Gerald Reitlinger: Auf einem Turm von Schädeln

Europäisches Tagebuch, 2. März 2023: Heute vor 123 Jahren wurde Gerald Reitlinger geboren.

von Hanno Loewy

Aus einem Archäologen und Kunstsammler wurde ein Historiker des Holocaust. Das Leben Gerald Reitlingers führte ihn zunächst in die alte Vergangenheit Asiens, bevor ihn die jüngste Vergangenheit Europas dazu brachte, sich in die Archive der Täter zu versenken.

Geboren wurde der jüngste Sohn von Albert Reitlinger und Emma Brunner – die aus der gleichnamigen Hohenemser Familie stammte – am 2. März 1900 in London. Nach seinem Kunststudium an Londoner Akademien und der Kulturwissenschaften in Oxford nahm Reitlinger 1930-31 an Ausgrabungen im Irak teil, unternahm Forschungsreisen in den Iran, die Türkei und nach China. 1932 erschien sein Buch A Tower of Skulls. A Journey Through Persia and Turkish Armenia. Daneben sammelte er mit Begeisterung syrische wie persische Keramik – und lebte das Leben eines exzentrischen Connaisseurs, der für seinen galligen Humor bekannt war.

Gerald Reitlinger, Portrait von Christopher Wood; © Ashmolean Museum, Wikimedia Commons

Im Zweiten Weltkrieg diente er in der britischen Armee zunächst in der Luftabwehr, dann als Ausbilder. Doch nach 1945 widmete er sein Leben der Erforschung des Holocaust. 1953 veröffentlichte er in London die erste Gesamtdarstellung der Schoa: The Final Solution. Betroffen und skeptisch stellt er den nationalen Gedächtnisverlust in Frage, der die ehemaligen Täterländer bald flächendeckend erfasst hatte. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte lehnte es ab, Reitlingers Buch zu veröffentlichen. Man wollte sich in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht von „außen“ stören lassen. Das Buch erschien schließlich trotzdem auf Deutsch unter dem Titel Endlösung. 1956 folgte seine Studie über The SS. Alibi of a Nation 1922-1945. Das Buch bekam von seinem deutschen Verlag freilich einen weniger sarkastischen Titel verpasst, um sie dem deutschen Publikum schmackhaft zu machen: Die SS – Tragödie einer deutschen Epoche. Noch ein drittes Buch über die NS-Verbrechen folgte. The House Built on Sand. The Conflicts of German Policy in Russia 1939–1945 erschien 1960 in London, und unter dem Titel Ein Haus auf Sand gebaut. Hitlers Gewaltpolitik in Russland 1941–1944 auch auf Deutsch.
Reitlinger schrieb über den Holocaust mit unbestechlichem Blick. Aber selbst dem Studium der monströsen Aktenbestände der SS gewann er mit bissigem Sarkasmus einen schwachen Optimismus ab: „Hiob wünschte in seinem Elend, sein Widersacher möge ein Buch schreiben, und sein Gebet wurde erhört, denn es gibt in Wahrheit nichts, das dieser Widersacher nicht zu Papier gebracht hätte. Ich habe fast volle vier Jahre unter diesen Urkunden verbracht und habe ihre Gesellschaft nicht nur düster oder niederdrückend gefunden. Denn auf vielen Seiten huscht und glimmt etwas, ohne das jede Regierung eine Hölle auf Erden wäre – menschliche Fehlbarkeit. (…) Es kann sein, daß mörderisches Rassegefühl unausrottbar in der Natur von Ameisen und Menschen liegt; der Roboterstaat jedoch, der ihm vollen Ausdruck geben würde, kann und wird niemals von Bestand sein.“

Und doch endet sein Buch mit unbequemen Fragen und zugleich mit einer großbürgerlichen Sehnsucht nach „alten Werten“:
„Ist die Beseitigung von auserlesenen Opfern etwas, das geradezu in der Natur des übermächtigen modernen ‚demokratischen‘ Staates verborgen liegt? Kann es wieder geschehen, und kann es in andern Ländern geschehen? Es mag lange dauern, bevor wir die Antwort auf diese Fragen kennen, die wie ein roter Faden durch dieses ‚Postmortem‘ über die Endlösung laufen.
Es ist schwer zu glauben, daß es in Deutschland oder im deutschbesetzten Teil Europas einen Menschen gab, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war und während der letzten zwei Jahre des Krieges nicht wußte, daß die meisten Juden verschwunden waren, oder nicht irgendwo gehört hätte, daß sie erschossen oder vergast worden sind. Ebensowenig nehme ich an, daß es einen Menschen gab, der nicht einen Freund hatte, der jemanden kannte, der ein Massaker gesehen hatte. Mehr als hundert Millionen Menschen müssen von diesen Dingen gewußt und über sie im Flüsterton mit andern gesprochen haben. (…) Der Deutsche von 1933 war eine Art Karikatur der europäischen Zivilisation, die um so leichtfertiger, habgieriger und unkritischer wurde, je mehr materieller Fortschritt die alten Werte untergrub.“

Nach seinen drei Büchern über die NS-Verbrechen kehrte Reitlinger zur Kunst- und Kulturgeschichte zurück. Sein dreibändiges Werk The Economics of Taste (1961-1970) widmet sich der Geschichte des Kunstmarktes von 1760 bis zur Gegenwart. Seine eigene, bedeutende Sammlung, die kurz vor seinem Tod 1978 durch ein Feuer in seinem Haus beschädigt wurde, vermachte er dem Ashmolean Museum in Oxford, wo sie heute die „Gerald Reitlinger Gallery“ bildet.

