Vom Sammeln von Muscheln und Bohren nach Öl

Europäisches Tagebuch, 4. April 1799: Heute vor 224 Jahren wurde Marcus Samuel geboren.

von Felicitas Heimann-Jelinek

Seit der Antike übt das Meer einen spezifischen Reiz auf den Menschen aus. Es ist gefährlich und verlockend, es trennt und verbindet, es hat mörderische Kraft und es gibt Nahrung. Besondere und absonderliche Schätze der Meere üben seit jeher eine eigene Faszination auf den Menschen aus. Spektakuläre Meeresfunde waren Objekte fürstlicher Begierden, die in ihren Wunderkammern mit ihrem Besitz ihre Machtphantasien ausleben konnten. In der Moderne treffen Exotik, aber auch Naturwissenschaft auf immer breiteres Interesse. Von literarischen Phantasie-Reisen, Fernweh und realen Urlaubserinnerungen angeregt, kamen vor allem Muscheln als Souvenirs in Mitteleuropa während der „Adria-Ausstellung“, der bedeutendsten maritimen Schau in Wien, auf. Die „Adria-Ausstellung“ von 1913 war die letzte große Ausstellung in Österreich vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die letzte große Ausstellung der österreichisch-ungarischen Monarchie.[1] Andenken-Muscheln waren schon in der legendären Schau „Venedig in Wien“ im Jahr 1885 Verkaufsschlager gewesen, auf der „Zierwerk und Galanteriegegenstände aus Lava, Corallen, Muscheln und Schildpatt“ angeboten worden waren.[2] Doch schon einige Zeit früher hatte ein Geschäftsmann den Zauber der Weite, der Tiefe und der Ferne, den Muscheln ausstrahlen, geschickt genutzt: Marcus Samuel (4. April 1799 – 24. November 1872).

Bereits 1833 öffnete Marcus Samuel ein Antiquitäten-Geschäft in London – manche nannten es Kolonialwaren Geschäft, andere wiederum sagen, es war eher ein Kuriositäten-Laden. Für letztere Einschätzung spricht die Tatsache, dass Samuel nicht der sephardischen Elite Londons angehörte, vielmehr aus bescheidenen bayerisch-holländischen Migranten-Verhältnissen stammte. Ebenfalls Kuriositäten-Laden-Variante spricht, dass einer seiner frühen Verkaufsschlager eben ein Souvenir-Objekt war, nämlich „knickknack boxes“ mit aufgeklebten Muscheln, die er am Strand von Brighton vertrieb. Wie dem auch sei, Marcus Samuel bot in seinem Geschäft dem naturhistorisch und meeresbiologisch interessierten Publikum auch Meeresmuscheln an, die ihm Seeleute von ihren Fahrten mitbrachten. Das Geschäft florierte derart, dass Marcus Samuel seine Söhne dazu bringen konnte, selber stetig weitere Strecken per Schiff zurückzulegen, um – aus englischer Perspektive – immer ausgefallenere Muscheln zu finden. Mit wachsendem Angebot bzw. wachsender Nachfrage wuchs ein kleine Samuel’sche Flotte heran. Jedes der Schiffe erhielt eine Art Logo, welches jeweils eine andere Muschel war. Marcus Samuel jun. entdeckte schließlich, dass es außer Muscheln noch Anderes im Meer gab, das sich verwerten ließ: Bodenschätze.

Sein Bruder Samuel Samuel realisierte überdies bei einer Fahrt ins Schwarze Meer die Bedeutung des Ölhandels. Und so sattelten sie von Muscheln auf Kerosin und Öl um. Das Geschäft schoss in die Höhe und die Samuels gründeten eine Company, die 1897 unter dem naheliegenden Namen „Shell“ eingetragen wurde. Von den verschiedenen Muscheln wählte man 1904 die Kamm-Muschel oder Pecten als endgültiges Firmen-Logo. 1907 fusionierte die Firma mit der „Royal Dutch Company of the Netherlands“ und die Shell-Gruppe in ihrer heutigen Form entstand.[3]

1902 wurde Marcus Samuel in den Adelsstand eines Baronet erhoben und der zweite jüdische Lord Mayor von London. In Anerkennung seiner Verdienste um die Versorgung des Britischen Königreiches während des Ersten Weltkriegs mit Treibstoff wurde er 1925 schließlich mit dem neu geschaffenen Titel eines Viscount Bearsted geehrt.

Marcus Samuel Viscount Bearsted als Lord Mayor of London. London Stereoscopic & Photographic Company, circa 1902. © Wikimedia Commons

Sein Sohn Colonel Walter Horace Samuel, 2nd Viscount Bearsted MC (13. März 1882 – 8. November 1948) war Vorsitzender der „Shell Transport and Trading Company“. Daneben war er ein engagierter Kunstkenner und –Sammler. Zu seinen Kunstwerken gehörten Werke von Rembrandt, Canaletto, George Stubbs, Hans Holbein dem Jüngeren und Hogarth. Auch war er ein Trustee der National Gallery sowie der Tate Gallery und Vorsitzender der Whitechapel Art Gallery in London.

Sein Haus und seine Sammlung wurden 1948 dem National Trust gestiftet und damit öffentlich gemacht. Er diente im Ersten Weltkrieg, machte aber vor allem im Zweiten Weltkrieg von sich Reden, da er mit dem Secret Intelligence Service (SIS alias MI6) und dann Special Operations Executive (SOE) arbeitete. Als Offizier der Sektion D des SIS war er ab 1939 zunächst an frühen Versuchen beteiligt, Widerstandsnetzwerke in Skandinavien aufzubauen und war dann eine Schlüsselfigur bei den Plänen zur Gründung einer britischen Widerstandsorganisation – dem Home Defence Scheme. Im Sommer 1940 überwachte er die Übertragung eines Teils des SIS-Nachrichtendienstes auf die neuen Hilfseinheiten. Walter Samuel war Mitglied der 1942 gegründeten antizionistischen Jewish Fellowship. Trotzdem setzte er sich in den 1930er Jahren für die Auswanderung von Juden aus Nazi-Deutschland nach Palästina bei Wahrung eines dortigen Friedens ein.[4]

[1] Unter dem höchsten Protektorate Seiner k.u.k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Este. Österr. Adria-Ausstellung Wien 1913. Hrsg. von der Ausstellungs-Kommission. Wien 1913.

