Yad Vashem. Ein Denkmal. Eine Name. Ein Streit

Europäisches Tagebuch, 26.11.2020: Fast genau zehn Jahre ist es her, da besuchte ein aufstrebender, nationalistischer Politiker aus Österreich die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Anfang Dezember 2010 war es. Statt mit einer Kippa oder einem Hut betrat er die Gedenkstätte mit einem Burschenschaftlerkäppi. Daheim in Wien freuten sich Rechtsextreme aller couleur schenkelklopfend über diesen makabren Scherz. Andere machten sich Sorgen, dass der demonstrative Pro-Israel-Kurs Rechtspopulisten nun auch in Österreich salonfähig machen könnte. Wenn Israel ihn so im Land willkommen heißt, „kann in Österreich über kurz oder lang niemand mehr etwas sagen. Er macht sich regierungsfähig.“ So warnte damals ein Vertreter des Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands. Nun, ja sieben Jahre später war der seltsame Gast aus Österreich Vizekanzler. Und wäre es wohl noch heute, wenn ihm keine falsche Oligarchin über den Weg gelaufen wäre.

Nun gibt es wieder Streit um Yad Vashem. Auch diesmal geht es um einen rechtsextremen Rassisten. Doch dieser soll, ginge es nach Benjamin Netanjahu, nicht zu Besuch kommen, sondern die Leitung der „Welt-Gedenkstätte des Holocaust“ übernehmen: Effi Eitam.

Eitams militärische Karriere als Brigadegeneral gipfelte in der Bekämpfung der palästinensischen Intifada. Vier seiner Soldaten schlugen damals auf seinen Befehl hin einen palästinensischen Gefangenen zu Tode und wurden – immerhin – verurteilt. Eitam kam mit einer Maßregelung davon, wurde aber nicht mehr befördert.
Konsequenterweise zog es ihn in die Politik, wo er als Knessetmitglied und als Minster unter anderem mit rassistischen Äußerungen auffiel, als er arabische Israelis als Krebsgeschwür bezeichnete und verlangte, diesen Staatsbürgern das Wahlrecht zu entziehen. Er verlangte Palästinenser gewaltsam aus dem Westjordanland zu vertreiben und einen der bekanntesten palästinensischen Führer, Marwan Bargouti, zu ermorden.

Die geplante Ernennung hat weltweit Proteste ausgelöst, von Überlebenden des Holocaust genauso wie von Wissenschaftlern, Gedenkstätten, Archiven und Jüdischen Museen. Schließlich ist Yad Vashem auch eine wissenschaftliche Institution und eines der bedeutendsten Archive der Welt. Soll es in Zukunft der Spielball nationalistischer Politik und der ausdrücklichen Unterdrückung von Minderheiten sein? Am Dienstag gingen in Israel Überlebende der Shoah auf die Straße und protestierten vor den Büros des zuständigen Ministers Ze’ev Elkin. „So wie Eitam über unsere Bürger und Nachbarn spricht, erinnert mich daran, was ich hörte als ich ein Kind war“, sagte eine der greisen und offenbar wach und jung gebliebenen Demonstrantinnen, die 92jährige Eva Morris, der Jerusalem Post.

Im Konflikt um diese Besetzung werden freilich nur jene Widersprüche auf grotesk übersteigerte Weise offenbar, die schon lange ein Problem sind. Und nicht nur in Israel. Gedenkstätten sind und waren schon immer ein Spielball nationalistischer Politik. Ob in Polen, wo in Auschwitz jahrzehntelang das polnische Leiden als „Jesus unter den Völkern“ zelebriert wurde, und die jüdischen Opfer unter den polnischen vereinnahmt wurden. Oder in Buchenwald, wo das „wahre“ Deutschland, befreit von Faschismus und Kapitalismus, sich unter die Völker der Welt einreihte, deren Erlösung im Kommunismus bestand. Ob in der „Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“, wo eine aufgeblasene Kopie einer „Pieta“ von Käthe Kollwitz seit 1993 auch alle jüdischen und anderen Opfer der Massenvernichtung in christlicher Ikonographie und als anonym gefallene Soldaten erinnert. Und damit zugleich zu Opfern eines ebenso anonymen Bösen erklärt, das mit Deutschland nichts zu tun hatte. Oder eben in Yad Vashem, das als Memorial nicht nur einen universellen Anspruch als Welt-Gedenkstätte erhebt, sondern zugleich alle Opfer des Holocaust nicht nur einem verständlicherweise jüdischen sondern einem nationalistischen Narrativ einverleibt. Als „Gedenkstätte für die Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust“ erklärt Yad Vashem (einem israelischen Gesetz folgend) die Toten nämlich posthum zu israelischen Staatsbürgern. Mein Großvater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er denn je ein Grab bekommen hätte.

Der Weg durch das vor 15 Jahren neu eröffnete Geschichtsmuseum von Yad Vashem endet nicht mit einer architektonischen Geste des Traumas, keinem wie auch immer authentischen oder eben auch inszenierten Ausdruck dessen, womit die Überlebenden seit 1945 zu Recht kommen müssen. Nein der Weg durch das Museum endet auf einem herrschaftlichen Balkon, einem Blick von oben im Triumph über das Land – und mit einem Seitenblick auf jenen Hügel, auf dem das Dorf Deir Yassin stand, dessen Bewohnerinnen und Bewohner von rechten Milizen unter dem Befehl von Menachem Begin 1948 massakriert wurden. Schon 1988 fasste Yehuda Elkana den inneren Widerspruch jedes Holocaust Gedenkens in eine einprägsame Formel. Es gibt zwei widerstreitende Imperative die zu gänzlich verschiedenen Konsequenzen führen: „das soll nie wieder geschehen“ – oder „das soll UNS nie wieder geschehen“.
Zugleich offenbart sich im Konflikt um Eitam aber auch das grundsätzliche Dilemma des israelischen Staates, der zugleich eine Demokratie und ein jüdischer Staat sein will. Omri Boehm hat dies in seinem neuen Buch „Israel- eine Utopie“ mit guten Gründen als den Versuch beschrieben, so etwas zu sagen wie: „Ein Quadrat ist quadratisch, insofern es rund ist, und ein Kreis ist rund, insofern er quadratisch ist. Man behauptet nichts weiter als einen Widerspruch, aber mit Pathos, und glaubt daran.“

Auch Yad Vashem soll, als „nationale Gedenkstätte“, eine Quadratur des Kreises sein, ein Manifest gegen Rassismus und die Unterdrückung von Minderheiten, und zugleich eine Institution der Herstellung jüdisch-israelischer Identität, die einen wachsenden Teil der israelischen Staatsbürger symbolisch ausschließt. Effi Eitam wäre tatsächlich der Mann dafür, diesen Widerspruch „aufzulösen“. Freilich mit fatalen Konsequenzen. Denn Yad Vashem ist auch eines der wichtigsten Archive der Welt, eine Forschungsstätte, an der viele Menschen ihr Leben ernsthaft der Erinnerung an das größte Menschheitsverbrechen gewidmet haben. Ein Verbrechen, an das man nur erinnern kann, wenn man seine universelle und seine jüdische Dimension gleichermaßen in den Blick nimmt. Ohne es für nationale politische Zwecke, also für Herrschaft über andere zu missbrauchen.

Und schließlich offenbart sich im Streit um Yad Vashem ein wachsender Widerspruch zwischen Juden in der Diaspora und dem israelischen Staat, der Juden auch gegen ihren Willen vereinnahmt, tot oder lebendig, und gegen die arabischen Bürger Israels und gegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten ausspielt. Ein Streit, der inzwischen sogar die Besetzung führender Positionen in zionistischen Organisationen weltweit erfasst, Entscheidungen, die die israelische Regierung zur alleinigen Angelegenheit ihrer inneren Koalitionsdeals gemacht hat, statt sie wie bisher mit jüdischen Organisationen in der Diaspora abzustimmen.

Wenn es nun auch über die Besetzung des Vorstands von Yad Vashem zu einem Koalitionsstreit zwischen Israels „besten Feinden“, Benjamin (Bibi) Netanjahu und Benjamin (Benny) Gantz kommt, dann nicht, weil Benny Gantz Probleme damit hat, Yad Vashem als Ort nationalistischer Gehirnwäsche zu missbrauchen, sondern, weil auch innerhalb Israels gerade wieder eine Reihe von Top-Posten zu besetzen sind. Und dabei wollen beide einen guten Schnitt machen. Netanjahu braucht schließlich in der Justiz Leute in führenden Positionen, die ihm den drohenden Prozess ersparen.
Der für Yad Vashem zuständige Minister Ze‘ev Elkin, der an Eitams Besetzung eisern festhalten möchte, hat indessen schon den Gipfel der zynischen Verlogenheit erklommen:  Er hoffe doch, sagte er der israelischen Tageszeitung Haaretz, dass „Yad Vashem nicht Geisel in einem politischen Spiel wird. Es gibt Dinge, die stehen über der Politik.” Wenn es gelingt, Effi Eitam zu verhindern, wird ein bitterer Beigeschmack bleiben. Und viel zu tun. Das müssen wir wissen.