Moritz Julius Bonn: Zollfeindliche Luft und europäische Demokratie

Europäisches Tagebuch, 25. Januar 2023: Heute vor 58 Jahren starb Moritz Julius Bonn in London.

von Hanno Loewy

Erst in jüngster wird der fast vergessene Gelehrte als Vorbote sozialliberalen Denkens wieder entdeckt – und nicht zuletzt auch als früher Kritiker des Kolonialismus. In wenigen Wochen wird die deutsche Ausgabe seiner Autobiographie Wandering Scholar (So macht man Geschichte? Bilanz eines Lebens) in einer Neuausgabe in der Europäischen Verlagsanstalt in Hamburg erscheinen, herausgegeben von Jens Hacke, der viel zur Neuentdeckung Bonns beigetragen hat.

Moritz Julius Bonn
Quelle: Bundesarchiv

Aufgewachsen in Frankfurt am Main kehrte Moritz Julius Bonn am Ende seines Lebens  und vielen Stationen in Deutschland, Österreich, England und den USA ganz pragmatisch – wenn auch wohl nur auf dem Korrespondenzwege – an jenen Ort zurück, mit dem er intensive Kindheitserinnerungen verband: Hohenems, die Heimat seiner Mutter.

Er war es schließlich, der in den 1950er Jahren einen vorläufigen Schlussstrich unter die Geschichte der Familie Brunner in Hohenems setzte: er organisierte den Verkauf des Brunnerhauses an der ehemaligen Israelitengasse, die 1909 in Brunnerstraße umbenannt worden war – bevor sie 1938 nach einem Nazi-Terroristen benannt wurde, der 1934 den Innsbrucker Polizeipräsidenten ermordet hatte.

Das Brunner-Haus gehörte auch nach 1945 noch immer einer Erbengemeinschaft von Nachkommen des letzten Hohenemser Brunner, Marco, der 1888 gestorben war – Nachkommen, die 1938 aus Wien in die USA geflohen, oder schon vorher emigriert waren, so wie Moritz Julius Bonns Mutter Elise, die 1872 den Frankfurter Bankier Julius Bonn geheiratet hatte.

Moritz Julius Bonn wurde 1873 in Frankfurt am Main geboren. 1876 verbrachte die Familie aus geschäftlichen Gründen in London, doch ein Jahr später starb sein Vater. Moritz Julius verbrachte seine Kindheit in Frankfurt, und die Sommerfrische in Hohenems, wo er das Landleben bei seinem Großvater Marco genoss – und, wie Bonn später schreiben sollte, die „zollfeindliche Luft“ der österreichisch-schweizerischen Grenzregion.

Nach Studien in Heidelberg, München, Wien, Freiburg und London, sowie Forschungsaufenthalten in Irland und Südafrika begann seine erfolgreiche Laufbahn als Nationalökonom. In Italien lernte er die Engländerin Theresa Cubitt kennen, die er 1905 in London heiratete, im gleichen Jahr, in dem er sich über die englische Kolonialherrschaft in Irland habilitierte. Bei Kriegsausbruch 1914 war Bonn unterwegs zu einer Gastprofessur in den USA. Bis 1917 lehrte er dort an verschiedenen Universitäten, bevor er nach dem Kriegseintritt der USA nach Deutschland zurückkehren musste. Als Politikberater nahm er an zahlreichen Nachkriegskonferenzen teil, schrieb über Freihandel und wirtschaftlichen Wiederaufbau, kritische Studien über den Kolonialismus, das Ende der Imperien und über die europäische Demokratie. Mit dem autoritären Staatsrechtler Carl Schmitt, der später zum Vordenker der Nazis werden sollte, stritt er über das Wesen demokratischer Herrschaft. Während Schmitt ethnische Homogenität propagierte, sah Bonn als Demokratie nur in Pluralismus und ethnischer Diversität als überlebensfähig an. Bonn gehörte zu den führenden Wirtschaftsfachleuten der Weimarer Republik, wurde Rektor der Handelshochschule in Berlin und Leiter des von ihm gegründeten Instituts für Finanzwesen.

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 musste Bonn emigrieren, zuerst nach Salzburg, dann nach London, und schließlich in die USA, wo er an diplomatischen Bemühungen teilnahm, die US-Regierung davon zu überzeugen in den Krieg einzutreten um Europa zu retten. Dort schrieb er auch seine Autobiographie Wandering Scholar (die auf deutsch 1953 unter dem Titel So macht man Geschichte erschien). 1946 ließ er sich endgültig in London nieder, wo er 1965 verstarb. Sein letztes Buch war dem Projekt der europäischen Einheit gewidmet: Wither Europe – Union or Partnership? Er machte sich darin keine Illusionen. Es würde noch ein weiter Weg zur den Vereinigten Staaten von Europa sein, und die europäischen Nationalismen seien auch nach der Katastrophe der Weltkriege noch lange nicht überwunden sein.

Sein Denken als sozialliberaler Demokrat blieb zeitlebens von seinem Hohenemser Hintergrund geprägt, dem „Vielvölkerstaat“ der Habsburger und den demokratischen Freiheitsidealen der nahen Schweiz. So schrieb er in seiner Autobiographie:

„Lange bevor ich das österreichische Problem verstand, hatte ich manche seiner Facetten gesehen. Von Vorarlberg her waren mir die Gesichter der slowenischen Hausierer vertraut, die allerlei Drahtwaren in ihren Kiepen trugen und das Land durchwanderten. Adolf Hitler, den ich ein paarmal aus der Nähe betrachten konnte, hatte große Ähnlichkeit mit diesen „Mausefallenhändlern“, wie man sie in Hohenems nannte. Er hatte dieselben hohen Backenknochen, das harte, strähnige Pferdehaar und starre grau-blaue Augen. Er war sicher gleich ihnen und Millionen anderer österreichischer Untertanen ein Mischling. Denn Österreich war ein echter Völkerstaat, in dem trotz aller nationalen Antipathien Mischungen an der Tagesordnung waren. Im Raumland des stärksten Kampfes, in Böhmen, gab es führende Tschechen mit deutschen Namen und Deutschnationale mit tschechischen Vorzeichen. Unser Postmeister in Hohenems war aus Ungarn. Meine Stiefgroßmutter war in Bozen geboren; sie sprach von ihren italienischen Nachbarn immer als den „Welschen“. Meine Vettern in Triest hatten neben ihrem Hauptgeschäft einen kleinen offenen Laden, wo sie Baumwollwaren verkauften. Dort sah ich Kroaten in ihren weißen Schafpelzen, Dalmatier und Bosnier. Jedermann in Triest sprach italienisch, doch schon eine halbe Stunde außerhalb der Stadt befand man sich in einer rein slowenischen Gegend, wo die meisten Leute weder deutsch noch italienisch verstanden. Eine Kusine meiner Mutter war in Brünn verheiratet. Ihr Mann war trotz seines ausgesprochen jüdischen Aussehens ein führender Deutschnationaler, der sich über den drohenden Verlust der Vormachtstellung der deutsch-sprachigen Bezirke Böhmens und Mährens nicht beruhigen konnte. (…) Das Habsburgische Reich war ein Splitterreich, das sich mit nahezu allen europäischen Problemen auseinanderzusetzen hatte. Es war einzig in seiner Art, denn es bestand fast ausschließlich aus mehr oder minder unerlösten Minderheiten. (…)

Mit dem Aufkommen von Demokratie und Maschinenzeitalter hatten die Kräfte, die die alte Monarchie zusammenhielten, die Krone, der Hof, die Kirche, das Beamtentum und vor allem die gemeinsame Armee an Einfluss verloren. Sie hatten aber auch einen starken Verbündeten gewonnen: die Sozialdemokraten. Die österreichischen Sozialisten hatten die Bedeutung eines wirtschaftlich geeinten Reiches im Donauraum begriffen. Sie sahen darin die Nabe Europas; wurde sie herausgerissen, so wurde der Wagen aus der Bahn geschleudert.“[1]

[1] Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte, 1953, S. 67ff.

 

Lucian Brunner: Sprachenstreit und Nationalitätenhader

Europäisches Tagebuch, 15.4.2021: Heute vor 107 Jahren starb der ehemalige Wiener Gemeinderat Lucian Brunner in Wien. Geboren wurde er am 29 September 1850 in Hohenems als Sohn von Marco Brunner und Regina Brettauer. Lucians Vater war wie die meisten seiner Brüder und Cousins in ihrer Jugend nach Triest aufgebrochen um an dem regen Textilhandel zwischen St. Gallen und dem Mittelmeerraum zu partizipieren, mit dem die Familie Brunner ihren steilen ökonomischen Aufstieg begann. Später ging Marco Brunner nach St. Gallen, wo er die Geschäfte der Familie in der Schweiz vertrat und bald auch das „Bankhaus Jakob Brunner“ führte, aus dem später einmal die UBS hervor gehen sollte.
1883 trat auch Lucian Brunner als Kompagnon in die Privatbank seines Vaters in St. Gallen ein. Bald darauf, 1889, ließ Lucian sich mit seiner Frau Malwine Mandel in Wien nieder, wo er sein eigenes Bankgeschäft gründete aber auch als Industrieller und Politiker tätig wurde. Er engagierte sich in einer kleinen liberal ausgerichteten Partei, den „Wiener Demokraten“, für die er von 1896 bis 1901 dem Wiener Gemeinderat angehörte, wie auch als Obmann des „Demokratischen Zentralvereins“ und als Herausgeber der dazugehörigen Zeitung „Volksstimme“. Im Wiener Gemeinderat trat er immer wieder dem antisemitischen Bürgermeister Karl Lueger entgegen, wo er den immer lauter werdenden nationalistischen Parolen widersprach. In der Auseinandersetzung um die Badenische Sprachenverordnung vertrat er gegenüber der aufwallenden Feindseligkeit gegenüber den Tschechen eine mäßigende Position. Er vertrat die Ansicht, dass die deutsche Verkehrssprache nicht mit nationalistischem Ressentiment, sondern aus Vernunftgründen verteidigt werden müsse, ohne die Sprachminderheiten im Reich abzuwerten. „Die Vertretung der Stadt Wien (…) muß sich gegenwärtig halten, daß sie nicht bloß das Zentrum eines Landes ist, welches von einer Nationalität bewohnt ist, sondern von vielen Nationalitäten und es soll daher verhütet werden, daß etwa eine andere Nationalität des Reiches glaube, daß in dieser Resolution eine Spitze, eine Feindseligkeit gegen sie enthalten sei. (…) Es ist ja seit Jahr und Tag bei uns in Österreich üblich, daß man eine Politik der Schlagwörter macht und zu den zügigsten dieser Schlagwörter gehört der Nationalitätenstreit und der Nationalitätenhader. Wenn eine politische Partei nichts mehr anzufangen weiß, dann fängt sie an, Nationalitätenstreitigkeiten hervorzurufen.“ Als im Oktober 1897 Vertreter der tschechischen Minderheit in Wien eine neue Schule für sich forderten, ging er ebenfalls auf Distanz zum nationalen Furor und rief dazu auf Pluralismus zuzulassen – und verweis dabei auf seine eigenen Erfahrungen als Angehöriger der deutschen Minderheit in Triest. Stattdessen wurde er im Gemeinderat als „Jude“ beschimpft. „Gerade der Zwang, mit dem man die Völker Österreichs zum Deutschtum zwingen wollte, hat das Deutschtum geschädigt. (…) Wir wollen das Recht für unsere Minoritäten, deshalb dürfen wir selbst auch nirgends das Recht einer Minorität unterdrücken! Außerdem steht es der großen deutschen Kulturnation nicht gut an, wenn sie sagt, wir fürchten uns vor dieser tschechischen Schule in Favoriten. (…) Ich bin ein Jude, wie Sie ganz richtig sagen, und meine Herren, ich bin froh daß ich einer bin.“

