei Österreichs gemeinsam eine Gedenktafel an ihrem frisch restaurierten Grab enthüllt.

Grab von Hilda Monte

Fauler Fisch und brennende Busse

Europäisches Tagebuch, 8.4.2021: In seiner Weihnachtsansprache hat der englische Premier Boris Johnson seinen englischen Landsleuten Fisch versprochen, viel Fisch. Natürlich auch Truthahn, Pudding, Rosenkohl und Brandybutter. Was auch immer zu Weihnachten auf die englische Tafel kommen mag. Aber was bleibt, ist nun wohl wirklich: viel Fisch. Auf dem die Briten nun zum Teil sitzen bleiben.

Schon der Scheidungsvertrag mit der EU hatte die britischen Fischer enttäuscht. Deren Empörung über die europäischen Fischerboote in „ihren“ Gewässern hatte den EU-Austritt Großbritanniens ganz wesentlich befeuert. Und nun sollen sie noch weiterhin die europäischen Invasoren, allen voran belgische, irische, dänische und niederländische Fischer, in ihren Jagdgründen dulden? Immerhin gehörte zum „Deal“ in letzter Minute, dass deren Fangquoten zwar gesenkt aber durchaus nicht abgeschafft würden. „Johnson hat uns die Rechte an allen Fischen versprochen, die in unserer exklusiven Wirtschaftszone schwimmen“, so klagte der Chef des nationalen Verbunds der Fischereiorganisationen (NFFO), Andrew Locker, noch zu Weihnachten sein Leid dem Sender BBC Radio 4. „Aber wir haben nur einen Bruchteil davon erhalten.“

Inzwischen dämmert den britischen Fischern freilich die Erkenntnis, dass ihr Problem nun ein ganz anderes ist: wohin mit „ihrem“ Fisch?

Denn so sehr die Briten vielleicht auch Fish and chips selber mögen, leben tun die britischen Fischer vom europäischen Markt. Und den Zugang zu diesem Markt haben sie sich selber nun deutlich erschwert. Bei einem fragilen Gut wie Fisch kann das fatale Folgen haben, denn der muss schnell aus dem Netz in den Handel. Und genau daran hapert es seit Januar. Ganze Schiffsladungen sind in britischen Häfen verrottet. Die Lieferketten mussten neu organisiert werden, der komplizierte Weg durch den Zoll funktioniert zwar inzwischen leidlich. Aber all das kostet Geld und treibt die Preise in die Höhe – und das ist schlecht für den Absatz des symbolisch kostbarsten, was Großbritannien offenbar zu exportieren in der Lage ist: Fisch. Der droht nun das zu werden, was er politisch immer schon war, ein fauler Fisch.

Dass dies für die britischen Fischer eine Überraschung ist, mag nur denjenigen verwundern, der davon ausgeht, dass Menschen wirklich immer im Sinne ihrer Interessen handeln.

Noch weniger überraschend allerdings beginnt nun auch in Nordirland die Saat des Brexit aufzugehen. Krawalle, Straßenschlachten, verletzte Polizisten, brennende Busse. All das hat lange den Alltag im Norden der irischen Insel geprägt, bis „einst“ (so ist man schon versucht zu sagen) 1998 mit dem Karfreitagsabkommen ein Meilenstein im Friedensprozess zwischen Katholiken und Protestanten erreicht wurde. Schließlich waren Großbritannien und Irland beide in der EU und die Grenzen konnten geöffnet werden, zwischen den Ländern, aber „step by step“ auch innerhalb der gespaltenen nordirischen Gesellschaft. 16.200 Bombenanschläge, 37.000 Fälle von Schusswaffengebrauch, 22.000 Überfälle und 2.200 Brandanschläge waren in den Jahrzehnten des Konflikts von beiden Seiten ausgegangen. 3.600 Menschen starben, 47.000 wurden verletzt.

Nun haben protestantische Gewalttäter pünktlich zu Ostern wieder damit begonnen britische Polizisten zu attackieren und marodierend durch die Straßen zu ziehen, am Brennpunkt der „Grenze“ zwischen protestantischen und katholischen Stadtvierteln. Unter dem Vorwand, gegen die „Zollgrenze“ zwischen Nordirland und Großbritannien zu protestieren. Mit dem Ziel freilich, die alten Grenzen auf der Insel wieder herzustellen. Fortsetzung folgt.