[2] Norbert Rubey/Peter Schoenwald, Venedig in Wien. Theater- und Vergnügungsstadt der Jahrhundertwende, Wien 1996.

[3] http://www.gilthserano.de/businesswissen/011202.html; http://www.shell.com/home/Framework?siteId=ch-de&FC2=/ch-de/html/iwgen/zzz_lhn.html&FC3=/ch-de/html/iwgen/sitemap.html

[4] https://www.oxforddnb.com/view/10.1093/ref:odnb/9780198614128.001.0001/odnb-9780198614128-e-62461;jsessionid=A80F57D8CA3484776EB356F441160DE9

Gerald Reitlinger: Auf einem Turm von Schädeln

Europäisches Tagebuch, 2. März 2023: Heute vor 123 Jahren wurde Gerald Reitlinger geboren.

von Hanno Loewy

Aus einem Archäologen und Kunstsammler wurde ein Historiker des Holocaust. Das Leben Gerald Reitlingers führte ihn zunächst in die alte Vergangenheit Asiens, bevor ihn die jüngste Vergangenheit Europas dazu brachte, sich in die Archive der Täter zu versenken.

Geboren wurde der jüngste Sohn von Albert Reitlinger und Emma Brunner – die aus der gleichnamigen Hohenemser Familie stammte – am 2. März 1900 in London. Nach seinem Kunststudium an Londoner Akademien und der Kulturwissenschaften in Oxford nahm Reitlinger 1930-31 an Ausgrabungen im Irak teil, unternahm Forschungsreisen in den Iran, die Türkei und nach China. 1932 erschien sein Buch A Tower of Skulls. A Journey Through Persia and Turkish Armenia. Daneben sammelte er mit Begeisterung syrische wie persische Keramik – und lebte das Leben eines exzentrischen Connaisseurs, der für seinen galligen Humor bekannt war.

Gerald Reitlinger, Portrait von Christopher Wood; © Ashmolean Museum, Wikimedia Commons

Im Zweiten Weltkrieg diente er in der britischen Armee zunächst in der Luftabwehr, dann als Ausbilder. Doch nach 1945 widmete er sein Leben der Erforschung des Holocaust. 1953 veröffentlichte er in London die erste Gesamtdarstellung der Schoa: The Final Solution. Betroffen und skeptisch stellt er den nationalen Gedächtnisverlust in Frage, der die ehemaligen Täterländer bald flächendeckend erfasst hatte. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte lehnte es ab, Reitlingers Buch zu veröffentlichen. Man wollte sich in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht von „außen“ stören lassen. Das Buch erschien schließlich trotzdem auf Deutsch unter dem Titel Endlösung. 1956 folgte seine Studie über The SS. Alibi of a Nation 1922-1945. Das Buch bekam von seinem deutschen Verlag freilich einen weniger sarkastischen Titel verpasst, um sie dem deutschen Publikum schmackhaft zu machen: Die SS – Tragödie einer deutschen Epoche. Noch ein drittes Buch über die NS-Verbrechen folgte. The House Built on Sand. The Conflicts of German Policy in Russia 1939–1945 erschien 1960 in London, und unter dem Titel Ein Haus auf Sand gebaut. Hitlers Gewaltpolitik in Russland 1941–1944 auch auf Deutsch.
Reitlinger schrieb über den Holocaust mit unbestechlichem Blick. Aber selbst dem Studium der monströsen Aktenbestände der SS gewann er mit bissigem Sarkasmus einen schwachen Optimismus ab: „Hiob wünschte in seinem Elend, sein Widersacher möge ein Buch schreiben, und sein Gebet wurde erhört, denn es gibt in Wahrheit nichts, das dieser Widersacher nicht zu Papier gebracht hätte. Ich habe fast volle vier Jahre unter diesen Urkunden verbracht und habe ihre Gesellschaft nicht nur düster oder niederdrückend gefunden. Denn auf vielen Seiten huscht und glimmt etwas, ohne das jede Regierung eine Hölle auf Erden wäre – menschliche Fehlbarkeit. (…) Es kann sein, daß mörderisches Rassegefühl unausrottbar in der Natur von Ameisen und Menschen liegt; der Roboterstaat jedoch, der ihm vollen Ausdruck geben würde, kann und wird niemals von Bestand sein.“

Und doch endet sein Buch mit unbequemen Fragen und zugleich mit einer großbürgerlichen Sehnsucht nach „alten Werten“:
„Ist die Beseitigung von auserlesenen Opfern etwas, das geradezu in der Natur des übermächtigen modernen ‚demokratischen‘ Staates verborgen liegt? Kann es wieder geschehen, und kann es in andern Ländern geschehen? Es mag lange dauern, bevor wir die Antwort auf diese Fragen kennen, die wie ein roter Faden durch dieses ‚Postmortem‘ über die Endlösung laufen.
Es ist schwer zu glauben, daß es in Deutschland oder im deutschbesetzten Teil Europas einen Menschen gab, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war und während der letzten zwei Jahre des Krieges nicht wußte, daß die meisten Juden verschwunden waren, oder nicht irgendwo gehört hätte, daß sie erschossen oder vergast worden sind. Ebensowenig nehme ich an, daß es einen Menschen gab, der nicht einen Freund hatte, der jemanden kannte, der ein Massaker gesehen hatte. Mehr als hundert Millionen Menschen müssen von diesen Dingen gewußt und über sie im Flüsterton mit andern gesprochen haben. (…) Der Deutsche von 1933 war eine Art Karikatur der europäischen Zivilisation, die um so leichtfertiger, habgieriger und unkritischer wurde, je mehr materieller Fortschritt die alten Werte untergrub.“

Nach seinen drei Büchern über die NS-Verbrechen kehrte Reitlinger zur Kunst- und Kulturgeschichte zurück. Sein dreibändiges Werk The Economics of Taste (1961-1970) widmet sich der Geschichte des Kunstmarktes von 1760 bis zur Gegenwart. Seine eigene, bedeutende Sammlung, die kurz vor seinem Tod 1978 durch ein Feuer in seinem Haus beschädigt wurde, vermachte er dem Ashmolean Museum in Oxford, wo sie heute die „Gerald Reitlinger Gallery“ bildet.

