Weihnachten auf Lesbos

Europäisches Tagebuch, 22.12.2020: In zwei Tagen ist Weihnachten. Das „provisorische“ Lager Kara Tepe auf Lesbos, in das die Insassen des abgebrannten Lagers Moria zwangsumgesiedelt wurden, versinkt im Schlamm. Dann wird das Wasser abgepumpt. Dann versinkt es wieder im Schlamm. Es wird kalt. Statt in selbstgebastelten Holzhütten, die sie sich in Moria noch bauen konnten, leben 7500 Menschen, davon 2500 Kinder, nun in Zelten ohne Heizung. Die Bewohner versuchen mit ihren Camping-Gaskochern ein wenig Wärme zu produzieren. Immer öfter werden sie mit Brandwunden behandelt. In den Zelten ist es dunkel. Nach drei Monaten gibt es noch immer kein warmes Wasser. Sanitäranlagen gibt es auch nicht. Ab 17.00 Uhr ist es im Lager stockfinster, da es keine funktionierenden Straßenlaternen gibt. Schulen oder Kinderbetreuung gibt es auch nicht. Das Camp verlassen dürfen die Insassen einmal in der Woche, für vier Stunden zum Einkaufen.
Das Lager liegt auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz am Meer. Der Schlamm ist voller bleihaltiger Übungsmunition. Viele Kinder trinken abends nichts, weil sie Angst haben, nachts aufs Klo zu müssen. Klos, die es nicht gibt. Viele haben massive Schlafstörungen, Panikattacken und Alpträumen. Ein dreijähriges Mädchen ist im Lager vergewaltigt worden. Manche Kinder begehen Selbstmordversuche. Die ausländischen Helfer, die im Lager Flüchtlinge betreuen, wissen nicht mehr, mit welchen Argumenten sie den Kindern den Selbstmord ausreden sollen. Manche der Helfer arbeiten für SOS-Kinderdorf. Die Organisation betreibt auf Lesbos in der Nähe des neuen Lagers seit Jahren ein kleines Kinderschutzzentrum, das eigentlich Ende des Jahres aufgelöst werden soll. Sie fordern seit Monaten stattdessen auch in Kara Tepe wenigstens eine Tagesbetreuung für einen Teil der Kinder einrichten zu dürfen.
Einige Zeit lang gingen die Insassen von Kara Tepe ins Meer zum Baden, bis es dafür zu kalt wurde. Da sich die Menschen nicht mehr Waschen können, breitet sich Krätze im Lager aus. Auch Erkältungskrankheiten und Lungenentzündungen grassieren. Und immer mehr Kinder, nicht zuletzt die Babys, leiden unter Rattenbissen, berichten die Ärzte ohne Grenzen. In den anderen Lagern auf den Inseln sieht es nicht viel besser aus. Im Lager Vathy auf Samos leben 3700 Menschen in einem Lager, das für 600 Menschen eingerichtet wurde. Hier mussten kürzlich die Bewohner gegen Tetanus geimpft werden, wegen der zunehmenden Gefährdung durch Rattenbisse.

Die österreichische Regierung verhindert nach wie vor, dass Länder und Gemeinden in Österreich Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufnehmen können. Auch in der ÖVP wächst der Druck auf den Kanzler, endlich die populistische Blockade aufzugeben. Doch Kurz hat schon vor Jahren angekündigt, dass es „hässliche Bilder“ geben würde. Seine Politik setzt auf Abschreckung, Kindesmisshandlung, Folter, Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Warum soll er auf der Höhe seines Erfolgs davon abrücken?

Geiseln dieser Politik sind auch die Grünen, die sich im Parlament am Montag aufs Neue in Koalitionsdisziplin übten und gemeinsam mit türkisblau-blau einen SPÖ-Antrag für die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnten. Und doch scheint es jetzt eine türkisblaue Doppelstrategie zu geben. Es sind ja nur noch wenige Tage bis Weihnachten. Das Fest der Flüchtlinge und Notunterkünfte. Der unschuldigen Kinder. Der Herzenswärme.

Ein PR-Berater des Kanzlers, Wolfgang Rosam, hatte schon länger die Idee zu einem genialen PR-Gag gegen Erfrierungserscheinungen am Herzen. Jetzt hat man sich an das SOS-Kinderdorf erinnert, das seit Monaten darum bettelt, etwas für die Kinder auf Lesbos tun zu dürfen. Nach dem missglückten  Auftritt von Türsteher Nehammer, der sich nach dem Brand von Moria breitbeinig vor einem dicken russischen Flieger filmen ließ, dessen Ladung inzwischen in irgendeiner griechischen Lagerhalle vor sich hin gammelt („Hilfe vor Ort“) – muss nun der Chefdiplomat des Reiches ausrücken.

Vor ein paar Tagen wurde SOS-Kinderdorf von der freudigen Nachricht aus dem Außenministerium überrascht. Zu Weihnachten soll es nun doch ein paar weniger hässliche Bilder geben. Und eine Tagesbetreuung für Kinder in Kara Tepe. Eine Genehmigung der griechischen Behörden gibt es allerdings noch nicht, auch sonst ist nicht wirklich klar, ob und wann es den „sicheren Ort“ für Kinder – wenigstens ein paar Stunden am Tag – geben wird. Aber Außenminister Schallenberg ließ sich dafür am Wochenende schon einmal in der Nachrichtensendung Zeit im Bildfeiern. Ein schönes Bild, das Bild eines selbstzufriedenen Mannes, der Gutes tut. Zumindest sich und seinem Kanzler.
Ob das Ablenkungsmanöver den Kindern auf Lesbos wenigstens eine kleine Flucht aus dem Elend ermöglichen wird, bleibt abzuwarten. Auch der Geschäftsführerin von SOS-Kinderdorf wäre es lieber, sie gleich nach Österreich zu bringen. Aber die Herbergssuche in diesem Land ist wohl wieder mal vergeblich.
Fröhliche Weihnachten.

4 Gedanken zu „Weihnachten auf Lesbos

  1. lieber hanno,
    du schreibst so treffend über dieses drama,
    das durch nichts anderes als den kniefall der türkisen vor den rechten zu erklären ist.

    möge die herzenswärme gewinnen.
    wann?
    in verbundenheit
    bernhard

  2. Was für eine Schande für Europa und eine Schande, dass man diesen Satz Jahr für Jahr wiederholen muss! Ein Exempel zur Abschreckung an Menschen zu statuieren, zynischer geht es ja nicht.

  3. “Hässliche Bilder” hat Herr Kurz prophezeit: A self-fulfiling prophecy, denn es werden deren immer mehr. Da hat die Herzenswärme keinen Platz, gerade nicht in der kalten Jahreszeit.

  4. Der emeritierte Innsbrucker Univ.Prof. für Politikwissenschaft Dr. Anton Pelinka hat in einem auf YouTube nachzusehenden Video vom 29. November 2020 auf den Stufen der Innsbrucker Universität zu den Verhältnissen auf den griechischen Inseln klare Worte gefunden. Er hat dabei festgestellt, dass “die österreichische Bundesregierung eine Politik der Mitleidlosigkeit gegenüber den Menschen auf den griechischen Inseln vertritt” und ergänzend dazu gemeint, dass wir nach einem bestimmten Verständnis von Demokratie die Regierung hätten, die wir verdienten. Univ. Prof. Anton Pelinka wörtlich weiter: “Wenn wir meinen, wir verdienen diese Regierung der Mitleidlosigkeit nicht, müssen wir sie bestrafen, das heißt, wir müssen die Regierung, wir müssen die Regierungsparteien bei den nächsten Wahlen ganz einfach abwählen.” Die nächsten Wahlen kommen ganz bestimmt, früher oder später. Eher aber früher.

Kommentare sind geschlossen.