Rückblick, 7.4.2020: In den USA sterben täglich ungefähr 2000 Menschen. US-Präsident Trump macht die WHO für die Corona-Krise verantwortlich und droht damit, die Zahlungen der USA an die WHO einzustellen.
Die EU schickt ein Team aus rumänischen und norwegischen Ärzten und Pflegern nach Mailand und Bergamo. Österreich beteiligt sich mit 3000 Litern Desinfektionsmitteln an dieser Aktion. Deutschland nimmt Patienten aus dem Elsass auf.

Telefonkonferenzen

Europäisches Tagebuch, Rückblick 10.3.2020: In Italien wurden gestern 10.000 bestätigte Corona Infizierte und über 400 Tote gezählt. Ministerpräsident Conte hat die schon verhängten Beschränkungen in Norditalien nun ausgeweitet und das gesamte Land zur Schutzzone erklärt, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen: „Unsere Gewohnheiten müssen sich ändern, wir müssen alle etwas Aufgeben zum Wohl Italiens.“ Schulen, Universitäten, Kindergärten werden geschlossen, Veranstaltungen werden verboten.

Gestern hat an einer Telefonkonferenz mehrerer EU-Premiers, darunter Italiens Ministerpräsident Conte und Österreichs Bundeskanzler Kurz, auch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu teilgenommen. Angeblich hat Netanjahu die Europäer dazu ermahnt, Corona ernst zu nehmen. Dem italienischen Ministerpräsidenten musste er das freilich nicht lange erklären. Aber auf Italien wollen die anderen EU-Länder nur ungern hören.

Heute folgte eine Videokonferenz der EU-Regierungschefs. Es wurde vereinbart keine nationalen Alleingänge zu unternehmen, sondern Maßnahmen miteinander abzustimmen.

Lieferketten

Europäisches Tagebuch, 3.3.2021: Österreichs Bundeskanzler Kurz sagt, er wolle sich nicht länger von der EU abhängig machen und sich zusammen mit Dänemark und Israel um eine eigene Produktion von Impfstoffen kümmern. Der Wissenschaftsredakteur des ORF, Günter Mayer, kommentiert diesen Vorstoß trocken mit den Worten, hier ginge „es nicht um eine Apfelquetsche“. Eine solche komplexe Produktion ließe sich nicht per Dekret in kurzer Zeit hochfahren, und hier hätte es Österreich mit Pharmakonzernen zu tun, deren Umsätze höher seien, als der Österreichische Staatshaushalt. Um das nicht weiter schmerzhaft auszuwalzen: die großartigen Ankündigungen des Bundeskanzlers sind offenkundig heiße Luft, die von anderen Problemen ablenken soll. Z.B. von folgendem: Am gleichen Tag wurde bekannt, dass in einem österreichischen Vorzeigebetrieb, dem Unternehmen „Hygiene Austria“, das Mund-Nasen-Schutzmasken herstellt, eine Hausdurchsuchung stattgefunden hat. Es ist dies der Betrieb, zu dem Sebastian Kurz im Mai 2020 stolz getwittert hat: „Die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir uns bei der Produktion von wichtiger Schutzausrüstung nicht zur Gänze auf internationale Lieferketten verlassen dürfen“.

Die Hausdurchsuchung erfolgte aufgrund des Verdachts, dass aus China gelieferte Masken in Österreich durch in Schwarzarbeit ohne Sozialversicherungsbeiträge beschäftigte Arbeitskräfte um-etikettiert und zu einem höheren Preis als chinesische Masken verkauft worden sein. ‚Hygiene Austria‘ hat dies entschieden zurückgewiesen und natürlich gilt die Unschuldsvermutung. Pikantermaßen gibt es ein Naheverhältnis der Firma zu einer engen Mitarbeiterin des Kanzlers, wie schon am 4. August 2020 die Rechercheplattform Addendum berichtete: der Mann von Sebastian Kurz‘ Büroleiterin ist zu 25% an einer der beiden Firmen beteiligt denen „Hygiene Austria“ gehört, und die nun mit staatlichen Großaufträgen für Österreichs Masken-Autarkie sorgen soll. Und Geschäftsführer von “Hygiene Austria” ist deren Schwager. (https://www.addendum.org/coronavirus/vertragsdetails-geheim/)

An der gepriesenen Autarkie scheint es zu hapern. Aber als Parole zur nationalen Erweckung – und zur Ablenkung von den sich langsam akkumulierenden Ermittlungen und Hausdurchsuchungen im engeren politischen Vertrautenkreis des Kanzlers – taugen wohl auch um-etikettierte chinesische Masken. Oder vielleicht in Zukunft auch um-etikettierte Impfstoffe? Immerhin, die Chinesen haben ihren Impfstoff ja vorsorglich nach einem österreichischen Kanzler benannt: “Sinovac”.