Marcus Samuel: Von Muschelsammlern und Öl

Europäisches Tagebuch, 4.4.2021: Die Geschichte so mancher multinationalen Unternehmung beginnt mit Pionieren auf unbekanntem Terrain. Und so manchem Umweg einer Biographie: Heute vor 222 wurde Marcus Samuel geboren.

Von Felicitas Heimann-Jelinek

Seit der Antike übt das Meer einen spezifischen Reiz auf den Menschen aus. Es ist gefährlich und verlockend, es trennt und verbindet, es hat mörderische Kraft und es gibt Nahrung. Besondere und absonderliche Schätze der Meere üben seit jeher eine eigene Faszination auf den Menschen aus. Spektakuläre Meeresfunde waren Objekte fürstlicher Begierden, die in ihren Wunderkammern mit ihrem Besitz ihre Machtphantasien ausleben konnten. In der Moderne treffen Exotik, aber auch Naturwissenschaft auf immer breiteres Interesse. Von literarischen Phantasie-Reisen, Fernweh und realen Urlaubserinnerungen angeregt, kamen vor allem Muscheln als Souvenirs in Mitteleuropa während der „Adria-Ausstellung“, der bedeutendsten maritimen Schau in Wien, auf. Die »Adria-Ausstellung« von 1913 war die letzte große Ausstellung in Österreich vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die letzte große Ausstellung der österreichisch-ungarischen Monarchie.[1] Andenken-Muscheln waren schon in der legendären Schau „Venedig in Wien“ im Jahr 1885 Verkaufsschlager gewesen, auf der „Zierwerk und Galanteriegegenstände aus Lava, Corallen, Muscheln und Schildpatt“ angeboten worden waren.[2] Doch schon einige Zeit früher hatte ein Geschäftsmann den Zauber der Weite, der Tiefe und der Ferne, den Muscheln ausstrahlen, geschickt genutzt: Marcus Samuel (4. April 1799 – 24. November 1872).

Bereits 1833 öffnete Marcus Samuel ein Antiquitäten-Geschäft in London – manche nannten es Kolonialwaren Geschäft, andere wiederum sagen, es war eher ein Kuriositäten-Laden. Für letztere Einschätzung spricht die Tatsache, dass Samuel nicht der sephardischen Elite Londons angehörte, vielmehr aus bescheidenen bayerisch-holländischen Migranten-Verhältnissen stammte. Ebenfalls Kuriositäten-Laden-Variante spricht, dass einer seiner frühen Verkaufsschlager eben ein Souvenir-Objekt war, nämlich „knickknack boxes“ mit aufgeklebten Muscheln, die er am Strand von Brighton vertrieb. Wie dem auch sei, Marcus Samuel bot in seinem Geschäft dem naturhistorisch und meeresbiologisch interessierten Publikum auch Meeresmuscheln an, die ihm Seeleute von ihren Fahrten mitbrachten. Das Geschäft florierte derart, dass Marcus Samuel seine Söhne dazu bringen konnte, selber stetig weitere Strecken per Schiff zurückzulegen, um – aus englischer Perspektive – immer ausgefallenere Muscheln zu finden. Mit wachsendem Angebot bzw. wachsender Nachfrage wuchs ein kleine Samuel’sche Flotte heran. Jedes der Schiffe erhielt eine Art Logo, welches jeweils eine andere Muschel war.

Marcus Samuel jun. entdeckte schließlich, dass es außer Muscheln noch Anderes im Meer gab, das sich verwerten ließ: Bodenschätze. Sein Bruder Samuel Samuel realisierte überdies bei einer Fahrt ins Schwarze Meer die Bedeutung des Ölhandels. Und so sattelten die Brüder von Muscheln auf Kerosin und Öl um. Das Geschäft schoss in die Höhe und die Samuels gründeten eine Company, die 1897 unter dem naheliegenden Namen „Shell“ eingetragen wurde. Von den verschiedenen Muscheln wählte man 1904 die Kamm-Muschel oder Pecten als endgültiges Firmen-Logo. 1907 fusionierte die Firma mit der Royal Dutch Company of the Netherlands und die Shell-Gruppe in ihrer heutigen Form entstand.[3]

Marcus Samuel, 1st Viscount Bearsted. London Stereoscopic & Photographic Company, 1902

1902 wurde Marcus Samuel jun. in den Adelsstand eines Baronet erhoben und der zweite jüdische Lord Mayor von London. In Anerkennung seiner Verdienste um die Versorgung des Britischen Königreiches während des Ersten Weltkriegs mit Treibstoff wurde er 1925 schließlich mit dem neu geschaffenen Titel eines Viscount Bearsted geehrt.

Sein Sohn Colonel Walter Horace Samuel, 2nd Viscount Bearsted MC (13. März 1882 – 8. November 1948) war Vorsitzender der Shell Transport and Trading Company. Daneben war er ein engagierter Kunstkenner und –Sammler. Zu seinen Kunstwerken gehörten Werke von Rembrandt, Canaletto, George Stubbs, Hans Holbein dem Jüngeren und Hogarth. Auch war er ein Trustee der National Gallery sowie der Tate Gallery und Vorsitzender der Whitechapel Art Gallery in London.