Vollends zum Feindbild der Christlichsozialen wurde er mit seinem Protest gegen eine geplante Kirchenbausubvention der Christlichsozialen Mehrheit. Gegen dieses Bruch mit der Religionsneutralität des Staates reichte Lucian Brunner eine Klage ein, die schließlich vor dem Höchstgericht Erfolg hatte. Damit verteidigte er die verfassungsmäßig garantierte Trennung von Kirche und Staat – und wurde nun zum beliebten Ziel andauernder antisemitischer Angriffe, in Wien wie in Vorarlberg. Lucian Brunners erste Frau, Malwine, starb während dieser Kampagnen, die der Familie Brunner auch persönlich zusetzten.
Mit seiner Heimatgemeinde Hohenems blieb Brunner immer in engem Kontakt. So spendete er beispielsweise für den Bau des Krankenhauses und der Turnhalle namhaften Summen. Mehrfach versuchte er auch in Zusammenarbeit mit Hohenemser Liberalen und der Fabrikantenfamilie Rosenthal Straßenbahnprojekte in Hohenems zu realisieren, die Hohenems mit der Schweizer Eisenbahn jenseits des Rheins oder auch mit Lustenau verbinden sollten. Ein letztes Straßenbahnprojekt, das 1911 den Hohenemser Bahnhof mit der Rosenthalschen Fabrik im Süden der Marktgemeinde verbinden sollte, kam ebenfalls nicht zustande, da die Wirtschaftslage die Firma Rosenthal inzwischen schwer in Mitleidenschaft zog. Auch in Hohenems agitierten die Christlichsozialen inzwischen gegen den „Juden“ Brunner – und gegen die Rosenthals, die die Schule mit italienischen Kindern „vollstopfen“ würden.
Brunner blieb zeitlebens ein Liberaler, auch wenn er am Ende seines Lebens die zionistische Bewegung in Wien unterstützte, wohl aus Enttäuschung über die politische Entwicklung in Österreich. Als er am 15. April 1914 in Wien starb, hinterließ er ein Legat für eine überkonfessionelle Schule in seiner Heimatgemeinde. Der Hohenemser Gemeinderat nahm das Legat nicht an. Eine überkonfessionelle Schule war nicht erwünscht.

Rückblick, 15.4.2020: US-Präsident Trump erklärt, der Höhepunkt der Corona-Pandemie sei überschritten. Und kündigt an, dass die USA ihre Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisation WHO einstellen wird. Der deutsche Entwicklungsminister Müller erklärt hingegen, die Zahlungen an die WHO zu erhöhen: „Die WHO muss jetzt gestärkt werden, nicht geschwächt. Inmitten der Pandemie die Mittel zu kürzen, ist der absolut falsche Weg.“
Trump entscheidet außerdem, dass die von der US-Regierung angekündigten „Not-Schecks“ an ca. 70 Millionen Bedürftige in den USA – in Höhe von 1200,- $ – seinen Namen tragen sollen, mitten im beginnenden Wahlkampf. Das hat es in der amerikanischen Geschichte noch nicht gegeben.
Trump droht damit, das Parlament in die Zwangspause zu schicken, mit der Begründung er wolle freie Stellen ohne parlamentarische Beteiligung besetzen. Von der Möglichkeit eine Parlamentspause zu anzuordnen, hat ebenfalls noch nie ein amerikanischer Präsident Gebrauch gemacht. Trump spielt bei einer Pressekonferenz mit zirkulierenden Verschwörungstheorien, z.B. dass der Virus aus einem chinesischen Labor stamme.

EU-Kommissionspräsidentin van der Leyen fordert indessen mehr Gemeinsamkeit der EU-Mitglieder ein: „Ein Mangel an Koordination beim Aufheben der Beschränkungen birgt die Gefahr von negativen Effekten für alle Mitgliedsstaaten und würde wahrscheinlich zu einem Ansteigen der Spannungen unter den Mitgliedsstaaten führen. Es gibt keinen ‘one-size-fits-all’-Ansatz in der Krise, aber die Mitgliedstaaten sollten sich mindestens gegenseitig informieren“, mahnt die EU-Behörde in Brüssel. Van der Leyen kündigt einen Wiederaufbauplan für Europa an, der einen gemeinsamen Fonds beinhalten soll.

Auf den griechischen Inseln werden nach wie vor 40.000 Flüchtlinge unter unmenschlichen Bedingungen in Lagern festgehalten. Heute werden 12 (in Worten ZWÖLF) aus Syrien und Afghanistan stammende Kinder aus Athen nach Luxemburg ausgeflogen. Luxemburg ist damit das erste von elf Ländern, die sich bereit zeigen, einige wenige unbegleitete oder kranke Minderjährige aus den Lagern aufzunehmen. Außer Luxemburg beteiligen sich Deutschland, die Schweiz, Belgien, Bulgarien, Frankreich, Kroatien, Finnland, Irland, Portugal und Litauen an der Rettungsaktion. Am Samstag sollen 58 Kinder nach Deutschland folgen. Die österreichische Bundesregierung weigert sich nach wie vor, dabei zu helfen, obwohl zahlreiche Bürgermeister inzwischen angeboten haben, neue Flüchtlinge aufzunehmen.