Die Zahlen der Corona-Toten wächst weiter. In den USA sind längst mehr als 500.000 Menschen an der Pandemie verstorben. Neue Meldungen über Unregelmäßigkeiten der Bekanntgabe von Toten in Heimen, wie sie gerade den bisher so heldenhaften Ruf des demokratischen Gouverneurs des Staates New York, Mario Cuomo, erschüttern, lassen eine unbekannte Dunkelziffer von Toten erahnen. Die es auch in anderen Bundesstaaten geben dürfte. Besonders hoch scheinen diese Dunkelziffern in Russland und Mexiko zu sein, wenn die Übersterblichkeit als Faktor mit in Betracht gezogen wird. Selbst die russische Regierung traut den offiziellen Zahlen nicht. Danach seien bis Ende 2020 erst 57.000 Menschen in Russland an Covid-19 verstorben und bis Mitte Februar etwa 81.000. Die Übersterblichkeit in Russland im Jahr 2020 forderte hingegen 323.000 Menschenleben. Kurz vor dem Jahreswechsel erklärte sogar Russlands Vizepremierministerin Tatjana Golikowa, die Übersterblichkeit sei zu 81 Prozent auf Covid-19 zurückzuführen. Das entspräche knapp 261.000 an Covid-19 Verstorbenen bis Ende 2020. Andere Berechnungen gehen von mehr weit mehr als 300.000 Toten aus.
Russland, das stolz darauf ist, mit „Sputnik V“ den ersten Impfstoff zum Einsatz gebracht zu haben, nutzt das offenbar tatsächlich hochwirksame Vakzin indessen vor allem als Exportschlager, so nach Mexiko und Serbien, Paraguay oder Ägypten – während die Impfung der eigenen Bevölkerung hintansteht. Das führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass Sputnik V möglicherweise dazu beitragen wird, Covid-19 in ärmeren Ländern zu bekämpfen. Jedenfalls, wenn es gelingt die geplante Produktion in Brasilien und Indien hochzufahren. In Russland selbst, vor allem jenseits der Metropole Moskau, ist offenbar weiterhin vor allem Herdenimmunität durch Infektion das verbreitetste Rezept für den Erwerb von Antikörpern.

Nachtrag am 9. März 2021: Inzwischen haben sich die Vorwürfe gegen “Hygiene Austria” und die beiden Mutterkonzerne Lenzing und Palmers erhärtet. Während “Hygiene Austria”-Geschäftsführer Tino Wieser immer noch davon spricht, wie “stolz” er sei, 200 Arbeitsplätze in Österreich geschaffen zu haben, ist bekannt geworden, dass diese vor allem in Scheinfirmen bestehen. Scheinfirmen, die entweder Arbeitskräfte offiziell “geringfügig” beschäftigen, tatsächlich aber schwarz in Vollzeit arbeiten lassen, oder die sich der Sozialversicherungsbeiträge durch rechtzeitig herbeigeführtem Konkurs entledigen. Auch Zuschüsse für nicht erfolgte Kurzarbeit seien eingestrichen worden. Auch der Verdacht, dass die “heimische” Produktion zum Teil in China stattfand, die Masken dann von Schwarzarbeitern aber in “Hygiene Austria”-Kartons umgepackt worden sind, scheinen sich nun zu bestätigen.

Rückblick, Anfang März, 2020: Die EU kofinanziert die Lieferung von 25 Tonnen Schutzausrüstung für China. Die Europäische Kommission mahnt die nationalen Regierungen in Europa, ihren Bedarf an Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräten zu melden. Es wird aber noch Wochen dauern, bis die ersten Anforderungen durchgegeben werden.
Erste Fälle von Covid-19 werden in Großbritannien gemeldet. Dominic Cummings, Berater des britischen Premiers Boris Johnson fasst die Strategie der britischen Regierung folgendermaßen zusammen: „herd immunity, protect the economy and if that means some pensioners die, too bad“. Downing Street No. 10 dementiert.