Sein Haus und seine Sammlung wurden 1948 dem National Trust gestiftet und damit öffentlich gemacht. Er diente im Ersten Weltkrieg, machte aber vor allem im Zweiten Weltkrieg von sich Reden, da er mit dem Secret Intelligence Service (SIS alias MI6) und dann Special Operations Executive (SOE) arbeitete. Als Offizier der Sektion D des SIS war er ab 1939 zunächst an frühen Versuchen beteiligt, Widerstandsnetzwerke in Skandinavien aufzubauen und war dann eine Schlüsselfigur bei den Plänen zur Gründung einer britischen Widerstandsorganisation – dem Home Defence Scheme. Im Sommer 1940 überwachte er die Übertragung eines Teils des SIS-Nachrichtendienstes auf die neuen Hilfseinheiten. Walter Samuel war Mitglied der 1942 gegründeten antizionistischen Jewish Fellowship. Trotzdem setzte er sich in den 1930er Jahren für die Auswanderung von Juden aus Nazi-Deutschland nach Palästina bei Wahrung eines dortigen Friedens ein.[4]

[1] Unter dem höchsten Protektorate Seiner k.u.k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Este. Österr. Adria-Ausstellung Wien 1913. Hrsg. von der Ausstellungs-Kommission. – Wien, 1913.

[2] Norbert Rubey/Peter Schoenwald, Venedig in Wien. Theater- und Vergnügungsstadt der Jahrhundertwende , Wien 1996.

[3] http://www.gilthserano.de/businesswissen/011202.html; http://www.shell.com/home/Framework?siteId=ch-de&FC2=/ch-de/html/iwgen/zzz_lhn.html&FC3=/ch-de/html/iwgen/sitemap.html

[4] https://www.oxforddnb.com/view/10.1093/ref:odnb/9780198614128.001.0001/odnb-9780198614128-e-62461;jsessionid=A80F57D8CA3484776EB356F441160DE9

Tauben, Telegraphie und Weltnachrichten: Paul Julius Reuters

Europäisches Tagebuch, 25.2.2021: Heute vor 122 Jahren starb Paul Julius Reuter, der Begründer der Nachrichtenagentur „Reuters Telegraphic Company“ in Nizza. Geboren wurde Paul Julius Reuter unter dem Namen Israel Beer Josaphat am 21. Juli 1816 in Kassel, wo er als Sohn des aus Witzenhausen stammenden Händler und Rabbiner Samuel Levi Josaphat aufwuchs. Ihn zog es jedoch zur Wissenschaft und Publizistik. In Göttingen lernte er den Mathematiker Carl Friedrich Gauß kennen, der an den Experimenten beteiligt war, die zur Erfindung des elektrischen Telegraphen führten. 1845 konvertierte er in London zum lutherischen Protestantismus, nahm den Namen Paul Julius Reuter an und heiratete in Berlin die Bankierstochter Ida Maria Magnus. Wenig später wurde er Teilhaber eines neuen Verlagshauses mit Buchhandlung, das unter dem Namen „Reuters und Stargardt“ 1848 nicht zuletzt demokratische Schriften publizierte. Nach dem Scheitern der Revolution musste Reuters nach Paris fliehen. Aus „Reuters und Stargardt“ wurde „Stargardt“, bis heute ein führendes Antiquariat in Deutschland.
Doch Reuters blieb seinen Überzeugungen treu und engagierte sich nun auf dem Gebiet der Pressefreiheit und der transnationalen Kommunikation. 1850 gründete er in Aachen eine Nachrichtenagentur, die zunächst zwischen Brüssel und Aachen die Lücke in der Verbindung zwischen Paris und Berlin mit Brieftauben schloss, die deutlich schneller unterwegs waren, als die Postkutsche. 1851 wurde auch diese Verbindung durch Telegraphie ersetzt und schließlich auch Großbritannien mit dem Kontinent verbunden.
Die aus den USA mit dem Schiff eintreffenden Nachrichten, wurden bald von Cork in Irland schneller nach London expediert, als das Schiff selbst dorthin gelangen konnte. Reuters Nachrichtenübermittlung sicherte sich den entscheidenden Zeitvorsprung. Dabei waren nicht zuletzt die Börsenmeldungen im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert. Bald konnte er in allen wichtigen Städten der Welt Korrespondenten einsetzen und seine Aktiengesellschaft Reuters Telegraphic Comp. Incorporated verfügte über ein Nachrichtenmonopol.
1872 erhielt der inzwischen zum Baron geadelte Reuters vom persischen Schah Naser al-Din auch eine Konzession zur wirtschaftlichen Entwicklung Persiens. Dies schloss exklusive Rechte ein, zum Bau von Eisenbahnen und Dämmen, Flussregulierungen und zur Ausbeutung von Bodenschätzen, freilich mit Ausnahme der Gold- und Silberminen. Doch seine ehrgeizigen Pläne scheiterten schon bald am Mangel von Kapital und schon ein Jahr später widerrief der Schah die Konzession, nachdem Russland Protest erhoben hatte. Reuters wurde mit der Konzession für die Gründung der Imperial Bank of Persia entschädigt, die bis zur Gründung der iranischen Zentralbank auch die Funktion einer persischen Notenbank übernahm. Reuters abenteuerliches Leben wurde 1940 von William Dieterle mit Edward G. Robinson in der Hauptrolle verfilmt: „A Dispatch from Reuters“. Die deutsche Fassung, die 1963 ins Fernsehen kam, erhielt den Titel „Ein Mann mit Phantasie“.


 

Plädoyer für Weltoffenheit

Europäisches Tagebuch, 10.12.2020: Heute vormittag, am Tag der Menschenrechte, wurde im Deutschen Theater in Berlin die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit vorgestellt, eine wachsende Arbeitsgruppe von Kulturinstitutionen und Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland, die sich Sorgen um Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit macht. Und dies im Zeichen einer um sich greifenden und beunruhigenden Instrumentalisierung  von Antisemitismusvorwürfen, die kritische Diskurse über Rassismus, Kolonialismus, aber auch um den Nahen Osten zunehmend unter Pauschalverdacht stellen und notwendige Debatten verhindern. Neben großen Einrichtungen, wie dem Humboldtforum, dem Goethe-Institut, dem Haus der Kulturen der Welt, dem Wissenschaftskolleg zu Berlin oder der Kulturstiftung des Bundes, und dem Bündnis Internationaler Produktionshäuser waren auch das Einstein-Forum in Berlin, das Moses-Mendelssohn-Zentrum, das Zentrum für Antisemitismusforschung – und das Jüdische Museum Hohenems beteiligt. Hier der link zum Plädoyer und zur vollständigen Liste der bisher Beteiligten. Die Pressekonferenz im Deutschen Theater bildet den Auftakt für eine Reihe weiterer Veranstaltungen.