Auf einem Turm von Schädeln: Gerald Reitlinger

Europäisches Tagebuch, 2.3.2021: Heute vor 121 Jahren wurde Gerald Reitlinger geboren. Der jüngste Sohn von Albert Reitlinger und Emma Brunner – die aus der gleichnamigen Hohenemser Familie stammte – studierte Kulturwissenschaften in Oxford und Kunst an zwei Akademien in London. 1930 bis 1931 nahm er an einer Ausgrabung im Irak teil, unternahm in Folge mehrere Forschungsreisen in den Iran, die Türkei und nach China und schrieb Bücher über seine Forschungsreisen. 1932 erschien sein Buch A Tower of Skulls. A Journey Through Persia and Turkish Armenia. Daneben war Reitlinger ein begeisterter Sammler syrischer wie persischer Keramik.
Im Zweiten Weltkrieg diente er in der britischen Armee in der Luftabwehr und als Ausbilder.

Portrait Gerald Reitlingers von Christopher Wood aus dem Jahr 1926 (Quelle: Wikipedia)

Doch nach 1945 widmete er sein Leben der Erforschung des Holocaust. 1953 veröffentlichte er in London mit seinem Buch The Final Solution die erste Gesamtdarstellung der Schoa. Betroffen und skeptisch stellt er den nationalen Gedächtnisverlust in Frage, der die ehemaligen Täterländer bald flächendeckend erfasst hatte. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte lehnte es ab, Reitlingers Buch zu veröffentlichen. Man wollte sich in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht von „außen“ stören lassen. Das Buch erschien schließlich trotzdem auf Deutsch unter dem Titel Endlösung – so wie auch Reitlingers 1956 folgende Studie über The SS. Alibi of a Nation 1922-1945, die vom Verlag freilich einen weniger sarkastischen Titel verpasst bekam, um sie dem deutschen Publikum schmackhaft zu machen: Die SS – Tragödie einer deutschen Epoche. Noch ein drittes Buch über die NS-Verbrechen folgte: The House Built on Sand. The Conflicts of German Policy in Russia 1939–1945 erschien 1960 in London, und unter dem Titel Ein Haus auf Sand gebaut. Hitlers Gewaltpolitik in Russland 1941–1944 auf Deutsch.
Danach kehrte Reitlinger zur Kunst- und Kulturgeschichte zurück. Sein dreibändiges Werk The Economics of Taste (1961-1970) widmet sich der Geschichte des Kunstmarktes von 1760 bis zur Gegenwart.
Seine Sammlung, die kurz vor seinem Tod 1978 durch ein Feuer beschädigt wurde, vermachte er dem Ashmolean Museum in Oxford, wo sie heute die Gerald Reitlinger Gallery bildet.

Hier ein Blick in Buch Endlösung: „Die Leichenschau ist vorbei, aber es ist nicht die Aufgabe dessen, der sie durchgeführt hat, die Schuldigen zu finden oder ein Urteil über sie zu fällen. Trotzdem wird der Leser, der die Geduld hatte, auch nur einem Bruchteil dieses düsteren Berichtes zu folgen, sich Dutzenden Fragen gestellt haben, und einige davon müssen besprochen werden, auch wenn sie nicht beantwortet werden können.
Wieviel wußte der einfache Mann in Deutschland, und bis zu welchem Grade fühlte er, daß dies auch seine Angelegenheit war? Wie war es möglich, daß so viele Hunderte und sogar Tausende schwerarbeitender Beamter aller Dienststufen täglich in ihren Kanzleien den nicht mißzuverstehenden Schriftwechsel über den Rassenmord vorbereiteten, abschrieben oder weiterleiteten? Und wie ist es möglich gewesen, da wir doch sahen, daß jedes Ministerium mit allen andern Ministerien ständig im Kampf lag und daß Hitler niemals wirklich wußte, was dort eigentlich vor sich ging (…), daß nicht ein einziger der rechtschaffenen Männer, die ihre Sprüchlein in Nürnberg aufsagten, einen einzigen aktiven Protest wagte? (…)
Ist die Beseitigung von auserlesenen Opfern etwas, das geradezu in der Natur des übermächtigen modernen ‚demokratischen‘ Staates verborgen liegt? Kann es wieder geschehen, und kann es in andern Ländern geschehen? Es mag lange dauern, bevor wir die Antwort auf diese Fragen kennen, die wie ein roter Faden durch dieses ‚Postmortem‘ über die Endlösung laufen.
Es ist schwer zu glauben, daß es in Deutschland oder im deutschbesetzten Teil Europas einen Menschen gab, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war und während der letzten zwei Jahre des Krieges nicht wußte, daß die meisten Juden verschwunden waren, oder nicht irgendwo gehört hätte, daß sie erschossen oder vergast worden sind. Ebensowenig nehme ich an, daß es einen Menschen gab, der nicht einen Freund hatte, der jemanden kannte, der ein Massaker gesehen hatte. Mehr als hundert Millionen Menschen müssen von diesen Dingen gewußt und über sie im Flüsterton mit andern gesprochen haben. (…)
Und je höher der Deutsche stieg, desto größer wurde seine Angst, bis wir schließlich den Fall Heinrich Himmler vor uns haben, der fast durch Zufall zum Haupt des Polizeistaates gemacht wurde und den Hitler gerade deshalb beibehielt, weil er ein von Angst verfolgter Mann war, der denunziert und eingeschüchtert werden konnte. (…) Doch vor der Verschwörung gegen Hitler im Juli 1944 war nicht einmal ein einziger der unbedeutendsten Beamten aus der Kriegszeit abgeführt und erschossen worden. (…) Konnte man von diesen Männern erwarten, daß sie für die Menschenrechte eintreten würden? Wahrscheinlich waren sie nicht grausamer oder gewissenloser als das ganze deutsche Volk oder, genau genommen, die menschliche Rasse überhaupt. (…) Der Deutsche von 1933 war eine Art Karikatur der europäischen Zivilisation, die um so leichtfertiger, habgieriger und unkritischer wurde, je mehr materieller Fortschritt die alten Werte untergrub. (…) Hiob wünschte in seinem Elend, sein Widersacher möge ein Buch schreiben, und sein Gebet wurde erhört, denn es gibt in Wahrheit nichts, das dieser Widersacher nicht zu Papier gebracht hätte. Ich habe fast volle vier Jahre unter diesen Urkunden verbracht und habe ihre Gesellschaft nicht nur düster oder niederdrückend gefunden. Denn auf vielen Seiten huscht und glimmt etwas, ohne das jede Regierung eine Hölle auf Erden wäre – menschliche Fehlbarkeit. (…) Es kann sein, daß mörderisches Rassegefühl unausrottbar in der Natur von Ameisen und Menschen liegt; der Roboterstaat jedoch, der ihm vollen Ausdruck geben würde, kann und wird niemals von Bestand sein.“