Auch Donald Trump hat sich wieder zu Covid-19 geäußert: „Es ist eine Grippe, wie eine Grippe.“

Viele Antworten auf viele europäische Fragen – und manche neue Frage

Europäisches Tagebuch, 17.2.2021: Seit einer Woche ist das Jüdische Museum Hohenems wieder geöffnet. Zeit dafür zu dokumentieren, welche Spuren und Kommentare unsere Besucher*innen bisher in unserer Ausstellung Die letzten Europäer hinterlassen haben. Dafür haben wir auf zwei großen Landkarten unter den Fragen: “Welche Staaten sollten in Zukunft zur Europäischen Union gehören?” und “Was ist für Dich/Sie Europa?” Platz geschaffen.
Hier ist der Ort für ihre Antworten und Reaktionen auf viele europäische Fragen und natürlich auch für neue Fragen. Jetzt sind die Landkarten voll und wir machen nun Platz für neue Antworten und Fragen – und das Spiel beginnt von vorne.

Hier einige Blicke auf die von Besucher*innen bearbeiteten Landkarten in unserer Ausstellung: “Die letzten Europäer”.

„full of fish, by the way“

Europäisches Tagebuch, 31.12.2020: Nun ist er also vollzogen, der Brexit. 1200 Seiten „Deal“, ein paar hundert Seiten davon hat Boris Johnson schon zu Weihnachten bei seiner dreieinhalb Minuten langen Weihnachtsansprache auf Twitter in die Kamera gehalten und seinen Landsleuten versprochen, dass viel Fisch darin enthalten sei. Seine launige Ansprache über Hoffnung, Truthahn, Pudding, Rosenkohl und Brandybutter wird in die Geschichte eingehen. Als was, wird dieselbe noch erweisen. Literarisch jedenfalls als Parodie.
Gute Stimmung hat sie auf der Insel verbreitet. Den Europäischen Freunden auf dem Festland, die am Weihnachtsabend die Verhandlungen für abgeschlossen erklärten, war die gute Laune etwas weniger glaubhaft abzunehmen. Da ist kein Triumph im Spiel, allenfalls die Erleichterung, eine überflüssige Quälerei sei nun endlich an ihrem wenigstens halbwegs erträglichen Ende angekommen. Heute morgen durfte der britische Botschafter in Wien im Radio ebenfalls einen Versuch unternehmen, gute Laune zu stiften. Das fiel ihm deutlich schwerer, als seinem Premierminister. Mit dem Erasmus-Programm, dass hunderttausende von jungen Menschen vom Festland und von den Inseln einander näher gebracht hat, ist jedenfalls Schluss. Das konnte auch Leigh Turner nicht in Brandybutter verwandeln.

Auf die Frage, ob der Brexit-Vertrag und damit der Ausstieg Großbritanniens aus der EU denn auch irgendwelche Vorteile bringen würde, fiel ihm lediglich ein, stolz zu betonen, dass das nun geschlossene Handelsabkommen besser sei … als ein No-Deal Brexit. Darauf allerdings wären wir auch gekommen.

Was bleibt ist: Fisch. Die Fangquoten der europäischen Fischer in britischen Gewässern sollen nun im Laufe der nächsten Jahre um 25% gesenkt werden. Das wird die EU nicht ruinieren. Und den britischen Fischern auch nicht viel helfen. Wenn sie irgendwann einmal aus ihrem Rausch aufwachen. Für das Geld, das der Brexit gekostet hat – und noch kosten wird, z.B. um Zollkontrollen durchzuführen, für Zölle, die nicht erhoben werden sollen – hätte man den britischen Fischern wohl besser helfen können. Aber der Traum, Großbritannien wieder zu alter Größe einer globalen Führungsmacht zurückzuführen, war stärker. Ein Traum der freilich zerrissen ist zwischen zwei Ansprüchen, der Vorstellung davon selbst als Zentrum des Commonwealth ein übernationales Imperium darzustellen, und dem alten kolonialen Gefühl, eine überlegene Kultur zu repräsentieren.
Doch “the proof of the pudding comes with the eating”. Ob von diesen Träumen außer mehr Fisch von britischen Fischern viel übrig bleiben wird, wird die Zukunft weisen. Denn kaufen sollen diesen Fisch: die Europäer auf dem Festland.