https://drive.google.com/file/d/14WBPlOswuU8Vm2pQm1cteCLrDnPs7FZ5/view?usp=sharing

Hier der link zur Aufzeichnung der Veranstaltung:

 

 

 

Boykott gegen Boykott

Europäisches Tagebuch, 19.10.2020: Die Folgen des umstrittenen BDS-Beschlusses des Deutschen Bundestages vom Mai 2019 zeichnen sich einmal mehr deutlich ab. Er wird offenbar als Generalvollmacht für Zensur verstanden – und vielleicht war er auch so gemeint. Und so kommt ein absurdes Spiel in Gang, dass nur denjenigen hilft, die kein Interesse an einer Lösung des Konflikts um Israel und Palästina haben. Und denjenigen, die verhindern wollen, dass man darüber überhaupt gemeinsam nachdenken darf.

Aber kurz zum Verständnis. Die vor Jahren in Israel und Palästina gegründete Bewegung “Boycott-Divestment-Sanctions” versteht sich als nicht-gewaltsamer Widerstand gegen die israelische Besatzung in Palästina. Und ist in ihren Methoden ansonsten freilich nicht zimperlich. Sie ruft weltweit zu Boykottaktionen gegen Israel auf. Sie fordert die Beendigung der Besetzung „arabischen Landes“, was ganz bewusst über den Widerstand gegen die Besetzung der Westbank und des Gazastreifens hinausgeht und das Existenzrecht Israels in seiner jetzigen Form als „jüdisch“ definierter Nationalstaat in Frage stellt. Und zugleich fordert sie gleiches Recht für alle Menschen in Israel, was man auch als ein mögliches Angebot begreifen könnte, über einen binationalen Staat Israel zu diskutieren. Wie auch immer, BDS ist und bleibt wohl eine ziemlich unausgegorene, man könnte auch sagen eine ausgesprochen uneinheitliche Bewegung. Für die im Übrigen auch viele Juden und jüdische Israelis Sympathie oder zumindest ein gewisses Verständnis äußern. Angesichts der festgefahrenen Verhältnisse. Und auch dann, wenn man dabei irgendwie ein ungutes Gefühl hat.
Denn der Erfolg von BDS erschöpft sich leider vor allem darin, die Falschen zu treffen. Mangels Durchsetzungskraft an jenen Stellen, wo es Israel weh tun könnte, konzentrieren sich die Aktivisten (vor allem in den USA) immer wieder darauf, Auftritte von israelischen Wissenschaftlern und Künstlern zu skandalisieren, Kooperationen an Universitäten oder von Kulturveranstaltern zu boykottieren. „Cultural Boycott“ wird zwar keineswegs von allen BDS-Aktivisten gutgeheißen, aber mit solchen Aktionen erreicht man natürlich schnell eine große Öffentlichkeit, und das ist verführerisch.
Und man trifft zugleich genau diejenigen, die eigentlich für einen möglichen Dialog gewonnen werden könnten. Was bleibt ist der fahle Beigeschmack, dass viele in der BDS-Bewegung mit ihren kulturellen Boykottaktionen (von denen sich die Führung der Bewegung eh nicht öffentlich distanziert) eben doch jede Auseinandersetzung um gemeinsame Perspektiven torpedieren wollen. Aus welchen Motiven auch immer.

So weit so schlecht. Noch viel “erfolgreicher” (also destruktiver) aber ist der Boykott, der nun in Europa um sich greift. Und sich als „Maßnahmen gegen BDS“ aufspielt. Zu diesen „Maßnahmen“ gehört insbesondere der Entzug von öffentlichen Förderungen für Projekte, ein weites Feld für Willkür aller Art. Denn was ist eine Förderung? Von der Finanzierung von NGOs, Fördergeldern für Kulturveranstalter und Projekten an Hochschulen reicht das bis zur Vermietung öffentlicher Räume. Und wer trifft die Entscheidung darüber? Und was hat das alles noch mit einer liberalen Demokratie und einem Rechtsstaat zu tun? Diese vom Deutschen Bundestag autorisierten „Maßnahmen“ richten sich nun zumeist nicht gegen die BDS-Bewegung selbst, sondern gegen alle Menschen, die irgendjemand, mit welchem Recht auch immer, öffentlich unter den Verdacht gestellt hat, irgendetwas mit BDS zu tun haben. (Dazu reicht auch, irgendwann vor Jahren mal irgendeinen Aufruf mitunterschrieben zu haben…). Wir sind mitten in einer neuen Form von McCarthyismus gelandet. „Sind oder waren sie Mitglied?“ Oder kennen sie jemand?

Ein interessantes Beispiel dafür, wie weit diese absurde Spirale von Boykott und Gegen-Boykott inzwischen gekommen ist, kann man derzeit in Berlin beobachten. Dort setzt sich an der Kunsthochschule Weißensee eine Gruppe jüdischer Israelis seit einem Jahr mit der zionistischen Geschichtserzählung auseinander. Die Sprecherin der Gruppe (School for Unlearning Zionism), die in der Kunsthalle am Hamburger Platz derzeit eine Ausstellung plant, Vorträge, Filmabende und Workshops auf Englisch und Hebräisch veranstaltet, ist Yehudit Yinhar.
Bevor sie nach Berlin zog, um als Meisterschülerin an der Kunsthochschule Weißensee zu studieren, gehörte sie in Israel zu den AktvistInnen der Israelisch-Palästinensischen Friedensbewegung Combatants für Peace, die jedes Jahr ein Tag vor dem israelischen Staatsfeiertag für die Gefallenen, einen gemeinsamen binationalen Gedenktag für die Opfer beider Seiten veranstaltet. Auch wenn die Bewegung vom israelischen Staat massiv behindert wird, nehmen jedes Jahr mehr Menschen an dieser Zeremonie teil, darunter auch bekannte israelische Musikstars, wie Achinoam Nini (kurz „Noa“). Im Mai 2020 waren es schließlich 200.000 Menschen, die aufgrund des Lockdowns diesmal online die Feier verfolgten. Die Combatants for Peace, die zwischen den Fronten nach Auswegen aus dem Konflikt suchen, muss sich regelmäßig harsche Kritik von BDS genauso wie von der israelischen Regierung gefallen lassen. Und natürlich von allerhand Organisationen und Medien, die sich als Aufpasser gegen „Antisemitismus“ gerieren.