Rückblick, 2.3.2020: Der britische Premier Boris Johnson erklärt, “dieses Land ist gut” auf eine Corona-Pandemie vorbereitet. „Wir haben einen Plan, wenn es zu einer Ausbreitung kommt, was wahrscheinlich ist.“

Die Eröffnung

Europäisches Tagebuch, 4.10.2020:
Unsere Ausstellung Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee | Die Familie Brunner. Ein Nachlass hat begonnen. Unter Corona-Bedingungen eine ungewohnte Eröffnung vor kleinem Publikum – mit gebührendem Abstand und Platzbeschränkung, wie es die Situation erfordert. Alles ist eben etwas anders im Moment.
Dafür nahmen viele Gäste am Livestream teil und nun sind die Eröffnungsreden von Bürgermeister Dieter Egger, Landesstatthalterin Barbara Schöbi-Fink, Aleida Assmann, Ariel Brunner, Hannes Sulzenbacher und Felicitas Heimann-Jelinek – wie auch der Film von Ronny Kokert über Moria im Februar 2020 – auf unserem youtube-Kanal zu sehen. Hineinschauen und Hineinhören lohnt sich, viel überraschendes ist da zu entdecken. Wir freuen uns auf anregende Diskussionen in unserem Haus.

 

Hier einige Impressionen vom ersten Tag, eingefangen von Dietmar Walser.

Foto: Dietmar Walser

Foto: Dietmar Walser

Die Familie Brunner. Ein Nachlass

Foto: Dietmar Walser

Vor vier Jahren erhielt das Jüdische Museum eine umfangreiche Dauerleihgabe: den Nachlass von Carlo Alberto Brunner. Gemälde, Briefe und Dokumente, Fotos, Memorabilia und Alltagsgegenstände der Hohenemser Familie Brunner ermöglichen den kritischen Blick auf ein europäisches Jahrhundert. Und sie eröffnen das Panorama einer europäisch-jüdischen Familie, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Hohenems nach Triest aufmachte, um zu der rasanten Entwicklung der habsburgischen Mittelmeermetropole beizutragen. 
Von dort wanderten Mitglieder der Familie weiter nach Wien und in die Schweiz, nach England, Deutschland, und in die USA. Ihr steiler sozialer und kultureller Aufstieg endete in der Katastrophe Europas, in der Verwüstung eines Kontinents in gegenseitigem Hass und in den Verheerungen zweier Weltkriege, die Teile der Familie in alle Welt zerstreute.

Eine Sammlung

Der Nachlass von Carlo Alberto Brunner umfasst seine Studienbibliothek mit ca. 1500 Büchern, seine eigenen Briefwechsel und die seiner Eltern Leone und Tea Brunner, Geschäftsbriefe und andere Korrespondenzen, Urkunden, Medaillen, Fotografien, unterschiedlichste Dokumente, zahlreiche Memorabilia der Familie, Jagd- und Rauchutensilien, Spazierstöcke und Geschirr, das Familiensilber mehrerer Generationen, Porzellan mit dem Adelswappen der Segrè-Sartorio, sowie Ölgemälde aus Hohenems und Triest, zum Teil von bekannten Triestiner Malern wie Arturo Rietti und Alfredo Tominz.

Hier eine Auswahl von Objekten der Sammlung:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Heinrich und Helene Brunner

Um 1830, Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner
Um 1830, Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Heinrich Brunner (1784 – 1867) wurde als Henle Wolf in Hohenems geboren.  Als Juden zum Tragen eines Familiennamens verpflichtet wurden, nahm er wie sein Bruder Arnold den Namen Brunner an. Er wurde Metzger und Viehhändler wie sein Vater und heiratete 1811 Helene Marx (1785-1855) aus Reckendorf in Bayern. Der ehelichen Arbeitsteilung des frühen 19. Jahrhunderts entsprechend führte Heinrich die Geschäfte außer Haus, während Helene die Leitung des Haushaltes und die Erziehung der Kinder nach den religiösen Vorschriften oblag, aber auch die Vertretung ihres Mannes während der wohl oft längeren Zeiten seiner Abwesenheit. Heinrich und Helene Brunner hatten neun Kinder, von denen vier Anfang der 1830er-Jahre dauerhaft nach Triest auswanderten und dort das Triester Wirtschaftsimperium der Brunners begründeten. Vermutlich gab er seinen Beruf als Metzger auf und eröffnete 1836 selbst ein Geschäft für Kolonialwaren in Triest, lebte aber nach wie vor in Hohenems. Hier war er als Mitglied des Gemeinderats der Israelitischen Kultusgemeinde, als Vorsitzender der Armenkommission und als Verwaltungsrat der Beerdigungsbruderschaft der Hohenemser Gemeinde aktiv. Als erster „Brunner“ nimmt er in dem vermutlich von seinem Enkel Lucian in Auftrag gegebenen Stammbaum die Rolle des Stammvaters ein.

