Brexit 2.0

Europäisches Tagebuch, 14.9.2020: Das Britische Unterhaus beschließt die von Premier Boris Johnson beantragte einseitige Aufkündigung des Brexit-Vertrags im Zuge des sogenannten „Binnenmarktgesetztes“. Dass damit sowohl britische Gesetze als auch internationales Recht gebrochen werden, scheint nicht nur der Brexit-Regierung sondern auch der Mehrheit des Parlaments egal zu sein. Hauptargument ist der in der Tat prekäre Status, den Nordirland in dem neuen Regelwerk erhält, das Johnson als großen Deal nicht einmal einem Jahr durchs Parlament peitschte. In einer Zollunion mit Irland und der EU – und einer Zollgrenze zum Rest des britischen Königreiches. Jedenfalls dann, wenn es mit den Verhandlungen eines umfassenden Freihandelsabkommens zwischen Großbritannien und der EU hapert. Seine Vorgänger John Major und Tony Blair sind nun „entsetzt“, aber das schert die Austritts-trunkene Mehrheit ohnehin nicht. 
Einmal mehr zeigt sich, welchen Preis die Brexiteers offenbar für ihren nationalistischen Aufstand gegen die europäische Einigung zu zahlen bereit sind. Der mühsam erreichte, gleichwohl prekäre Friedenszustand in Nordirland droht nun ganz bewusst geopfert zu werden. Dass Johnson gerne mit dem Feuer spielt ist allen bekannt. Aber die meisten seiner Torys folgen ihm nun wie Lemminge. Es braucht nur ein paar absurde Verschwörungstheorien wie sie unter rechtspopulistischen Führern immer beliebter werden: die EU plane eine „Lebensmittelblockade“ zwischen Nordirland und dem restlichen Königreich. 
Dabei überschätzen die Brexiteers Großbritanniens Möglichkeiten, sich außerhalb der EU unter dem Protektorat der USA zu einer internationalen Wirtschafts- und Handelsmacht aufzuspielen auf groteske Weise. Das wird sich rächen, wenn es längst zu spät ist. So wie es aussieht, wird sich Großbritannien in den nächsten Jahren weniger mit seiner großartigen, in Wirklichkeit ziemlich maroden Ökonomie beschäftigen, als mit den Zentrifugalkräften, die der Brexit freisetzt, von Nordirland bis Schottland, und schließlich auch in London. Auf die vermutlich die Antwort nur mehr nationalistischer Furor sein wird. Zu den Hintergründen der ökonomischen Perspektiven siehe auch diesen interessanten Beitrag von Paul Mason auf IPG: https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/detail/im-groessenwahn-4634/?utm_campaign=de_40_20200911&utm_medium=email&utm_source=newsletter