So ergeht es jetzt auch dem Projekt an der Kunsthochschule Weißensee. Die jüdisch-israelische Gruppe ist ins Fadenkreuz geraten. Und so organisieren die Gegner von BDS nun einen Boykott gegen jüdische Israelis.
Zunächst hat die regierungsnahe, rechtspopulistische israelische Zeitung Israel Hayom das Projekt skandalisiert. Das Denunziantentum der Zeitung kann mittlerweile jeden treffen. Und manchmal passiert auch nichts. Doch diesmal sind die israelische Botschaft, eine ehemaliger taz-Journalist  und der selbsternannte Vorkämpfer gegen BDS in Deutschland, der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck, sofort auf den Zug gesprungen – und seltsamerweise auch das Berliner Büro des American Jewish Comittee. „Für die Delegitimierung Israels dürfen keine Steuergelder verwendet werden!“ heißt es da. Die NGO Amadeo-Antonio-Stiftung reiht das Projekt der Israelis unter „Antisemitische Vorfälle“.  Und Volker Beck fordert sogar den Entzug „indirekter“ Förderung. Das kann ja vielleicht noch dazu führen, dass kritische Juden und Israelis in Berlin nicht mehr mit der (staatlich geförderten) U-Bahn fahren dürfen. Yehudit Yinhar bringt es in der Berliner Zeitung wohl auf den Punkt: „Eine Gruppe jüdischer Israelis will sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen, aber dann kommt der weiße Deutsche und sagt: Nein, das dürft ihr nicht! Als wäre die Definitionsmacht über unsere eigene Geschichte deutscher Besitz. Worauf läuft das hinaus? Werden wir wieder in gute und schlechte Jüdinnen aufgeteilt? Wenn deutsche Institutionen ernsthaft behaupten, dass sie jüdisches Leben in Deutschland schützen wollen und uns dann die Gelder entziehen aufgrund von Verdacht auf Antisemitismus, läuft doch irgendwas ziemlich schief.“

Nun stellen wir uns einmal vor, Donald Trump würde fordern, Projekten an deutschen Hochschulen, die sich kritisch mit der amerikanischen Geschichte beschäftigen (zum Beispiel mit den „Indianerkriegen“), das Geld zu entziehen, mit der Begründung, das „delegitimiere“ die USA. Oder Putin würde verlangen, russische Emigranten in Deutschland dürften sich nicht mehr kritisch mit der Oktoberrevolution beschäftigen. Oder Erdogan würde fordern, dass in deutschen Konzerthallen keine kurdischen Künstler mehr auftreten dürften, die die türkische Politik gegenüber den Kurden thematisieren. (Ach ja richtig, das tut er ja, und bekommt doch eher deutliche Antworten…).

Dem Berliner Projekt wurden inzwischen die Gelder gesperrt und die Website abgeschaltet. In einem Akt von Selbstzensur der Kunstschule, die um ihre zukünftigen Mittel und damit ihre Existenz fürchtet. Willkommen in der “illiberalen Demokratie” von Viktor Orban.

19.10.2019: Das Unterhaus in London stimmt in einer Sondersitzung gegen die sofortige Billigung des neuen Brexit-Vertrages. Boris Johnson ist gezwungen, in Brüssel einen Antrag auf Verlängerung der Brexit-Frist zu stellen. Noch wehrt man sich in Großbritannien gegen einen EU-Austritt um jeden Preis.

Prolog: Europäische Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

Foto: Daniel Schvarcz

Foto: Eva Jünger

125 300 000 Menschen zählt unsere Auflistung der Toten europäischer Gewalt des 20. Jahrhunderts. Vollständig ist sie nicht.

Bis zum Ende der Ausstellung „Die letzten Europäer“ am 21. Mai 2023 werden sie von der Anzeige verschwunden sein.

1888–1908: Den von der belgischen Kolonialmacht begangenen Kongo-Gräueln fallen ca. zehn Millionen Kongolesen zum Opfer.

1900: Im Zweiten Burenkrieg kommen 22 000 Briten und 32  500 Buren um.

1900: Der Russisch-Chinesische Krieg fordert 112 000 Menschenleben.

1903/04:  Während des Britischen Tibet-Feldzugs werden über 600 Tibeter getötet.

1903–1906: In verschiedenen russischen Städten werden während Pogromen 4 245 Juden von Russen, Ruthenen, Griechen oder Kosaken umgebracht.

1904/05:  Der Russisch-Japanische Krieg endet mit 90 000 Toten auf russischer und 75 000 Toten auf japanischer Seite.

1904–1908: Dem Völkermord der „deutschen Schutztruppe“ in Deutsch-Südwestafrika fallen etwa 70  000 Angehörige der Herero und Nama zum Opfer. 

1906: Niederländer töten 1 000 Balinesen im heute indonesischen Badung.

1906–1911: Während des Wadai Kriegs im heutigen Tschad und Westsudan kommen 4 000 Franzosen und 8 000 Wadai um.

1908: Auf Bali töten Niederländer 194 Balinesen.

1909: Der zweite Rifkrieg in Marokko fordert 2 517 spanische und eine unbekannte Zahl kabylische Opfer.

1911/12: Während des Italienisch–Türkischen Krieges kommen 1 432 Italiener und 14 000 Araber und Berber auf dem Gebiet des heutigen Libyen um. 

1911/12: Im Osttimur-Krieg werden 289 Portugiesen und 3 424 Timuresen getötet.

1912/13: Die Balkankriege fordern 71 000 serbische, 11 200 montenegrinische, 156  000 bulgarische, 48  000 griechische und 100 000 türkische Leben.

1914–1918: Während des Ersten Weltkriegs kommen ca. 20 Millionen Menschen aller kriegführenden Nationalitäten in Europa um. 

1914–1921/23: Während des Zayyan-Kriegs sterben 782 Franzosen und 3 600 Marokkaner.

1915: Dem Völkermord der Türken an den Armeniern fallen mehr als eine Million Menschen zum Opfer. 

1917–1923: Der russische Bürgerkrieg endet mit sieben Millionen Toten.

1918–1920: Der lettische Unabhängigkeitskrieg fordert 17 000 Opfer.

1919: Kosaken ermorden 1 700 Juden in Proskurov in der heutigen Ukraine.

1919: Im Dritten Anglo-Afghanischen Krieg kommen 236 Engländer und 1 000 Afghanen um.

1919: Im indischen Amritsar erschießen britische Soldaten mindestens 379 Sikhs, Muslime und Hindus.

1919/20: Im Ungarisch-Rumänischen Krieg fallen 3 670 Ungarn und 3 000 Rumänen.

1919–1921: Der Irische Unabhängigkeitskrieg fordert 714 Menschenleben.

1920: Im Polnisch-Litauischen Krieg sterben 454 Litauer.

1920: Während des Türkisch-Armenischen Krieges kommen
198  000 Armeniern eine unbekannte Zahl Türken ums Leben.

1920/21: Der Polnisch-Russische Krieg fordert das Leben von 431 000 Russen, 202  000 Polen und 6 0 000 jüdischen Zivilisten.

1921–23: Im Griechisch-Türkischen Krieg fallen 9 167 Türken und 19 362 Griechen.

1921–1926: Der Zweite Marokkanische Krieg endet mit 63  000 spanischen, 18  500 französischen und 3 0 000 Opfern unter den Rifkabylen. 

1922/23: Der Irische Bürgerkrieg fordert ca. 2 000 Opfer.

1932-33: Als Mittel der Repression verschärfte Hungersnöte in der Ukraine und anderen Gebieten der Sowjetunion fordern mehr als 3.000.000 Menschenleben.
 

Februar 1934: Im Österreichischen Bürgerkrieg sterben 357 Menschen.

1935–1941: Der italienische Krieg gegen das heutige Äthiopien fordert zwischen 350 000 und 760 000 abessinische Opfer.

1936–1939: Im Spanischen Bürgerkrieg sterben Tausende Interbrigadisten und mehr als 400  000 Spanier. 

1936–49: Dem Aufstand gegen die britische Mandatsmacht, dem arabisch-jüdischen Bürgerkrieg in Palästina bis Mai 1948 und dem darauffolgenden arabisch-israelischen Krieg bis 1949 fallen 165 Briten, 6 000 jüdische Palästinenser und Israelis, 9 000 arabische Palästinenser und 5 000 arabische alliierte Soldaten zum Opfer. 

1939: Im Slowakisch-Ungarischen Krieg kommen 22 Slowaken und 8 Ungarn um.

1939–1945: Auf den europäischen Kriegsschauplätzen finden während des Zweiten Weltkriegs ca. 50 Millionen Menschen aller kriegführenden Nationen den Tod.

1939–1945: Im Rahmen der systematischen Vernichtung der europäischen Juden durch die NS-Herrschaft des Deutschen Reiches werden ca. sechs Millionen Juden ermordet.

1939–1945: Im Rahmen der systematischen Vernichtung der Roma durch das Deutsche Reich werden ca. 200 000 Menschen dieser Gruppen ermordet.

1941–1945: Die kroatischen Ustascha ermorden 500  000 Juden, Serben und Roma. 

1945: Der Surabaya-Krieg auf Java fordert 1 000 britische und 12 000 indonesische Leben.

1945–1949: Im Indonesischen Unabhängigkeitskrieg kommen1 200 britische, 6 125 niederländische und ca. 60 000 indonesische Soldaten um.

1945-1950: Im Zusammenhang mit den Vertreibungen aus Mittel- und Osteuropa kommen mehr als 500 000 Deutsche ums Leben.

1946: Einwohner der polnischen Stadt Kielce töten 40 Juden.

1946–1949: Im Griechischen Bürgerkrieg sterben 50  000 Menschen einen gewaltsamen Tod.

1946–1954: Während des Französischen Indochina-Kriegs kommen 130 000 Franzosen und eine Million Vietnamesen, Kambodschaner und Laoten um.

1948–1960: Während der Malayan Emergency töten Briten mehr als
10  000 Malaien. 

1952–1956: Im Tunesischen Unabhängigkeitskrieg kommen 17 459 französische Soldaten und mindestens 300  000 Tunesier um.

1952–1960: Während des Mau-Mau-Kriegs in Kenia kommen 200 britische Soldaten und 20 000 Guerillakämpfer um.

1954–1962: Im Algerischen Unabhängigkeitskrieg kommen ca. 24 000 französische Soldaten und ca. 300 000 Algerier ums Leben.

1961: Die französische Polizei richtet ein Massaker an 200 Algeriern in Paris an.

1963–1964: Der Zypriotische Bürgerkrieg fordert 174 griechische und 364 türkische Leben.

1968–1998: 3 500 Menschen werden Opfer des Nordirlandkonflikts.

1974: Die Invasion der Türkei auf Zypern kostet 3 000 Türken und 5 000 griechischen sowie türkischen Zyprioten das Leben.

1979–1989: Im Sowjetisch-Afghanischen Krieg sterben 14 453 sowjetische Soldaten und ca. eine Million Afghanen.

1982: Im Falklandkrieg sterben 258 britische Soldaten und 649 argentinische.  

1991–1995: Die Jugoslawienkriege fordern 52  800 bosnische, 1 8 530 kroatische, 30 000 serbische, 4 000 kosovarische und 800 albanische Leben.