Stammbaum der Familie Heinrich Brunner, Aus dem Nachlass von Lucian Brunner, Francesca Brunner-Kennedy, Virginia

 

Jacob, Marco und Wilhelm Brunner

Heinrich Brunner an Jacob, Marco und Wilhelm Brunner, 20.11.1833

In kürzester Zeit haben vier Söhne von Heinrich und Helene Brunner, geb. Marx, Hohenems verlassen, um in Triest ihr Glück zu suchen. Jakob, Marco, und Wilhelm – die letzteren noch keine zwanzig Jahre alt – begründen um 1832 in Triest ein Handelsgeschäft, das in St. Gallen eingekaufte Textilwaren, sogenannte „Schweizerwaren“ anbietet. 1835 wird ihnen auch Carlo (Hirsch) folgen. In ihrem gemeinsamen Brief vom 20. November 1833 berichtet Heinrich seinen Söhnen, dass es der Metzgerei gut ginge und dass er allerdings nicht wüsste, woher die Söhne rote Kalbsfelle, wohl für den Verkauf in Triest, bekommen könnten. Auf der anderen Seite erzählen Mutter Helene und Schwester Henriette Neuigkeiten aus dem Alltagsleben. Helene ermahnt ihren Sohn Wilhelm, etwas zu lernen und nicht schläfrig zu sein. Die Brunner-Brüder in Triest reisen oft nach St. Gallen. So bleibt auch der persönliche Kontakt in der Familie erhalten. 1835 kommt Marco zurück um sich ganz dem Einkauf in St. Gallen zu widmen, und schließlich eine Bank zu gründen, aus der einmal die UBS hervorgehen würde.

Helene und Henriette Brunner an Jacob, Marco und Wilhelm Brunner, 20.11.1833
Heinrich Brunner an Jacob, Marco und Wilhelm Brunner, 20.11.1833
Helene und Henriette Brunner an Jacob, Marco und Wilhelm Brunner, 20.11.1833

Lucian Brunner

“Ein Gesellschaft’s Abend bei Lucian Brunner”, 23. März 1909 Öl-Skizze, vermutlich von Alexander Pawlowitz. Leihgabe Francesca Brunner-Kennedy, Virginia

Lucian Brunner (1850 – 1914) verbrachte Kindheit und frühes Erwachsenenalter in Hohenems und St. Gallen, war aber auch viel Zeit in Triest und auf Reisen. Der Sohn von Marco Brunner und Regina Brunner, geb. Brettauer, arbeitete im „Bankhaus Jacob Brunner“ in St. Gallen bis 1888, ließ sich aber dann mit seiner Frau Malwine Mandel und drei Buben in Wien nieder, wo er als Industrieller und Politiker wirkte. Er engagierte sich in einer kleinen liberal ausgerichteten Partei, den „Wiener Demokraten“, als Wiener Gemeinderat, als Obmann des „Demokratischen Zentralvereins“ und als Herausgeber der dazugehörigen Zeitung „Volksstimme“. Im Wiener Gemeinderat trat er immer wieder dem antisemitischen Bürgermeister Karl Lueger entgegen, so zum Beispiel als er eine Kirchenbausubvention aus Steuermitteln verhinderte, oder nationalistischen Positionen widersprach. Lucian Brunner blieb immer mit seiner Heimatgemeinde Hohenems in Kontakt und spendete namhafte Summen für den Bau des Krankenhauses und der Turnhalle. Als er am 15. April 1914 in Wien starb, hinterließ er ein Legat für eine überkonfessionelle Schule in seiner Heimatgemeinde Hohenems. Der Hohenemser Gemeinderat nahm das Legat nicht an. Die Skizze zeigt die Familie Brunner als typische Vertreter der Wiener Großbourgeoisie, deren Abende zur Selbstrepräsentation im eigenen Salon genützt wurden.

Lucian Brunner, Rede im Wiener Gemeinderat zum deutsch-tschechischen Sprachenstreit, der durch die Sprachverordnung Innenminister Badenis ausgelöst wurde, die das Tschechische als zweite Amtssprache in Böhmen und Mähren verpflichtend machen sollte. Wien, 27. April 1897.

Lucian Brunner, Rede im Wiener Gemeinderat zu Minderheitenrechten in Wien und Triest – anlässlich der Erweiterung der tschechischen Komensky-Schule in Wien-Favoriten, Wien, 22. Oktober 1897.

 

 

Tea Brunner

Tea Brunner: Menükarte für ein Dinner für Angehörige der US-Armee, Forcoli, 18. August 1944. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Im Jahr 1916 hatte Rodolfo Brunner das große Anwesen von Forcoli im toskanischen Pontedera erworben, das fast drei Jahrzehnte später für manche Familienmitglieder zum Rettungsort wurde, während andere Mitglieder der Brunner-Familie in die Schweiz flohen oder rechtzeitig nach England emigrierten. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im September 1943 flohen Rodolfo und seine Frau Gina, die Schwiegertochter Maria Teresa („Tea“) Brunner, geb. Clerici (1908-1947) und deren vier Kindern nach Forcoli, wo sie den deutschen Besatzern nicht auffielen und Krieg und Verfolgung überlebten, während Leone Brunner, Teas Ehemann, sich im Widerstand gegen die Nationalsozialisten engagierte. Zu Ehren der amerikanischen Befreier gab Tea Brunner am 18. August 1944 ein Dinner für die „Combat Command B“. Tea Brunner starb früh und hinterließ fünf Kinder. Ihr ältester Sohn war Carlo Alberto Brunner.

