Hans Kelsen: Von der Eleganz (und den Prinzipien) der Verfassung

Europäisches Tagebuch, 19. April 2023: heute vor 47 Jahren starb der Demokratietheoretiker und Verfassungsjurist Hans Kelsen in Kalifornien.

von Hanno Loewy

Hans Kelsen, der am 11. Oktober 1881 in Prag geboren wurde, war nicht, wie so oft behauptet, der alleinige „Autor“ der österreichischen Verfassung, jener Verfassung deren „Eleganz“ in letzter Zeit so oft bemüht worden ist. Aber der aus jüdischer Familie stammende Jurist hatte tatsächlich entscheidenden Einfluss auf ihren Text.
Kelsen studierte in Wien, und konvertierte 1905 erst zum katholischen Glauben, dann 1912 zum Protestantismus. Mit seinem Hauptwerk, der Reinen Rechtslehre, gehört er zu den Begründern des Rechtspositivismus, die sich von der sogenannten Naturrechtslehre abzusetzen versuchte. Ein Streit der Laien kaum verständlich war. Schließlich ging auch Kelsen von einer – jenseits der positiven Rechtssetzungen vorhandenen – „Grundnorm“ aus, die er zunächst als „Hypothese“, dann als „Fiktion“ bezeichnete. Und die ihn gleichwohl zum erklärten Anhänger von unveräußerlichen Menschenrechten machte.

1917 wurde Kelsen Professor in Wien. Zu seinen Schülern gehörte unter anderem Hersch Lauterpacht, der sich allerdings vom Rechtspositivismus abwenden und als Anhänger der Naturrechtslehre zu einem der maßgeblichen Völkerrechtsexperten des 20. Jahrhunderts werden sollte.
Kelsen vertrat schon nach dem 1. Weltkrieg in seinen Arbeiten zum Verfassungsrecht eine Demokratietheorie, die auf dem Respekt und dem Schutz von Minderheitenrechten basierte: „Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daß sie eine Opposition — die Minorität — ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und in den Grund- und Freiheitsrechten, im Prinzipe der Proportionalität schützt.“ Legendär ist sein Streit mit Carl Schmitt über die Frage ob der Macht des Souveräns oder dem Recht und dem Schutz von Minderheiten der Vorrang in einer demokratischen Gesellschaft gebührt.
Nach seiner entscheidenden Mitwirkung am Bundes-Verfassungsgesetz, dessen 100. Geburtstag in Österreich 2020 gefeiert wurde, blieb Kelsen Verfassungsrichter der jungen Republik. Und geriet bald ins Visier der nun folgenden konservativen Regierungen.
Um die Aufführung von Arthur Schnitzlers Theaterstück „Der Reigen“ sollte es im Februar 1921 in Wien zu einer antisemitisch aufgeladenen Kampagne kommen. Wiens sozialdemokratischer Bürgermeister Reumann weigerte sich das Stück, wie von der christlichsozialen Regierung gefordert, zu verbieten. Auch der Verfassungsgerichtshof entschied unter Kelsen gegen ein Verbot, was wiederum wütende Drohungen gegen Kelsen provozierte.
1929 schließlich kam es erneut zum Konflikt, der Kelsens Laufbahn in Österreich beendete. Das Verfassungsgericht hatte die bis dahin im katholischen Österreich verbotene Ehescheidung ermöglicht, indem sie die vom sozialdemokratischen Landeshauptmann Niederösterreichs eingeführte staatliche „Dispens-Ehe“ als rechtens anerkannte. Die christlichsoziale Bundesregierung setzte daraufhin das gesamt Verfassungsreicht per Gesetz ab und ernannte neue Richter.
Kelsen nahm Konrad Adenauers Angebot an, als Professor nach Köln zu wechseln. Doch schon 1933 machte die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland seinem Wirken in Deutschland ein Ende. Als einziger seiner Kölner Fachkollegen beteiligte sich Carl Schmitt nicht an einer Petition zu seinen Gunsten.

Kelsen ging nach Genf, und 1936 nach Prag, wo seine Berufung einen Sturm völkisch-antisemitischer Studenten auslöste. 1940 emigrierte er in die USA, und ließ sich in Kalifornien nieder. 1945 ehrte ihn die Österreichische Akademie der Wissenschaften, doch eine Einladung, nach Österreich zurückzukehren ist nie erfolgt. An die Eleganz „seiner“ Verfassung wird gerne erinnert. Doch an den mühsamen Kampf um Minderheitenrechte weniger. Kelsen starb am 19. April 1976 in Orinda, Kalifornien.

Hans Kelsen: Büste am Sitz des Wiener Verfassungsgerichtshof

 

René Samuel Cassin und die Menschenrechte

Europäisches Tagebuch, 20. Februar 2023: Heute vor 47 Jahren starb der Jurist und Völkerrechtler René Cassin.

von Hanno Loewy

1968 wurde René Samuel Cassin für seine Verdienste um die Menschenrechte der Friedensnobelpreis verliehen.
Geboren wurde er am 5. Oktober 1887 in Bayonne. Sein Vater Azarie Henri Cassin entstammte einer sefardischen, portugiesisch-marranischen Familie und war als Weinhändler in Nizza tätig. Seine Mutter Gabrielle Dreyfus stammte hingegen aus einer elsässisch-jüdischen Familie.
Cassin zog als promovierter Jurist in den 1. Weltkrieg und kehrte schon im Oktober 1914 schwer verwundet zurück. Noch während des Krieges gründete er mit anderen Kriegsteilnehmern die „Union fédérale“, den französischen Verband der Kriegsopfer, dem er von 1922 als Präsident vorstehen sollte. 1921 und 1924 organisierte er Konferenzen von Kriegsversehrten und Veteranen, die für Verständigung und Friedensabkommen zwischen den verfeindeten Nationen eintraten. Er tat dies freilich als französischer Patriot, der von einer universellen französischen Mission überzeugt war: „Wir verkörpern seit Jahrhunderten ein Ideal der Freiheit, der Unabhängigkeit, der Menschlichkeit“, deshalb seien die Mitglieder der Union fédérale die „Vertreter der französischen Moral in der Welt“.

Als Professor lehrte er Völkerrecht, ab 1920 in Lille, dann ab 1929 an der Sorbonne in Paris. Vor allem aber war Cassin in unzähligen Nichtregierungsorganisationen und politischen Ämtern aktiv. Von 1924 bis 1938 vertrat er Frankreich beim Völkerbund. 1940 emigrierte er nach London und gründete mit Charles de Gaulle „France Libre“, die französische Exilarmee in den britischen Streitkräften.

Rene Cassin (mitte rechts) im Comité National Français mit Charles de Gaulle, London 1942, Foto: Keystone; © Wikimedia Commons

Von 1941 bis 1943 wurde er Nationalkommissar der Freien Französischen Regierung in London und 1944 gehörte er zu den Initiatoren des Französischen Komitees für die Nationale Befreiung in Algier und bereitete als Präsident deren juristischer Kommission die französische Gesetzgebung nach 1945 vor. 1944 wurde er Vizepräsident des französischen Staatsrates, eine Funktion, der er bis 1960 innehatte. 1946 wurde er außerdem Präsident der französischen Elite-Hochschule École nationale d’Administration.

Von 1946 bis 1958 vertrat er Frankreich bei den Vereinten Nationen und gehörte zu den Begründern der UNESCO. Vor allem aber gehörte er zum engsten Kreis der Verfasser der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen“, zusammen u.a. mit Karim Azkoul, dem libanesischen Diplomaten und Philosophen.
Von 1959 bis 1968 schließlich war er Vizepräsident, dann Präsident des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes.

Eine Palästinareise in den 1930er Jahren, vielleicht auch sein sefardisches Familienerbe, hatte ihn dazu motiviert sich für die Förderung der arabisch-jüdischen Bevölkerung Palästinas einzusetzen. Nach 1945 wurde er neben seinen vielen anderen Ämtern auch Präsident der „Alliance Israelite Universelle“ (die im 19. Jahrhundert die Ideale der französischen Revolution vertrat und europäische Bildung unter orientalischen Juden verbreiten sollte, nicht ohne eine gewisse Portion europäisch-kolonialem Hochmut).

„Hitlers Hauptziel war die Auslöschung der Juden“, schrieb Cassin, „aber ihre Vernichtung war auch Teil einer Attacke auf Alles, wofür die Französische Revolution stand: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschenrechte. Hitlers Rassismus war im Kern ein Versuch, die Prinzipien der Französischen Revolution auszulöschen.“ Das hinderte Cassin zwar nicht, nach der Vernichtung des europäischen Judentums das jüdisch-nationale, zionistische Projekt zu unterstützen. Doch forderte er nach 1945 auch klare Einschränkungen nationaler Souveränität in allen Fragen der Menschenrechte, die vor jeder nationalen Gesetzgebung Vorrang haben müssten und auch mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden müssten.
Sein Eintreten für soziale Rechte weckte in den USA Misstrauen. Ein Beamter des State Department stand nicht an, ihn als „Kryptokommunisten“ zu bezeichnen. Doch neben seinem Engagement für die Menschenrechte und für die Ideale der Gleichheit, blieb Cassin in vielen gesellschaftspolitischen Fragen ein klassisch konservativer Liberaler. So hatte er gegenüber der rechtlichen Gleichstellung von Frauen eine zögerliche Haltung, ja er stimmte im französischen Exilparlament in Algier sogar gegen eine sofortige Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts. Cassin starb am 20. Februar 1976 in Paris.

Die Heimatlosen: Ursula Hirschmann und die Geburt des Europäischen Föderalismus

Europäisches Tagebuch, 8.1.2023:

Heute vor 32 Jahren starb Ursula Hirschmann

von Hanno Loewy

Ursula Hirschmann

Geboren wurde Ursula Hirschmann am 2. September 1913 in Berlin in eine bürgerliche jüdische Familie. Wie ihr Bruder Albert Otto Hirschmann begann sie dort ihr Studium der Volkswirtschaftlslehre – und trat 1932 der Jugendorganisation der SPD bei, deren Politik ihr bald nicht entschieden genug im Kampf gegen den Nationalsozialismus war. So suchte sie die Nähe zu kommunistischen Mitstreitern.

1933 mussten Ursula Hirschmann und ihr Bruder nach Paris emigrieren, wo sie mit der Gruppe „Neu Beginnen“ in Berührung kam.

Studienausweis von Ursula Hirschmann, www.risorgimentofirenze.it

Vor allem aber traf sie den jungen italienischen Philosophen und Sozialisten Eugenio Colorni wieder, dem sie schon 1931 in Berlin begegnet war. Gemeinsam zogen sie nach Triest, wo Colorni seit 1934 einen Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik innehatte. Auch Colorni entstammte einer jüdischen Familie, hatte sich in seiner Jugend gar für den Zionismus interessiert – doch für beide wurde nicht ihr Judentum und auch nicht der Kommunismus, sondern die Einheit Europas zum Lebensthema, auch wenn Colorni nicht einmal die Geburt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957 erleben durfte.

1935 heirateten Hirschmann und Colorni in Triest und schlossen sich dem antifaschistischen Widerstand an. Colorni gehörte bald zum inneren Zirkel der Sozialistischen Partei und veröffentlichte unter Pseudonym Beiträge zur Sozialpolitik. Doch im September 1938 wurde Colorni verhaftet und nach Haft in verschiedenen Gefängnissen 1939 auf die Gefangenen-Insel Ventotene verbannt, wohin Ursula Hirschmann ihm folgen durfte. Sie trafen dort auf Altiero Spinelli und Ernesto Rossi, die sich ebenfalls mit Ideen der Europäischen Einigung auseinandersetzten. Gemeinsam entstand das Ventotene-Manifest „für ein freies und vereintes Europa“‚ das heute als eines der bedeutendsten Dokumente auf dem langen Weg zum Europäischen Föderalismus gilt. Darin heißt es unter anderem:

„Es gilt, einen Bundesstaat zu schaffen, der auf festen Füßen steht und anstelle nationaler Heere über eine europäische Streitmacht verfügt. Es gilt endgültig mit den wirtschaftlichen Autarkien, die das Rückgrat der totalitären Regime bilden, aufzuräumen. Es braucht eine ausreichende Anzahl an Organen und Mitteln, um in den einzelnen Bundesstaaten die Beschlüsse, die zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung dienen, durchzuführen. Gleichzeitig soll den Staaten jene Autonomie belassen werden, die eine plastische Gliederung und die Entwicklung eines politischen Lebens, gemäß den besonderen Eigenschaften der verschiedenen Völker, gestattet.“

Manifesto Movimento Federalista Europeo, 1943
Altiero Spinelli Institute for Federalist Studies

Auch Altiero Spinelli hatte sich vom autoritären Kommunismus abgewandt und vertrat nun eine radikale Vision Europäischer Einheit, die sowohl eine soziale Integration, als auch eine wirkliche europäische Demokratie bedeuten sollte, auf der Basis von Gleichheit und Recht. Auch gegenüber der sich in den 1950er Jahren vor allem über Wirtschaftsinteressen formierenden Europäischen Gemeinschaft hielt er an dieser Vision fest. Von 1976 bis zu seinem Tod 1986 sollte Spinelli als Abgeordneter im Europäischen Parlament für eine Europäische Verfassung und die Aufwertung des EU-Parlaments zur tatsächlichen Vertretung eines europäischen Souveräns kämpfen. Zuvor hatte er schon als italienisches Mitglied der Europäischen Kommission (1970-1976) die Einrichtung des Europäischen Rates als Bühne der nationalen Interessen als Rückschritt und Schwächung des Integrationsprozesses kritisiert.
Mit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments sah Spinelli den Moment gekommen, konkrete Schritte zur Erarbeitung einer Europäischen Verfassung zu unternehmen.

Alberto Spinelli, 1984
© European Union – EP

Und tatsächlich nahm am 14. Februar 1984 das EU-Parlament Spinellis Entwurf für eine Europäische Verfassung  an, der dem europäischen Parlament  legislative Kompetenzen zuwies, die weit über das hinausgingen, was bis jetzt Realität geworden ist. Doch die Initiative wurde von den nationalen Regierungen im Keim erstickt. Keines der nationalen Parlamente leitete das im Entwurf vorgesehen Zustimmungsverfahren ein. Spinelli, 1984 noch einmal ins EU-Parlament gewählt, starb am 23. Mai 1986 resigniert in Rom.

Was noch heute ein unerfüllter Traum ist, schien im Zeichen des Weltkriegs und der Vernichtung des alten Europas eine reale, ja die einzige Hoffnung. Und bis heute ist der Geist des Ventotene-Manifest eine Flaschenpost, die auf dem europäischen Meer treibt.
Damals gelang es immerhin, den Text aufs Festland zu bringen. Ursula Hirschmann schmuggelte das auf Zigarettenpapierchen festgehaltene Manifest in einem gebratenen Hühnchen von der Insel Ventotene an Land und bearbeitete den Text redaktionell. Gemeinsam mit Ernesto Rossis Frau Ada und Spinellis Schwestern Fiorella und Gigliola gelang es Ursula Hirschmann auch, das Manifest 1941 unter den Widerstandsgruppen und auf Flugblättern in Rom und Mailand zu verbreiten. 1942 erreichte das Manifest die Schweiz und Frankreich und 1943 zirkulierte eine deutsche Übersetzung von Ursula Hirschmann im Deutschen Reich. Hirschmann war darüberhinaus auch an der Herausgabe der Untergrundzeitschrift L‘Unita Europea beteiligt, die 1943 zum ersten Mal erschien.

L’Unita Europea

Im Mai 1943 floh Colorni, mittlerweile seit 1941 im süditalienischen Melfi interniert, nach Rom, wo er im Versteck als Flüchtling lebte. Und es gelang ihm auch, im August am geheimen Gründungstreffen des Movimento Federalista Europeo in Mailand teilzunehmen, das Alberto Spinelli organisiert hatte. Doch im Mai 1944, wenige Tage vor der Befreiung durch die Alliierten, wurde Colorni in Rom von einer Patrouille angehalten und erschossen. Auch Leone Ginzburg und Guglielmo Jervis, die zu den Gründern des MFE zählten, kamen in diesen Monaten des bewaffneten Kampfes in Italien ums Leben.

Zu diesem Zeitpunkt hatten Hirschmann und Colorni sich schon getrennt. Gemeinsam mit Alberto Spinelli war Ursula Hirschmann in die Schweiz aufgebrochen, um von Genf aus, die Aktivitäten der Föderalistischen Bewegung neu zu organisieren. Und schließlich heirateten beide.
Im März 1945 waren Spinelli und Hirschmann auch gemeinsam in Paris an der Organisation der Konferenz für eine Europäische Föderation beteiligt, an der auch George Orwell, Albert Camus, Louis Mumford und viel andere prominente Intellektuelle teilnahmen – und sich bald angesichts der Spaltung Europas in Ost und West und dem beginnenden kalten Krieg resigniert von diesem Projekt abwandten.
Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft sollte in den kommenden Jahren zunächst ein Wirtschaftsprojekt werden.

Ursula Hirschmann und Eugenio Colorni mit ihrer Tochter Silvia, auf Ventotene

Neben alledem brachte Ursula Hirschmann sechs Töchter zur Welt, drei von Eugenio Colorni (Silvia, Renata und Eva) und drei von Altiero Spinelli (Diana, Barbara, Sara). Eva Colorni würde später einmal den indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen heiraten.

Hirschmann und Spinelli blieben ihr Leben lang ihrem europäischen Aktivismus treu. Spinelli als EU-Politiker – und Ursula Hirschmann als Vorkämpferin einer europäischen Frauenbewegung. Hirschmanns Bruder Albert, der während des Kriegs mit Varian Fry die Flüchtlingsroute über die Pyrenäen organisiert hatte, wurde hingegen in den USA zu einem der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler.
In ihrem Briefwechsel mit Natalia Ginzburg in den 1970er Jahren reflektierte Ursula Hirschmann ihre eigene Identität und Heimatlosigkeit mit radikaler Ehrlichkeit und schonungsloser Kritik am neuen Nationalismus, der schon damals überall blühte: „selbst in Israel wird er die vergifteten Früchte tragen“, schreibt sie an Ginzburg im Oktober 1972, „die er überall hervorgebracht hat: auffällige Erfolge, weniger auffällige, aber tiefe Wunden, ein Geist der Rache, der Vergeltung und so weiter bis zu neuen Völkermorden.”

1975 gründet sie in Brüssel die Femmes pour l’Europe, die sich auf konkrete Themen konzentrieren wollten, von der Förderung des Zugangs zur Ausbildung und der Verteidigung der Lohngleichheit bis hin zum Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Immigrantinnen und Frauen in Entwicklungsländern. Doch noch im selben Jahr erleidet sie eine Hirnblutung von der sie sich nie ganz erholen wird.

Am 8. Januar 1991 stirbt Ursula Hirschmann in Rom. Ihre Autobiographie Noi senza Patria (Wir Heimatlosen) erscheint zwei Jahre später. Darin zog sie das Resumee ihrer europäischen Existenz.
„Ich bin keine Italienerin, auch wenn ich italienische Kinder habe, ich bin keine Deutsche, auch wenn Deutschland einst meine Heimat gewesen ist. Ich bin nicht einmal Jüdin, auch wenn es reiner Zufall war, dass ich nicht gefangen genommen und in einem dieser Öfen in einem der Vernichtungslager verbrannt wurde. Wir „déraciné”, die „Entwurzelten“ Europas, die wir öfter die Grenze als unsere Schuhe wechselten, wie Brecht schreibt, dieses Königreich der Entwurzelten, auch wir haben nichts anderes mehr zu verlieren, als unsere Ketten in einem Vereinigten Europa, deswegen sind wir Föderalisten.“

Quellen:
Silvana Boccanfuso, Ursula Hirschmann – Una donna per l’Europa, 2019;
https://europeanmemories.net/stories/ventotene-80/ (8.1.2023);
https://www.thefederalist.eu/site/index.php/en/essays/2505-the-ventotene-manifesto-and-the-birth-of-the-movimento-federalista-europeo-within-the-italian-resistance (8.1.2023)

 

Mal wieder: Austrittsdrohungen

Rückblick, 22.8.2020: Die Wiener FPÖ möchte wieder aus der EU austreten – oder wenigstens darüber diskutieren. Alles lieber jedenfalls, als über HC Straches Rosenkrieg und seinen gefinkelten Wohnsitz. So sucht man neben der mittlerweile rechtspopulistischen ÖVP im eng gewordenen Raum zum rechtsextremen Rand noch nach Profilierungsmöglichkeiten. Und so fordert man zum Beispiel, Wohnungen im Gemeindebau oder die Mindestsicherung nur noch an österreichische Staatsbürger zu vergeben. Und wenn die Europäische Union das, wie es nun einmal glücklicherweise der Fall ist, rechtlich nicht zulässt, dann muss eben ein Austritt aus der EU als letztes Mittel helfen. Natürlich darf auch Corona dabei als Begründung nicht fehlen:
„Wenn man in so einer schwierigen Situation wie Corona nicht auf die eigenen Staatsbürger schauen darf, muss man über einen Verbleib diskutieren. Es kann nicht sein, dass man gerade in schwierigen Zeiten Staatsbürgern nicht Vorrang geben kann“, so Nepp. Und es könne auch nicht sein, dass über 60 Prozent der Mindestsicherungsbezieher in Wien nicht Staatsbürger seien. „Eine Mindestsicherung ist ein Auffangnetz für unsere Leute. Es geht nicht darum, aus aller Herren Länder Menschen zu uns zu locken, die sich von uns durchfüttern lassen. Auch die Mindestsicherung soll nur mehr Staatsbürgern zur Verfügung stehen“, fordert Nepp. Der „freiheitliche“ EU-Delegationsleiter Vilimsky legt nach und setzt der EU eine „Frist“ bis Ende 2021, eine „andere Richtung einzuschlagen“.

Die Genfer Flüchtlingskonvention – im Koma

Europäisches Tagebuch, 28.7.2021: Heute vor 70 Jahren wurde die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet. Man könnte meinen, dies sei ein Tag zum Feiern. Doch das Gegenteil ist der Fall. Gerald Knaus, einer der besten Kenner der weltweiten Fluchtbewegungen und Flüchtlingsschicksale, spricht ernüchtert von einer Konvention “die im Koma liegt”.
80 Millionen Flüchtlinge gibt es weltweit, so heißt es. Doch diese Zahl, mit der das UN-Flüchtlingshilfswerk auf die Notwendigkeit von Hilfen aufmerksam machen will, lässt sich leicht missbrauchen. Von Massen, die uns überschwemmen werden, ist die Rede. Eine Sprache, die man von Rechtsradikalen gewohnt ist, wird zum politischen Kleingeld von Regierungen. Österreich gibt dabei mittlerweile den Ton an. Es ist zum fremdschämen, jeden Tag, vom Aufwachen, bis zum Schlafengehen. Und im Traum verfolgt es einen weiter.

In Wirklichkeit haben davon aber nur etwa 20 Millionen Flüchtlinge irgendeine Grenze überwunden. Die meisten von ihnen hausen in den von Bürgerkriegen, Verfolgungen und Zwangsrekrutierungen gerissenen Ländern der Welt irgendwo fern von ihren Heimatregionen. Die Zahl jener, die es immerhin über die Grenze, meistens bis ins Nachbarland, geschafft haben, ist in den letzten vier Jahren gerade mal um 700.000 Menschen gestiegen, darunter sind viele in den Flüchtlingslagern geborene Kinder. Noch immer ist es die viel gescholtene Türkei, die weltweit die meisten Flüchtlinge beherbergt. Und ob sie dabei weiter unterstützt wird, ist offen. Wer verhandelt darüber schon gerne mit dem Regime Erdogans. Aber welche Alternative dazu bietet sich? Noch mehr Gewalt gegen die Flüchtlinge im Mittelmeer?

Der Zynismus, mit dem Politiker in Europa, den USA oder Australien ihre rechtlichen Verpflichtungen missachten und den Geist der Konvention verhöhnen, ist kaum noch zu überbieten. An den EU-Außengrenzen werden Flüchtlinge mit Gewalt daran gehindert, Asyl-Anträge zu stellen. Ein offener Rechtsbruch. Und nur wenigen dämmert es, dass Regierungen, die den Rechtsstaat verachten, sich auch um „unsere“ Rechte nicht kümmern werden, wenn das ihnen passt.

Erst unlängst hat Österreichs Innenminister mit der Formulierung aufhorchen lassen, so rasch wie möglich Flüchtlinge nach Afghanistan abzuschieben „solange das noch geht“. In der Tat bricht dort der Widerstand gegen die Taliban in weiten Teilen des Landes in sich zusammen und einige EU-Länder setzen angesichts des einsetzenden Chaos schon beschlossene Abschiebungen aus, so wie auch die österreichischen Höchstrichter nicht mehr alle Abschiebungen durchwinken. Ein schwacher Trost. Denn man hat den Eindruck als ginge es der mittlerweile tiefblauen Regierungsspitze in Wien vor allem um symbolische Ablenkung. Von allen hausgemachten Problemen. Nein, der Tag des Jubiläums der Flüchtlingskonvention ist kein Tag zum Feiern.

Rückblick, 28.7.2020: Wenn Mitarbeiter von McKinsey in einem Unternehmen auftauchen, dann löst dies in der Regel Panikattacken unter Mitarbeitern aus. Schließlich steht das Beratungsunternehmen in dem Ruf, Firmen äußerst effektiv bei ihrer Sanierung zu helfen, und das bedeutet zumeist, ein Teil der Belegschaft „zu schicken“. Auch Flüchtlinge und Migranten durften in den letzten Jahren diese Erfahrung machen. Eine Recherche des Spiegel ergab, dass seit 2017 McKinsey die EU dabei berät, wie man die „Produktivität“ der Asylbehörden an den Grenzen erhöhen könnte. Mit wenig Erfolg bisher.
Einiges davon soll allerdings in die griechische Asylpolitik seitdem eingeflossen sein, zum Beispiel die Überführung von abgelehnten Asylwerbern in erster Instanz in geschlossenes Gewahrsam. Auch dann, wenn sie gar nicht abgeschoben werden können. Und auch die Verweigerung von Rechtsberatung gehört zu den griechischen „Optimierungsmaßnahmen“.

Bis heute werden die genauen Ratschläge von McKinsey allerdings von der EU geheim gehalten. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen klassifiziert das Material als „confidential“. Die Betreuung der Flüchtlinge in den Lagern auf den Inseln durch die griechischen Behörden folgt nach wie vor dem Prinzip der Abschreckung. Umso unwürdiger und menschenverachtender, umso „produktiver“. Auch wenn die EU-Kommission immer wieder Anläufe unternimmt, die Situation der Menschen dort zu verbessern und die Mitgliedsstaaten von der Notwendigkeit zu überzeugen, mehr Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufzunehmen.
Schon 2016 hatte das Deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 1,86 Millionen Euro für eine „Studie“ an das Beratungsunternehmen bezahlt, um sich Tipps geben zu lassen, wie abgelehnte Asylwerber in Deutschland „effektiver“ abgeschoben werden könnten. Auch damals förderte eine Spiegel-Recherche zutage, dass McKinsey dafür 678 „Beratertage“ für je 2700,- € in Rechnung stellte. Das von McKinsey vorgeschlagene Rückkehrmanagement sah sowohl finanzielle Anreize als auch Abschiebhaft und „Gewahrsamsanstalten“ vor, und radikale Kürzung der Hilfen für Kranke.

Kinderschutz auf ungarisch

Europäisches Tagebuch  18.6.2021: Vor drei Tagen hat das ungarische Parlament eine Gesetzesnovelle unter der Überschrift:  “Änderungen von einigen Gesetzen zum strengeren Vorgehen gegenüber pädophilen Kriminellen sowie im Interesse des Kinderschutzes”. Gemeint ist damit die öffentliche Verteufelung von Homosexuellen. Für die Gesetzesvorlage stimmten Abgeordnete der von Orban angeführten Regierungspartei Fidesz sowie Parlamentsmitglieder der rechtsextremen Oppositionspartei Jobbik. Alle anderen Oppositionspolitiker, bis auf einen, verließen aus Protest den Parlamentssaal und nahmen an der Abstimmung nicht teil. Das Votum ging dementsprechend 157 zu eins aus.
Das Gesetz verbietet Bücher und Filme in denen Sexualität dargestellt wird, die von der heterosexuellen abweicht – und jegliche Bildungsprogramme und Aufklärungsbücher, die das Thema zum Gegenstand haben. Auch Werbung, die Homosexuelle oder Transsexuelle als “normal” darstellen, ist verboten. Damit stellt sich die Regierung Urban und die Mehrheit des ungarischen Parlaments gegen alle Diskriminierungsverbote, die inzwischen angeblich zu den europäischen “Grundwerten” gehören, und vor allem zum gesetzlichen Grundlagen der Gemeinschaft. Mit dieser Kampfansage fordert Urban die EU nun freut offen heraus. Die Frage bleibt, ob die EU sich als zahnloser Tiger erweisen wird.

Rückblick, 18.6.2020: Der Europäische Gerichtshof entscheidet zugunsten der Klage der Europäischen Kommission gegen das ungarische NGO-Gesetz aus dem Jahr 2017, dass Nichtregierung-Organisationen, die Spenden aus dem Ausland erhalten, benachteiligt und öffentlich an den Pranger stellt. Das Gesetz richtet sich in der öffentlichen Wahrnehmung insbesondere gegen Stiftungen von George Soros, gegen den der ungarische Ministerpräsident Orban seit Jahren antisemitische Kampagnen fährt, mit denen er für sich im Lande erfolgreich Stimmung macht. Die von George Soros gegründete Central European University, die dazu beitragen sollte, eine demokratische und liberale Wissenschaftspolitik zu unterstützen, hat er auf diese Weise inzwischen aus Budapest nach Wien vertrieben. Neben dem NGO-Gesetz gab es die unterschiedlichsten Denunziationen und Schikanen. Von Orban kontrollierte Zeitungen veröffentlichten Listen von angeblichen „Soros-Söldnern“ und Strafverfahren schüchterten Kritiker seiner Asyl-Politik ein, denen Strafen wegen Begünstigung von Schlepperei angedroht wurden, selbst wenn es sich dabei nur um Vorlesungen an der Central European University über Migrationspolitik ging.
Die Luxemburger Richter gaben der EU-Behörde nun Recht und sprachen von »diskriminierenden und ungerechtfertigten Beschränkungen«. Diese verstießen sowohl gegen die EU-Verträge als auch gegen die Charta der EU-Grundrechte. Die Luxemburger Richter wiesen in ihrem Urteil zudem darauf hin, dass das NGO-Gesetz die in der Grundrechte-Charta verankerten Rechte auf Versammlungsfreiheit, auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Schutz personenbezogener Daten verletze. Es ist freilich nicht zu erwarten, dass das Luxemburger Urteil Eindruck auf Orban machen wird. Auf ähnliche Urteile reagierte er bislang mit weiteren Verschärfungen seiner Politik.

Hersch Lauterpacht und die Menschenrechtskonvention

von Felicitas Heimann-Jelinek

Bereits der griechische Stoiker Zenon (336-270 v.u.Z.) postulierte, dass alle Menschen allein durch ihr Menschsein gleich seien. In der Praxis spielte diese theoretische Erkenntnis allerdings keine Rolle. Ihre Reflexion blieb die längste Zeit den Philosophen überlassen. Erst mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung fanden die Menschenrechte Eingang in ein politisches Format. Diese Rechte machten allerdings vor der indigenen Bevölkerung und vor den Versklavten halt. Auf dem europäischen Kontinent machte die Französische Revolution die Menschenrechte zum politischen Konzept. Und die französische Verfassung von 1791 schloss sogar Juden ein – allerdings noch lange keine Frauen. Für Menschen außerhalb des europäischen Kontinents galten diese Rechte selbstredend nicht.

Es sollte bis zum 10. Dezember 1948 dauern, bis die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Und erst am 3. September 1953 wurde die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert.

Nicht alle Zuständigen sahen die Notwendigkeit einer juristischen Befassung mit Völkerrecht, Menschenrecht, Schuld und Verantwortung 1945 ein. Fritz Bauers in eben jenem Jahr erschienene Arbeit „Die Kriegsverbrecher vor Gericht“, in der er „eine Lektion im geltenden Völkerrecht“ für die Deutschen forderte, stieß zumindest in den Tätergesellschaften auf taube Ohren. Und doch entsprangen Ausarbeitung und Beschlussfassung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der direkten Reaktion auf die Gräuel, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg insbesondere an Zivilisten und insbesondere an den europäischen Juden und anderen Minderheiten begangen worden waren. Eine nicht unbedeutende Rolle bei der Entwicklung eines universalen Menschenrechtscodes spielte Hersch Lauterpacht.

Lauterpacht, 1897 im heute ukrainischen Schowkwa gebürtig, studierte bei dem Staatsrechtler und Rechtsphilosophen Hans Kelsen in Wien, danach an der renommierten London School of Economics. Von 1938 bis 1955 hatte er den Lehrstuhl für Internationales Recht in Cambridge inne, 1951 bis 1954 war er Mitglied der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, und 1955 bis zu seinem Tod 1960 war er Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag.

Als junger Mensch hatte Hersch Lauterpacht die Katastrophen des Ersten Weltkriegs erfahren. Sie waren Auslöser für seine lebenslange Beschäftigung mit dem Völkerrecht sowie mit den Menschenrechten. Die elterliche Familie des Ehemanns und Vaters Hersch Lauterpacht war im altösterreichischen Lemberg ermordet worden. Dies mag seinen Fokus auf den Status des Individuums im Völkerrecht und auf die Frage nach der Verhältnismäßigkeit nationalstaatlicher Oberhoheit begründet haben. In diesem Kontext entwickelte Lauterpacht die Terminologie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zur Fassung der ungeheuren Gräuel an Zivilpersonen, eine Formulierung, mit der das Völkerrecht eine entscheidende Erweiterung erfuhr. In den Nürnberger Prozessen legitimierte sie die strafrechtliche Anklage und Verurteilung der Aktionen der Nazis gegen Millionen ziviler Bürger*innen. Die Definition lautete: „Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an jedweder Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges; Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht.“ Der Schutz des Einzelnen vor dem Staat kann seitdem auch in der EU eingefordert werden. Juristisch dafür zuständig ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Auf übereuropäischer Ebene ist der Internationale Gerichtshof in Den Haag für völkerrechtliche Fragen und Verfahren zuständig. Als der maßgeblich an der Erarbeitung der europäischen wie der internationalen Menschenrechtskonvention Beteiligte Hersch Lauterpacht 1954 von britischer Seite als Richter an diesen entsendet werden sollte, wurden Stimmen laut, die diese Entscheidung mit dem Argument kritisierten, der renommierte Völkerrechtler sei für dieses Amt nicht „britisch“ genug, worüber sowohl seine Herkunft als auch sein Name ja eindeutig Auskunft gebe.

Am 8. Mai 1960, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, starb Hersch Lauterpacht in London.

Erpressung und Solidarität

Europäisches Tagebuch, 2.4.2020: Nachdem es mit Lügen und Zockerei nicht funktioniert hat, versucht es Österreich innerhalb der Europäischen Union nun offenbar mit Erpressung. Es gilt die Unschuldsvermutung.
In dem Gerangel über die Verteilung der zusätzlichen 10 Millionen Impfdosen, die die EU-Kommission von Biontech-Pfizer für eine vorzeitige Lieferung herausverhandelt hat, soll die neue österreichische Vertretung in der Steering Group nach Berichten des Magazin Politico gedroht haben, die weiteren Lieferungen an die EU insgesamt zu blockieren, wenn Österreich nicht über die ihnen zustehenden 140.000 zusätzlichen Impfdosen hinaus mit Extra-Lieferungen bedacht wird – z.B. auf Kosten der bisher durch verfehlte Bestellungen ins Hintertreffen gelangten Länder wie Bulgarien. Also genau auf Kosten jener Länder, die Bundeskanzler Kurz noch vor wenigen Tagen vor die Karre seiner Angriffe auf die EU gespannt hat. Kurz hatte dabei zugleich großartig verkündet, Österreich stünden 400.000 zusätzliche Impfdosen zu.
Das Bundeskanzleramt weist den Bericht von Politico als Unterstellung zurück. Österreich habe nicht mit einer Blockade gedroht. Österreich habe nur verlangt, dass man sich erst über die Verteilung der 10 Millionen Dosen einigt, bevor es um die Großbestellung für den Herbst gehen könnte. Das Bundeskanzleramt hat also eine etwas andere Formulierung dafür gefunden, dass Österreich genau das tut: es droht mit einer Blockade der Impfungen der gesamten EU. Die Reaktionen der übrigen EU-Staaten auf diesen österreichischen Amoklauf haben nicht auf sich warten lassen.

Rückblick, 2.4.2020: Im Flüchtlingslager Ritsona nördlich von Athen ist ein erster Fall von Corona festgestellt worden. Eine 19jährige wurde nach der Geburt ihres Kindes in einem Krankenhaus positiv getestet. Wenig später werden im Lager 23 Infektionen festgestellt.

Die EU stellt ein Hilfspaket von 240 Millionen für Staaten im Nahen Osten bereit, die syrische Flüchtlinge aufnehmen.

Noch immer sitzen 40.000 Asylsuchende in überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln im Osten der Ägäis fest, die von acht Mitgliedstaaten beschlossene Aufnahme von 1600 unbegleiteten Minderjährigen hat noch nicht begonnen. Die Verhältnisse in diesen Flüchtlingslagern sind nach wie vor in jeder Hinsicht dramatisch.

90 deutsche und italienische Politiker, Wissenschaftler und Künstler haben einen Aufruf im Netz gestartet und werben für Europäische Solidarität im Zeichen der Corona-Krise und die Wahrnehmung der gemeinsamen Verantwortung durch die Europäische Zentralbank.

14 EU-Mitgliedsstaaten (Deutschland, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden und Lettland) haben eine Erklärung unterzeichnet, in der sie ihre Besorgnis über die mögliche Aushöhlung der Demokratie im Rahmen von Notfallmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie zum Ausdruck bringen. Offenkundig ist insbesondere das ungarische Notstandsgesetz gemeint. Die österreichische Regierung beteiligt sich nicht an dieser Erklärung. Die ungarische Regierung spricht von einer „koordinierten Schmierenkampagne“.

EU-Krisen und “kritische Diskussion”

Rückblick, 30.3.2020: Gestern hat Sebastian Kurz in der Kronenzeitung die EU für die Krise verantwortlich gemacht: „Die EU wird sich nach der Krise eine kritische Diskussion und Auseinandersetzung damit gefallen lassen müssen. Es kann nicht sein, dass wir zwei Wochen lang komplett auf uns allein gestellt darum kämpfen müssen, dass ein Lkw der mit bereits von uns bezahlten und dringend benötigten Schutzmasken an der deutschen Grenze hängt, weiterfahren darf, und gleichzeitig unsere Kontrollen zu Italien kritisiert werden.“ Die Austria Presse Agentur verbreitet die Meldung mit der kritischen Nachfrage, ob Kurz mit “der EU” tatsächlich die EU-Kommission gemeint haben könnte, die doch selbst gar keine Entscheidungen in dieser Sache treffen kann. Oder ob er die verantwortlichen Regierungschefs meinte, also unter anderem sich selber.

Im gleichen Interview der Kronenzeitung wird Sebastian Kurz dafür gefeiert, sich schon mit Corona befasst zu haben, „als die EU derweil mit oberster Priorität noch damit beschäftigt (gewesen sei), die Grenzschließungen der Nationalstaaten zu kritisieren und sich um die minderjährigen Flüchtlinge vor der griechischen Außengrenze zu sorgen“. Gemeint sind wohl die minderjährigen Flüchtlinge innerhalb der griechischen Flüchtlingslager.

In der Kontroverse um mögliche Corona-Bonds sehen Italien und Frankreich Europäische Solidarität gefordert. Österreich, Deutschland und die Niederlande lehnen gemeinsame Anleihen ab.

Das ungarische Parlament verhängt heute mit der Zweidrittelmehrheit der Regierungspartei Fidesz zeitlich unbefristet den Ausnahmezustand, der Ministerpräsident Orban weitgehende Vollmachten einräumt, mit Dekreten zu regieren, ohne das Parlament zu beteiligen. Wahlen und Abstimmungen sind ausgesetzt. Der Generalstaatsanwalt erhält weitreichende Vollmachten. Die „Verbreitung von Fake-News“ wird mit bis zu 5 Jahren Gefängnis bestraft. Dabei denkt Orban offenbar weniger an Corona-Leugner und Verschwörungsphantasien sondern an demokratische Kritiker seiner Politik. Die wenigen Presseorgane, die noch nicht in Regierungshand sind, können damit jederzeit mundtot gemacht werden. Zuvor hat Orban schon angeordnet, dass die Presse bei bestimmten Themen vorher bei der Regierung anfragen, ob das Thema erlaubt ist.

Der österreichische Kanzler wird auf die Demontage der Demokratie in Ungarn angesprochen. Er habe wegen Corona „einfach keine Zeit“ sich mit der Lage in Ungarn zu beschäftigen. Kurz darauf postet er einen Tweet zur Lage in Venezuela.

Die EU-Kommission bemüht sich darum, die Freizügigkeit systemrelevanter Arbeitskräfte innerhalb der EU zu sichern, durch die Verbreitung praktischer Hinweise an die Mitgliedsstaaten. Und sie beschließt zusätzliche Soforthilfen für die Staaten des Westbalkans und Osteuropas in Höhe von 180 Millionen.

Front-Ex Ungarn

Europäisches Tagebuch, 5.1.2021: Ende Januar hat die Europäische “Grenzschutzagentur” Frontex seine Tätigkeit in Ungarn eingestellt. Ungarn schiebt nach wie vor gewaltsam und gesetzeswidrig Flüchtlinge an der Grenze zu Serbien ab, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, Asyl zu beantragen. Diese Pushbacks widersprechen eindeutig europäischem Recht. Der Europäische Gerichtshof hat schon im Dezember eine klare Entscheidung gefällt: Ungarn verletzt laufend europäisches Asylrecht. Dazu gehört auch die „rechtswidrige Inhaftierung“ von Flüchtlingen an der Grenze zu Serbien. Frontex hat jetzt die Zusammenarbeit mit Ungarn eingestellt, um nicht selbst an diesen illegalen Aktionen beteiligt zu sein.

Aufgrund der möglichen Beteiligung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex an illegalen Pushbacks an der europäischen Außengrenze in Griechenland, Kroatien oder Ungarn, ermittelt die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf gegen Frontex. Zahlreiche dokumentiert Fälle belasten Frontex schwer. Aufgrund dieser zum Teil gewaltsamen Pushbacks eskaliert auch die Flüchtlingssituation in Bosnien.

Die Ermittlungen von Olaf haben nun offenbar Wirkung auf Frontex.

“Alles unter Kontrolle”

Europäisches Tagebuch, 31.1.2021: Der österreichische Bundesinnenminister hat sich auf den absoluten Nullpunkt hinab begeben, zum Kältepol. Minus 274 Grad Celsius, oder 0 Grad Kelvin. Im Österreichischen Fernsehen erklärt er einer fassungslosen Lou Lorenz-Dittlbacher, was er unter Betroffenheit versteht. Auf ihre Frage, wie er als Vater zu den jüngsten gewaltsamen Abschiebungen von in Österreich geborenen und aufgewachsenen, bestens integrierten Kindern nach Georgien und Albanien steht, bringt er es fertig zu sagen, er sei auch betroffen, wie Eltern ihren Kindern das antun können.
Wie Eltern es also ihren Kindern antun können, alles zu versuchen, damit sie einmal ein besseres Leben haben? Wie Eltern es ihren Kindern antun können, sie ausgerechnet in Österreich groß zu ziehen? Wie Eltern es ihren Kindern antun können,  sie Deutsch zu lehren und darauf zu hoffen, dass sie hier ihren Weg finden können?

Er meint natürlich folgendes: Diese Eltern drohen ihm, dem starken Mann, mit Kontrollverlust. Sie drohen ihm damit, dass ihre Kinder ihnen wichtiger sind, als ein österreichisches Asylrecht, dass schon seit vielen Jahren scheibchenweise demontiert wurde. Und wichtiger als ein österreichisches Fremdenrecht, dass nur noch Abwehr kennt und kaum noch Chancen auf legale Einwanderung. Dagegen muss jedes Mittel Recht sein. Auch der Rechtsbruch.

Denn welche Logik – außer einer totalitären – erlaubt es einem Staat, ein Kind dafür zu bestrafen, dass dessen Eltern Vorschriften verletzt, bzw. umgangen haben? Oder genauer: Kinder zu quälen, um deren Eltern zu bestrafen? Welche Logik erlaubt es einem Staat, das Leben eines Kindes zu ruinieren, mit dem Argument, dessen Eltern hätten diesem Kind widerrechtlich ein besseres Leben bereiten wollen?

Innenminister Nehammer hat – auch auf mehrmaliges Nachfragen hin – darauf verzichtet, Lou Lorenz-Dittlbacher seine Logik zu erklären. Er hat nur immer wieder seinen widersinnigen Satz wiederholt. Die Mutter von Tina sei schuld.
Schuld daran, dass man das zwölfjährige Mädchen in ein Land verschleppt, dass sie nicht kennt und dessen Sprache sie nicht schreiben oder lesen kann. Und ihre Mutter ist wohl auch schuld daran, dass man Tinas Mitschülerinnen und Mitschüler gewaltsam mit der für Terrorismusbekämpfung zuständigen Polizeibrigade vom Schauplatz des Geschehen fortschleifen musste. Den jungen Leuten musste man einmal eine Lektion erteilen, in was für einem Land sie gerade leben. In Corona-Zeiten ganz besonders.

Europäisches Tagebuch, 31.1.2020: Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärt Corona zu einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite. Mit Kritik an der intransparenten Informationspolitik Chinas hält sich die WHO zurück.
Donald Trump hat sich inzwischen mehrmals zu der neuen Epidemie in China geäußert. Heute verhängt die USA einen Einreisestopp gegen Reisende aus China. US-Präsident Trump erklärt: „Wir haben das, was aus China kommt, so ziemlich ausgeschaltet.“ Vor wenigen Tagen hat Trump getwittert: „China hat sehr hart daran gearbeitet das Virus zu kontrollieren. Die Vereinigten Staaten begrüßen ihre Bemühungen und ihre Transparenz sehr. Es wird alles gut ausgehen.”

Vor vier Tagen hat die Münchner Ärztin Camilla Rothe den ersten deutschen Covid-19 Fall entdeckt. Das Testergebnis ihres Patienten, eines Geschäftsmanns, Mitarbeiter eines Autoteilezulieferers, ist unzweifelhaft positiv. Ein Tag später waren schon drei weitere Mitarbeiter positiv auf Civod-19 getestet. Die einzig denkbare Möglichkeit sich angesteckt zu haben scheint der Kontakt zu einer chinesischen Kollegin, die zwei Tage zu Meetings zu Besuch war, aber keinerlei Symptome gezeigt hatte. Heute, nach ihrer Rückkehr nach China, fühlt sie sich krank und wird ebenfalls positiv getestet. Dr. Rothe und ihr Kollege Michael Hölscher schlagen Alarm und veröffentlichen einen kurzen Bericht im New England Journal of Medicine. Offenkundig verhält sich der neue Virus nicht so, wie sein naher Verwandter SARS. Er ist schon vor dem Auftreten erster Symptome hochgradig ansteckend. Rothe warnt Fachkollegen vor dem dadurch deutlich höheren Ansteckungsrisiko. Auch Kollegen vom Robert Koch Institut und den bayerischen Gesundheitsbehörden reichen einen Artikel bei The Lancet ein, einer weiteren medizinischen Fachzeitschrift, in dem sie zu ähnlichen Schlüssen gelangen. Die Ansteckungsgefahr bestünde ihnen zufolge schon dann, wenn die Symptome noch so mild seien, dass sie nicht bemerkt würden.

Die EU aktiviert indessen das Katastrophenschutzverfahren für die Rückholung von EU-Bürgern aus China. Weniger erfolgreich ist die EU damit, die Mitgliedsländer vom Ernst der Berdrohung auch in Europa zu überzeugen.

Die EU-Kommission bietet den Mitgliedstaaten an, sie bei der Beschaffung von Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräten zu unterstützen. Die Vertreter der europäischen Regierungen lehnen dies als Einmischung in die nationale Gesundheitspolitik ab. „Alles unter Kontrolle”, notiert ein Beamter die Aussagen der nationalen Delegierten in einer vertraulichen Sitzung in den Protokollen, die später von der Nachrichtenagentur Reuters ausgewertet wurden, “die Mitgliedsstaaten seien auf hohem Niveau vorbereitet, die meisten hätten Maßnahmen gesetzt”. (Quelle: Der Standard, 3.4.2020)

Olaf gegen Frontex

Europäisches Tagebuch, 13.1.2021: Die Nachricht ist eingeschlagen. Die EU-Behörde für Betrugsbekämpfung (Olaf) ermittelt gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex.

Seit vielen Monaten treten kroatische Grenzbeamte EU-Recht mit Füßen und treiben Flüchtlinge an der EU-Außengrenze gewaltsam zurück nach Bosnien. Sie tun dies mit dem Beifall einiger Regierungen in Europa. Ungarn und Österreich sind ganz vorne dabei, wenn es darum geht, diesen offenen Rechtsbruch zu vertuschen oder gut zu heißen, wenn es mit dem Vertuschen angesichts der vielen Bewiese nicht mehr funktioniert. Schließlich sind auch österreichische Grenzbeamte nicht zimperlich, wenn es darum geht an der slowenischen Grenze einfach mal die Ohren zu zuhalten, wenn Flüchtlinge um Asyl bitten – und sie stattdessen gewaltsam nach Slowenien zurückzustoßen, von wo sie an die Kroaten abgeschoben werden, die sie dann wiederum an der bosnischen Grenze abladen. Dafür zahlt die EU dann Bosnien Geld dafür, sich um diese illegal abgeschobenen Flüchtlinge zu kümmern. In Bosnien landet dieses Geld in unsichtbaren Kanälen – aber ganz offenkundig nicht in der Flüchtlingsbetreuung. So durften hunderte von Flüchtlingen das Ende des Jahres bei klirrender Kälte im Freien verbringen, weil das improvisierte Zeltlager Lipa noch immer kein Strom, kein Wasser und keine Heizung hatte und darum von der Internationalen Organisation für Migration aufgelöst wurde. Seitdem ist nicht viel passiert. Außer das, was jetzt „Hilfe vor Ort“ heißt: ein paar neue, unbeheizte Zelte, ohne Wasser und ohne Strom. 2000 Flüchtlinge hausen nun zum großen Teil unter Plastikplanen im Wald. Bei Minustemperaturen. Viele der Fälle sind gut dokumentiert.
Bis heute traut sich der Europäische Menschenrechtsgerichtshof an diesen andauernden Rechtsbruch von EU-Mitgliedsstaaten und Anwärtern nicht heran. Doch immerhin ist nun die von der EU selbst betriebene Grenzschutzagentur Frontex Gegenstand von Untersuchungen. Lange Zeit setzten Länder wie Ungarn, Polen und Österreich große Hoffnungen in Frontex. Dann realisierten Orban und Kurz, dass sich auch Frontex an Gesetze halten muss. Und Frontex fiel in Ungnade.
Doch Frontex Direktor Fabrice Leggeri wollte 2020 offenbar seinen Ruf in Budapest, Warschau und Wien retten. So ist Frontex inzwischen, wie seit Monaten bekannt, im östlichen Mittelmeer an illegalen Zurückweisungen vor der griechischen Küste beteiligt. Und in der Behörde scheint auch sonst so einiges unrund zu laufen, von Einschüchterungen von Mitarbeitern die Bedenken haben, bis zu Unregelmäßigkeiten bei Ausschreibungen. Ob die nun laufenden Ermittlungen Konsequenzen haben werden, bleibt abzuwarten.

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ermittlungen-gegen-eu-grenzschutzbehoerde-frontex-17142763.html

https://www.tagesschau.de/ausland/lipa-lager-bosnien-101.html

https://www.derstandard.at/story/2000121752241/berichte-ueber-illegale-pushbacks-von-migranten-an-oesterreichischer-grenze

Bosnische Sylvester im Freien

Europäisches Tagebuch, 2.1.2021: Die europäischen Verbrechen an Flüchtlingen sind um eine Facette reicher. Seit vielen Monaten schützt insbesondere Kroatien „unsere“ Außengrenzen auf illegale, aber effektive Weise. Flüchtlingen, denen es zum Beispiel über Bosnien gelingt, an – und über – die kroatische Grenze zu kommen, werden gewaltsam wieder zurückgestoßen, bevor sie von ihrem Recht, einen Asylantrag zu stellen, Gebrauch machen können. Das verstößt zwar gegen europäisches und internationales Recht, aber selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schaut inzwischen resigniert (oder zynisch?) unter den Tisch, wenn es um den europäischen „Grenzschutz“ geht. Viele der Flüchtlinge waren zunächst im Lager Bira in der Stadt Bihac untergebracht, dann wurden sie nach „Protesten aus der Bevölkerung“, die inzwischen in Bosnien billiger zu haben sind, als Semmeln, im September in ein von der Armee provisorisch errichtetes Zeltlager in „the middle of nowhere“ verfrachtet, nach Lipa. Dort durften sich internationale Hilfsorganisationen um die Gestrandeten kümmern. Die bosnischen Behörden versprachen, das improvisierte Lager an die Strom- und Wasserversorgung anzuschließen, um es „winterfest“ zu machen. Doch nichts dergleichen geschah. Aus den Augen aus dem Sinn.
Ende Dezember kam der Frost. Aber noch immer keine Möglichkeit, das Lager zu heizen, noch immer kein Strom, kein Wasser. Gar nichts. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) entschied, das Lager, in dem die Menschen sonst im beginnenden Winter erfroren wären, zu schließen. Und während der Räumung zündeten einige Flüchtlinge die maroden Zelte an, die sie endgültig hinter sich zu lassen glaubten.
Mit den bosnischen Behörden wurde ausgehandelt, die Flüchtlinge wieder ins Lager Bira nach Bihac oder in Kasernen in andere Landesteile zu bringen. Aber Lokalpolitiker verkündeten, es gäbe „Proteste aus der Bevölkerung“. So verbrachten 900 Menschen die Weihnachtstage im Freien. Dann stand doch die Evakuierung der obdachlos campierenden Flüchtlinge auf dem Programm. 500 von ihnen wurden zum Jahresende in Busse verladen. Und steckten dort fest. Denn die Busse fuhren nicht. Lokal- und Regionalpolitiker beugen sich den „Protesten aus der Bevölkerung“, die sie selbst nach Kräften geschürt haben. Und die Republika Srpska nimmt ohnehin niemand auf. Schließlich seien es die bosniakischen Muslime, die die „Migranten“ ins Land geholt hätten. Was auch immer damit gemeint sei, die Parole kommt immer an. Jeder Versuch der Zentralregierung in Sarajewo, Recht und Ordnung durchzusetzen (und das heißt in diesem Fall eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge) ist so zum Scheitern verurteilt.

So verbrachten 500 Menschen die letzten beiden Tage des Jahres in ungeheizten Bussen. 24 Stunden lang. Dann ließ man sie wieder aussteigen. Sylvester erlebten sie unter freiem Himmel. Am Neujahrstag versorgte sie das Rote Kreuz. Österreich verspricht „Hilfe vor Ort“. Die bosnische Armee stellt wieder Zelte auf. Zelte gibt es genug. Unbeheizbar, wie die davor. Das zynische Spiel geht weiter. Der Winter auch.

Gerald Knaus: “Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl”

Europäisches Tagebuch, 25.11.2020: Gestern war Gerald Knaus, einer der wichtigsten europäischen Migrationsexperten, bei uns zu Gast. Und sprach über die Mythen und Realitäten der aufgeheizten Kontroverse über Flüchtlinge und Migranten, die versuchen in Europa ein neues Leben zu beginnen. Sein Vortrag und die angeregte Diskussion, die ihm folgte, ist hier nun als Aufzeichnung zu sehen. Wir würden uns freuen, wenn sein Beitrag Gehör finden würde. Argumentationshilfen für humane Grenzen, an denen Menschenrechte und das Bedürfnis nach Sicherheit nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Sein Buch Welche Grenzen brauchen wir? ist gerade im Piper Verlag erschienen und höchst lesenswert!

 

Das Veto und kein Sputnik Schock?

Europäisches Tagebuch, 20.11.2020: Die Kabale war zu erwarten. Dass die Mehrheit der EU-Mitglieder nun ernst machen wollen mit der Bindung von EU-Förderungen an die Einhaltung von rechtsstaatlichen Standards hat das angekündigte Veto Polens und Ungarns gegen das EU-Budget, und damit auch gegen die 750 Milliarden umfassenden Hilfen zur Bewältigung der wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitspolitischen Folgen der Corona-Krise, nach sich gezogen. Auch der gestrige EU-Sondergipfel hat an der Blockade des EU-Budgets durch Polen und Ungarn nichts geändert.

Gegen beide Länder läuft ohnehin schon ein EU-Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags aufgrund zahlreicher und wachsender Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit, der Unabhängigkeit der Justiz und der Wissenschaften. Ungarn und Polen lassen wenige Gelegenheiten aus, immer wieder auszuloten, wie weit sie damit gehen können.
Viktor Orban behauptet nun, in Wahrheit ginge es der EU darum Ungarn zur Aufnahme von Migranten zu zwingen und bekommt dafür von der FPÖ in Wien Applaus.

Sowohl Polen wie auch Ungarn leiden in der Tat an einer grassierenden Emigration – gut ausgebildeter junger Menschen, die Ungarn und Polen verlassen um anderswo ihr Glück zu suchen. Die Vertreibung der Central European University aus Budapest ist nur ein Glied in einer langen Kette von entmutigenden Ereignissen, die diesen Aderlass beschleunigen.

Der EU hingegen geht es hingegen nicht zuletzt um die grassierende Korruption, die von einer eingeschüchterten Justiz nicht mehr bekämpft werden kann. Und um fehlende öffentliche Kontrolle korrupten Regierungshandelns angesichts einer Presselandschaft, die sich zum Beispiel in Ungarn schon fast vollständig in den Händen von Viktor Orban und seiner Gefolgschaft befindet.

Der mühsam zwischen Rat, EU-Kommission und Parlament ausgehandelte Kompromiss sieht vor, dass eine qualifizierte Mehrheit von 15 Staaten im Rat, die mindestens 65% der Bevölkerung der EU repräsentieren, EU-Gelder sperren kann, wenn droht, dass die Verwendung dieser Gelder keiner demokratischen, rechtstaatlichen Kontrolle mehr unterliegt. Damit ist zumindest ein erstes Signal an die Regierungen in Warschau und Budapest gerichtet, wohl auch an andere, die sich hier gemeint fühlen können.

Auch der slowenische Ministerpräsident Janez Jansa attackiert nun die deutsche Ratspräsidentschaft dafür, den im Rat erst vor wenigen Tagen mit slowenischer Zustimmung ausgehandelten Kompromiss jetzt auch umsetzen zu wollen. Jansa droht selbst freilich kein Veto an. Wohl weil er nicht so recht weiß, was er sich damit einhandelt.

Das Veto Polen und Ungarns kann sich als Bumerang herausstellen. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte droht schon damit, das reguläre EU-Budget als Nothaushalt weiterzuführen und den Corona-Fonds als bilaterale Vereinbarung der übrigen 25 Staaten zu verabschieden, wobei Polen und Ungarn dann leer ausgingen. Derweilen üben sich Polen und Ungarn in Kriegsrhetorik. Man führe einen „Freiheitskampf“ gegen die „Sklaverei“. In der polnischen Bevölkerung kommt das nicht schlecht an. Ungarn hingegen zündet die nächste Eskalationsstufe.

Viktor Orban setzt bei der Bekämpfung von Covid-19 demonstrativ auf den russischen Impfstoff Sputnik V, obwohl sich die EU-Staaten auf eine gemeinsame Verteilung von in der EU zugelassenen Impfstoffen geeinigt haben. Russlands Raumsonde Sputnik 1 löste im Westen 1957 den Sputnik-Schock aus, denn Russland war damit der erste Start eines künstlichen Erdsatelliten gelungen und das noch vor den USA. Sputnik 1 sendete ein Kurzwellensignal und verglühte schließlich nach 92 Tagen Piepsen in der Erdatmosphäre. Die Sputnik V Mission war schon ein Test für bemannte Raumflüge. An Bord waren zwei Hunde, 40 Mäuse und zwei Ratten, die immerhin wohlbehalten einen Tag später wieder auf der Erde landeten. Mit einem zweiten Sputnik Schock ist freilich nicht zu rechnen. Russland wird genug damit zu tun haben seine eigene Bevölkerung zu schützen. Derzeit steigt die Zahl der Corona-Toten auch in Russland dramatisch an. Das Warten auf das Sputnik-Wunder dauert noch an.

Über „illiberale Demokratie“ und die Lage des Rechtsstaates in Ungarn, über die Situation von Frauen zwischen Corona und Rechtspopulismus – und über die Emigration der Central European University nach Wien sprach Felicitas Heimann-Jelinek mit Professorin Andrea Petö am 10. September 2020 in Wien.