1995: Serben begehen in Srebrenica in Bosnien und Herzegowina ein Massaker an 8 000 muslimischen Bosniaken. 

1992–93: Im Georgischen Bürgerkrieg kommen 10  000 Menschen um.

1998/99: Der Kosovokrieg kostet 2 170 Serben und 10  527 Albanern das Leben.

Foto: Daniel Schvarcz

Foto: Daniel Schvarcz

Europa grenzenlos

Ausstellungsinstallation Europa grenzenlos. Foto: Dietmar Walser

Das Interesse europäischer Mächte richtete sich seit dem 15. Jahrhundert auf überseeische Gebiete. Es entsprang Forscherdrang, missionarischem Eifer, Machthunger und – vor allem anderen – der Profitgier. Die indigenen Bevölkerungen bezahlten für europäische Ambitionen vielfach mit dem Leben oder ihrer Arbeitskraft, während die lokalen Eliten oft mit den neuen Herren kollaborierten. Alle europäischen Seemächte waren Kolonialmächte, wenn auch manche – wie Deutschland – nur für kurze Zeit.
Die Niederlande hatten bereits mit der Erlangung der Unabhängigkeit von Spanien im frühen 17. Jahrhundert begonnen, ein Kolonialreich zu errichten. Zu diesem gehörte beispielsweise „Niederländisch-Indien“, das heutige Indonesien, dessen Bevölkerung jahrhundertelang Zwangsarbeit für Holland leistete. Einer der frühen europäischen Kritiker des Kolonialismus war David Wijnkoop (1876–1941), der für ein demokratisches Indonesien eintrat. Der Sohn eines prominenten Rabbiners gründete die Kommunistische Partei Hollands und ihr Parteiorgan „De Tribune“. Die Zeitschrift unterstützte vehement die indonesische Unabhängigkeitsbewegung und zielte auf die Solidarisierung ihrer Leserschaft mit dem Freiheitskampf der Inselvölker ab.

^ David Wijnkoop, ca. 1935, © Nationaal Archief/Collectie Spaarnestad

< Harry van Kruiningen, Wahlplakat der Kommunistischen Partei Hollands, 1933, © International Institute of Social History, Amsterdam

> Arbeiter im Kampf gegen die von Shell verursachte Ölpest im Nigerdelta, © Ed Kashi

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein Prozess ein, für den der Nationalökonom Moritz Julius Bonn (1873–1965) schon zuvor den Begriff Dekolonisation geprägt hatte. Zwischen 1947 und 1990 wurden alle vormaligen europäischen Kolonien – teils um den Preis kriegerischer Auseinandersetzungen – selbstständig, so auch Nigeria, das bis 1960 britische Kolonie war. Doch damit endete keineswegs die systematische Ausbeutung der regionalen Bodenschätze und der lokalen Bevölkerung zugunsten europäischer Interessen, wie sie beispielsweise der Shell-Konzern verfolgt. Das Unternehmen geht auf den jüdischen Kuriositätenhändler Marcus Samuel (1799–1872) in London zurück, der Muscheln nach England importierte. Einer seiner Söhne baute das Geschäft zu einem ölfördernden, -raffinierenden und -transportierenden Unternehmen aus. Aus der Fusion mit der Königlich Niederländischen Ölgesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts entstand letztlich die Royal Dutch Shell, heute ein globaler Konzern, der sich immer wieder mit massiven Klagen konfrontiert sieht. Nach Expertenschätzungen flossen in den letzten 50 Jahren aufgrund mangelnder Sicherheitsstandards des Konzerns zwei Millionen Tonnen Rohöl in das Nigerdelta. Die Umweltverschmutzung entzieht der Bevölkerung ihre Lebensgrundlagen und reduziert ihre Lebenserwartung drastisch. Shell wird überdies die Komplizenschaft bei der Tötung von Umweltaktivisten in Nigeria vorgeworfen.

Micha Brumlik (Berlin) über Europas Nichterinnerung an den Kolonialismus:

Moritz Julius Bonn

Moritz Julius Bonn: The Crisis of European Democracy. New Haven 1925 / Die Auflösung des modernen Staates. Berlin 1921. Jüdisches Museum Hohenems

Moritz Julius Bonn wurde am 16. Juni 1873 in Frankfurt am Main geboren, als Sohn des Bankiers Julius Philipp Bonn und Elise Brunner aus Hohenems. Nach Studien in Heidelberg, München, Wien, Freiburg und London, sowie Forschungsaufenthalten in Irland und Südafrika begann seine erfolgreiche Laufbahn als Nationalökonom. In Italien lernte er die Engländerin Theresa Cubitt kennen, die er 1905 in London heiratete, im gleichen Jahr, in dem er sich über die englische Kolonialherrschaft in Irland habilitierte. 1914 bis 1917 lehrte er an verschiedenen Universitäten in den USA.  Als Politikberater nahm er an zahlreichen Nachkriegskonferenzen teil, schrieb über Freihandel und wirtschaftlichen Wiederaufbau, kritische Studien über Kolonialismus und die europäische Demokratie, die er nur in Pluralismus und ethnischer Diversität als überlebensfähig betrachtete. Als Rektor der Handelshochschule in Berlin und Leiter des von ihm gegründeten Instituts für Finanzwesen gehörte er schließlich zu den führenden Wirtschaftsfachleuten der Weimarer Republik. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 musste Bonn emigrieren, zuerst nach Salzburg, dann nach London, und schließlich in die USA, wo er seine Autobiographie Wandering Scholar(deutsch: So macht man Geschichte) begann. Nach dem Krieg ließ er sich endgültig in London nieder, wo er 1965 verstarb.
Moritz Julius Bonn hatte die Sommer seiner Kindheit bei den Großeltern in Hohenems verbracht und hielt auch Kontakt zum Triester Zweig der Familie.

Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte, 1953: Erziehung eines Liberalen und Gottesdienste in Hohenems
Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte, 1953: “Felix Austria” und seine Minderheiten
Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte, 1953: Gedächtnis und Heimkehr aus dem Exil?