Tea Brunner: Menükarte für ein Dinner für Angehörige der US-Armee, Forcoli, 18. August 1944. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Rodolfo Brunner

Büste Rodolfo Brunner, von Oscar Brunner. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Die zweite Generation der Hohenemser Einwanderer in Triest brachte die Brunner-Familie zu ihrem sozialen und wirtschaftlichen Zenit. Rodolfo Brunner (1859-1956), ältester Sohn von Carlo Brunner und Caroline, geb. Rosenthal, hielt einerseits bedeutende Anteile an den Industrieunternehmen seiner Familie (u.a. Chemie, Pharmazie, Minen und Reedereien) und Leitungsfunktionen in Unternehmen, wie der Generali-Versicherung, an der die Brunner ebenfalls Anteile besaßen. Andererseits spezialisierte er sich auf die Modernisierung und Optimierung der Landwirtschaft in Venetien und dem Friaul, nicht zuletzt im Isonzo-Delta. Politisch sympathisierte er mit der liberalnationalen Partei Triests, die eine stärkere Orientierung der Stadt nach Italien forderte, suchte aber stets den Ausgleich mit den habsburgisch-österreichischen Interessen. Wie der Großteil der Wirtschaftselite Triests, aber auch viele Juden der Stadt, schloss sich Rodolfo Brunner schon früh den italienischen Faschisten an. Als Wirtschaftsmagnat der Stadt kam er vermutlich öfter in Kontakt mit den Spitzen ihrer Politik. Der Grund für das Zusammentreffen mit Mussolini auf dem Foto ist allerdings nicht bekannt, es könnte sich jedoch um die Verleihung des „Goldenen Stern für landwirtschaftliche Verdienste“ handeln, der Rodolfo 1937 zuerkannt wurde.
Sein Großneffe Oscar Brunner (1900 – 1982) war Architekt und Bildhauer, jedoch finden sich nur wenige seiner Werke in öffentlichen Sammlungen.

Rodolfo Brunner und Benito Mussolini, vermutlich 1937. Fotoalbum der Familie mit Szenen aus dem Leben auf den Landgütern im Isonzodelta. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner
Carlo Alberto Brunner, „Il Fondo del Ghetto” (Am Grunde des Ghettos): über Rodolfo Brunner und das Abenteuer der Industrialisierung
Carlo Alberto Brunner, „Il Fonds del Ghetto” (Am Grunde des Ghettos): Über Rodolfo Brunner und den 1. Weltkrieg

Carlo Alberto Brunner

Löschwiege von Carlo Alberto Brunners Schreibtisch. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Das Jüdische Museum Hohenems verdankt den Bestand Carlo Alberto Brunner (1933-2014) seinen Kindern, die sich nach seinem Tod entschlossen, einen Teil des Nachlasses dem Museum als Dauerleihgabe zu überlassen. Carlo Alberto Brunner wuchs in Triest auf, als erster Sohn von Leone Brunner und Maria Teresa Brunner (geb. Clerici). Die NS-Zeit überlebte er mit seiner Familie im toskanischen Forcoli, wo die Familie ein Anwesen besaß. In der Zeit vom Einmarsch der Deutschen bis Ende der 1960er- Jahre war die Familie mit schweren wirtschaftlichen Verlusten konfrontiert. Nach dem Verkauf des Anwesens in Forcoli zog Carlo Alberto nach Israel und re-konvertierte zum Judentum. Er lebte zuerst in einem religiösen, dann in einem sozialistischen Kibbuz. 1974 heiratete er Nurit Feuer und lebte mit seiner Familie in einer Wohnung in Giv’atayim, einem Vorort von Tel Aviv, inmitten der Memorabilia seiner Hohenemser und Triester Familie, Ölgemälden aus dem frühen 19. Jahrhundert und aus Triest, Erbstücken und Erinnerungen. Carlo Alberto Brunner hinterließ auch das Manuskript eines Buches „Il Fondo del Ghetto“, in dem er die Stationen seines Lebens und seine Familiengeschichte im Spiegel der großen politischen Ideen, historischen Ereignisse und nationalistischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts reflektiert.

Carlo Alberto Brunner: „Il Fondo del Ghetto“ (Am Grunde des Ghetto), Manuskript. Jüdisches Museum Hohenems
Carlo Alberto Brunner, „Il Fondo del Ghetto” (Am Grunde des Ghettos): Kindheit unter Deutscher Besatzung
Carlo Alberto Brunner, „Il Fondo del Ghetto” (Am Grunde des Ghettos): Über Israel und ethnische Nationalstaaten

Leone Brunner

Ausweis von Leone Brunner unter dem falschem Namen Leopold Berti, 16. Oktober 1943. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Leone Brunner (1908 – 1969) war das jüngste Kind von Rodolfo und Gina Brunner in Triest. Er studierte Landwirtschaft und konvertierte 1930 zum katholischen Glauben. 1932 heiratete er Maria Teresa (Tea) Clerici, mit der er fünf Kinder hatte. Leone führte auf den Besitzungen seiner Familie das Leben eines „Landadligen“, geprägt von Jagdleidenschaft und anderen standesgemäßen Hobbies. Als Erbe des umfangreichen Besitzes seiner Eltern wurde er 1937 auch Vorstandsmitglied der Banca Triestina, sowie Präsident des Viehzüchterverbandes. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Triest 1943 schloss er sich dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten an, wofür er die falsche Identität eines „Leopold Berti“ annahm. Teil seiner Widerstandstätigkeit war das Verfassen von Berichten an die amerikanischen Streitkräfte, wo und welche Militäreinrichtungen und -fahrzeuge der deutschen Invasoren zu finden waren. Seine Familie befand sich in der Zwischenzeit einigermaßen geschützt auf dem Brunner’schen Landgut in Forcoli. Nach der Befreiung zog die Familie wieder nach Triest. Nachdem seine Frau 1947 gestorben war, heiratete Leone Brunner nicht wieder.

Lagebeschreibung deutscher Militäreinrichtungen in Rom, 26. Februar 1944. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner