Eine Sammlung

Der Nachlass von Carlo Alberto Brunner umfasst seine Studienbibliothek mit ca. 1500 Büchern, seine eigenen Briefwechsel und die seiner Eltern Leone und Tea Brunner, Geschäftsbriefe und andere Korrespondenzen, Urkunden, Medaillen, Fotografien, unterschiedlichste Dokumente, zahlreiche Memorabilia der Familie, Jagd- und Rauchutensilien, Spazierstöcke und Geschirr, das Familiensilber mehrerer Generationen, Porzellan mit dem Adelswappen der Segrè-Sartorio, sowie Ölgemälde aus Hohenems und Triest, zum Teil von bekannten Triestiner Malern wie Arturo Rietti und Alfredo Tominz.

Hier eine Auswahl von Objekten der Sammlung:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee

Foto: Daniel Schvarcz

Was war das „Projekt Europa“ und was ist daraus geworden? Und was wird aus ihm werden? Ist die Europäische Gemeinschaft in Zeiten beunruhigender globaler Herausforderungen noch weiter auseinander statt näher zusammengerückt? Werden nationale Interessen immer mehr gegen europäische Lösungen ausgespielt?

Vor dem Hintergrund dieser Fragen blicken wir auf jüdische Individuen, die angesichts der Zerstörungen Europas und der versuchten Vernichtung der europäischen Juden im 20. Jahrhundert nationale und kulturelle Grenzen überschritten, die universelle Geltung von Menschenrechten erneut einforderten und vehement einen europäischen Traum verfolgten. Anhand ihres Engagements für ein geeintes und friedliches Europa erkundet die Ausstellung gleichzeitig dessen neuerliche Bedrohung.

Auftakt für diesen Blick auf europäische Utopien und Ernüchterungen bildet das Eingedenken der Ohnmacht, ein Rückblick auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, auf Kriege, Völkermorde und Bürgerkriege in Europa und im Zeichen des europäischen Kolonialismus.

Nicht nur angesichts der schier unvorstellbaren Zahl der Opfer, welche die entgrenzte Gewalt der „zivilisierten“ Gesellschaften Europas forderte, verstand sich das europäische Projekt auch als inklusives Friedensprojekt. Heute erscheint die EU zusehends als defensives Bündnis zur Wahrung von Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen. Wird das Projekt Europa daran scheitern?

125 300 000 Menschen zählt die Auflistung der Toten europäischer Gewalt des 20. Jahrhunderts. Vollständig ist sie nicht. Bis zum Ende der Ausstellung „Die letzten Europäer“ werden sie von der Anzeige verschwunden sein.

Epilog: Was wäre wenn?

Foto: Eva Jünger

Was wäre, wenn wir gefragt würden, was für uns Europa ist? Wie wollen wir Europa definieren? Ist Europa Heimat? Ist es mehr oder weniger Heimat als Westeuropa, Deutschland, Österreich, Bayern, Vorarlberg?

Ist Europa ein Erdteil, oder eigentlich nur ein Subkontinent? Bildet es eine geografische Einheit? Ist es die Summe einzelner Nationalstaaten oder auch eine historisch-kulturelle Einheit? Wo ist Europa zu Ende?

Gibt es so etwas, wie einen europäischen Wertekanon? Wer definiert den? Und verlaufen alle Grenzen Europas in Europa?

Was wäre, wenn wir gefragt würden, mit welchen Ländern weiter über einen EU-Beitritt verhandelt werden sollte? Mit allen 47 europäischen Ländern oder nur mit ausgewählten? Und nach welchen Kriterien sollten sie eingeladen werden?

Was wäre, wenn es keine politischen Grenzen gäbe? Gäbe es keine Konflikte? Welchen Stellenwert hat Freizügigkeit?

Was wäre, wenn wir ein europäisches Parlament mit echten Befugnissen hätten? Wenn es einen europäischen Souverän gäbe? Wie demokratisch könnte Europa dann funktionieren?

Was wäre, wenn wir Europa ganz anders dächten? Wenn wir es als historische Verantwortung dächten? Dann wären Städte wie New York, Tel Aviv, Beirut und viele andere vielleicht europäische Städte.

Was wäre, wenn wir Europa als soziale Verantwortung dächten? Dann wären alle damals und heute für Europa arbeitenden Gesellschaften zugleich auch europäische.

Was müsste geschehen, damit Europa gemeinsam handeln kann? Was wäre, wenn wir Europa als globale Verantwortung dächten?

Und was hinterlassen unsere Besucher*innen auf der Weltkarte und der Europakarte?

Foto: Daniel Schvarcz

 

Hohenems:
Hier zum Stand am 28.9.2021:

Unsere Europakarte – Ende September

Hier zum Stand am 25.8.2021:

Unsere Europakarte – Die Diskussion geht weiter

Hier zum Stand am 25.7.2021:

Unsere Europakarte – Kommentare unserer Ausstellungsbesucher*innen

Hier zum Stand am 20.5.2021:

Unsere Europakarte – neue Kommentare unserer Besucher:innen

Hier zum Stand am 23.4.2021:

Unsere Europakarte – Unsere Weltkarte. Ein Update

Hier zum Stand am 17.2.2021:

Viele Antworten auf viele europäische Fragen – und manche neue Frage

 

 

Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee

Jüdisches Museum München
22. November 2022 bis 21. Mai 2023

„Man fragt sich, ob die Geschichte nicht im Begriff ist, eine geistreiche Synthese von zwei nietzscheanischen Begriffen zu schmieden, nämlich die des guten Europäers und die des letzten Menschen. Das könnte den letzten Europäer ergeben. Wir alle kämpfen darum, nicht zu einem solchen zu werden.“
Walter Benjamin an Stephan Lackner, Paris, 5. Mai 1940 

75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist Europa von einem Rückfall in nationalistische und menschenfeindliche Ideologien bedroht.

Der europäische Imperativ „Nie wieder!“ wird von Vielen in Frage gestellt. Zugleich entdecken Europas Nationalisten ihre eigene Fantasie vom „christlich-jüdischen Abendland“ – als Kampfbegriff gegen Zuwanderung und Integration. Die vorgeblich universellen Werte der Aufklärung, die zu den Grundlagen europäischer Verständigung nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zählten, zeigen ihr anderes Gesicht und verkommen so zu Argumenten für Abschottung und Ausgrenzung.

Aus diesem Anlass hat sich das Jüdische Museum München nach dem Jüdischen Museum Hohenems und dem Volkskundemuseum in Wien zu einem Ort der Debatte über die Zukunft Europas geöffnet, über die reale und die ideelle Substanz der Europäischen Union, über Gefährdungen und Chancen, über zukunftsweisende und überkommene Konzepte. Über die europäische Aufklärung wird hier ebenso zu streiten sein wie über ihre Kinder: Säkularisierung und Moderne, Emanzipation und Partizipation, Nationalismus und Chauvinismus, Kolonialismus und Kapitalismus.

Mit einer Kunstinstallation von Arnold Dreyblatt, bestehend aus drei Lentikulardrucken, die er als interaktives Darstellungsmittel gewählt hat. Jedes Werk enthält bis zu sechs Textebenen, die als Textfragmente von verschiedenen Betrachtungspositionen aus zu sehen sind und die sich wie in einem dekonstruierten „Palimpsest“ gegenseitig zu „überschreiben“ scheinen.

Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum München.

Kuratorinnen: Felicitas Heimann-Jelinek, Michaela Feurstein-Prasser
Projektkoordination: Lilian Harlander in Zusammenarbeit mit Sarah Steinborn
Ausstellungsarchitektur: Martin Kohlbauer

www.lasteuropeans.eu bietet nicht nur einen Rundgang durch die Ausstellung, sondern auch Interviews zur Entwicklung Europas, Aufzeichnungen der Veranstaltungen und ein kritisches europäisches Tagebuch.

Foto: Eva Jünger

Ausstellungseröffnung in München, 22.11.2022: Die letzten Europäer
Foto: Daniel Schvarcz

 

 

 

 

Heinrich und Helene Brunner

Um 1830, Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner
Um 1830, Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Heinrich Brunner (1784 – 1867) wurde als Henle Wolf in Hohenems geboren.  Als Juden zum Tragen eines Familiennamens verpflichtet wurden, nahm er wie sein Bruder Arnold den Namen Brunner an. Er wurde Metzger und Viehhändler wie sein Vater und heiratete 1811 Helene Marx (1785-1855) aus Reckendorf in Bayern. Der ehelichen Arbeitsteilung des frühen 19. Jahrhunderts entsprechend führte Heinrich die Geschäfte außer Haus, während Helene die Leitung des Haushaltes und die Erziehung der Kinder nach den religiösen Vorschriften oblag, aber auch die Vertretung ihres Mannes während der wohl oft längeren Zeiten seiner Abwesenheit. Heinrich und Helene Brunner hatten neun Kinder, von denen vier Anfang der 1830er-Jahre dauerhaft nach Triest auswanderten und dort das Triester Wirtschaftsimperium der Brunners begründeten. Vermutlich gab er seinen Beruf als Metzger auf und eröffnete 1836 selbst ein Geschäft für Kolonialwaren in Triest, lebte aber nach wie vor in Hohenems. Hier war er als Mitglied des Gemeinderats der Israelitischen Kultusgemeinde, als Vorsitzender der Armenkommission und als Verwaltungsrat der Beerdigungsbruderschaft der Hohenemser Gemeinde aktiv. Als erster „Brunner“ nimmt er in dem vermutlich von seinem Enkel Lucian in Auftrag gegebenen Stammbaum die Rolle des Stammvaters ein.

Stammbaum der Familie Heinrich Brunner, Aus dem Nachlass von Lucian Brunner, Francesca Brunner-Kennedy, Virginia

 

Niemals Vergessen!

Ausstellungsinstallation “Niemals Vergessen!”. Foto: Dietmar Walser

Unter dem Imperativ „Niemals vergessen!“ wird versucht, die Erinnerung an die Verbrechen des NS-Regimes und an die Schoa warnend wachzuhalten. Bereits im September 1946 veranstaltete der kommunistische Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka unter diesem Titel im Wiener Künstlerhaus eine große Ausstellung. Organisiert wurde sie vom „Österreichischen Bundesverband ehemals politisch verfolgter Antifaschisten“, der bis 1948 bestehenden Dachorganisation österreichischer NS-Opfer, der sich der „Verband der Abstammungsverfolgten“ angeschlossen hatte. Doch erst im letzten Augenblick wurde der jüdische Auschwitz-Überlebende Heinrich Sussmann (1904–1986) mit einem Plakatentwurf und der Gestaltung des Ausstellungsraumes VI „Judenverfolgung“ beauftragt. Hauptwerbeträger wurde jedoch nicht Sussmanns das KZ-Leid thematisierendes Plakat, sondern Victor Slamas Widerstandskämpfer, der das Hakenkreuz kraftvoll zerstört. Auch darüber hinaus war die Ausstellungsvorbereitung konfliktreich. Die Österreichische Volkspartei wollte die unmittelbare Vorgeschichte der NS-Zeit, die ständestaatliche Diktatur, zu deren Beginn Österreicher auf Österreicher geschossen hatten, nicht thematisiert sehen und beide Großparteien wollten die österreichische Opferthese unterstrichen wissen. Eine Bearbeitung des aktiven Anteils der Österreicher am Judenpogrom und am Judenmord wollte keine Partei.

^ Grabmal der Familie Sussmann am Wiener Zentralfriedhof, Wien 2020, © Oskar Prasser

< Heinrich Sussmann, Plakat zur Ausstellung „Niemals vergessen“, Wien 1946, © ÖNB-Bildarchiv

> Antisemitisches „Spiel“, das Simon Wiesenthal anonym per Post erhielt, o. J., © Archiv des Wiener Wiesenthal Instituts (VWI)

v Simon Wiesenthal, Wien 1988, © Archiv des Wiener Wiesenthal Instituts (VWI)


Zeit seines Lebens forderte der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal (1908–2005) dazu auf, niemals zu vergessen, dass die Schoa eine der Folgen der Demontage von Demokratie und Menschenrechten war. Über das von ihm gegründete „Dokumentationszentrum des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes“ sammelte und dokumentierte er Nazi-Verbrechen und suchte weltweit nach entkommenen Tätern. Politisch stand Wiesenthal der ÖVP nahe. Sein Protest gegen ehemalige Nazis als Minister in der von der FPÖ unterstützten SPÖ-Minderheitsregierung unter Bruno Kreisky – der sich 1966 selbst von einem ÖVP-Abgeordneten als „Saujud“ hatte beschimpfen lassen müssen – veranlasste den Bundeskanzler zur der bösartigen Unterstellung, Wiesenthal sei ein Nazi-Kollaborateur gewesen. Zwei Österreicher jüdischer Herkunft attackierten einander nun öffentlich, und die Republik schaute zu. Trotz aller Aufklärungsarbeit und aller von Politikern reflexartig vorgebrachten Beteuerungen antifaschistischer Gesinnung war Wiesenthal immer wieder derbem Antisemitismus ausgesetzt. Als ein FPÖ-Bürgermeisterkandidat 1990 in einem Interview wissen ließ: „Dem Simon Wiesenthal hab ich gesagt: Wir bauen schon wieder Öfen, aber nicht für Sie, Herr Wiesenthal – Sie haben im Jörgl seiner Pfeife Platz“, war dies nur die Spitze des Eisbergs.

Aleida Assmann (Konstanz) über Erinnerungskultur in einer Einwanderungsgesellschaft:

Idee Europa

Ausstellungsinstallation “Idee Europa”. Foto: Dietmar Walser

Schon seit dem 18. Jahrhundert gab es in Anlehnung an das Modell der Vereinigten Staaten von Amerika die Vorstellung von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Sie ist bis heute nicht realisiert. Walter Rathenau (1867–1922) war einer jener, die sie vor Augen hatten.

Der Sohn des bekannten Gründers der AEG – selbst prominenter Unternehmer – war während des Ersten Weltkriegs für die Rohstoffversorgung des deutschen Reiches zuständig. Er forderte auch den Einsatz belgischer Zwangsarbeiter zur Kompensierung des kriegsbedingten Mangels an Arbeitskräften in Deutschland.

Bereits vor dem Krieg hatte Rathenau für die Errichtung eines mitteleuropäischen Zollvereins plädiert, in dessen Zentrum er eine deutsch-österreichische Wirtschaftsgemeinschaft sah, deren Anziehungskraft sich die westeuropäischen Länder auf Dauer nicht verschließen könnten. Nach 1918 bemühte er sich in verschiedenen politischen Funktionen um eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen Deutschland und den alliierten Siegermächten sowie um einen Ausgleich mit Sowjetrussland. 1922 wurde in „Besinnung auf christliche, abendländische Werte“ die Paneuropa-Bewegung begründet. Ihr erster Großspender war der deutsch-jüdische Bankier Max Warburg. Sie blieb bis heute weitgehend wirkungslos. Rathenaus Idee einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hingegen wurde 1957 Wirklichkeit. Aus ihr erwuchs 1992 schließlich die Europäische Union.

^ Walther Rathenau, vermutlich Berlin, ca. 1920, © Jüdisches Museum Berlin

< Walter Rathenau, Gesammelte Schriften Bd. 1, 1918, Ausschnitt, © Günter Kassegger

> Gedenkstein für die Mörder Rathenaus in Saaleck, 2012, © Torsten Biel

Rathenau hat weder die Europäische Einigung noch den Zweiten Weltkrieg erlebt. Er wurde von der völkischen Rechten der Weimarer Republik als „Erfüllungspolitiker“ bezeichnet, sein Wirken als Minister als Beleg für die „Macht des internationalen Judentums“ interpretiert, seine Verhandlungen mit Russland als „jüdischer Bolschewismus“ diffamiert. Der Hass der extremen Rechten auf alles, wofür Rathenau stand, entlud sich nicht nur im Skandieren der Parole „Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau!“ Am 24. Juni 1922 wurde er von Mitgliedern der rechtsterroristischen „Organisation Consul“ tatsächlich ermordet. 

Die Täter Erwin Kern und Hermann Fischer kamen bei der Festnahme in Saaleck in Sachsen-Anhalt um und wurden auf dem dortigen Friedhof verscharrt. Hitler ließ den „Helden“ ein Denkmal errichten, dessen Inschrift in DDR-Zeiten entfernt wurde. Nach der Wiedervereinigung wurde das Grab zu einer Wallfahrtsstätte für Neonazis. Das Militär transportierte den Stein daraufhin ab und die Kirchengemeinde schloss den Grabplatz. 2012, zum 90. Todestag der Mörder, wurde dort von Unbekannten ein Findling deponiert, der – in runenähnlicher Schrift – die Namen der beiden trägt.

Michael Miller (Wien) über antisemitische Schuldzuweisungen nach dem 1. Weltkrieg und die Paneuropa-Bewegung:

Jacob, Marco und Wilhelm Brunner

Heinrich Brunner an Jacob, Marco und Wilhelm Brunner, 20.11.1833

In kürzester Zeit haben vier Söhne von Heinrich und Helene Brunner, geb. Marx, Hohenems verlassen, um in Triest ihr Glück zu suchen. Jakob, Marco, und Wilhelm – die letzteren noch keine zwanzig Jahre alt – begründen um 1832 in Triest ein Handelsgeschäft, das in St. Gallen eingekaufte Textilwaren, sogenannte „Schweizerwaren“ anbietet. 1835 wird ihnen auch Carlo (Hirsch) folgen. In ihrem gemeinsamen Brief vom 20. November 1833 berichtet Heinrich seinen Söhnen, dass es der Metzgerei gut ginge und dass er allerdings nicht wüsste, woher die Söhne rote Kalbsfelle, wohl für den Verkauf in Triest, bekommen könnten. Auf der anderen Seite erzählen Mutter Helene und Schwester Henriette Neuigkeiten aus dem Alltagsleben. Helene ermahnt ihren Sohn Wilhelm, etwas zu lernen und nicht schläfrig zu sein. Die Brunner-Brüder in Triest reisen oft nach St. Gallen. So bleibt auch der persönliche Kontakt in der Familie erhalten. 1835 kommt Marco zurück um sich ganz dem Einkauf in St. Gallen zu widmen, und schließlich eine Bank zu gründen, aus der einmal die UBS hervorgehen würde.

Helene und Henriette Brunner an Jacob, Marco und Wilhelm Brunner, 20.11.1833
Heinrich Brunner an Jacob, Marco und Wilhelm Brunner, 20.11.1833
Helene und Henriette Brunner an Jacob, Marco und Wilhelm Brunner, 20.11.1833

Lucian Brunner

“Ein Gesellschaft’s Abend bei Lucian Brunner”, 23. März 1909 Öl-Skizze, vermutlich von Alexander Pawlowitz. Leihgabe Francesca Brunner-Kennedy, Virginia

Lucian Brunner (1850 – 1914) verbrachte Kindheit und frühes Erwachsenenalter in Hohenems und St. Gallen, war aber auch viel Zeit in Triest und auf Reisen. Der Sohn von Marco Brunner und Regina Brunner, geb. Brettauer, arbeitete im „Bankhaus Jacob Brunner“ in St. Gallen bis 1888, ließ sich aber dann mit seiner Frau Malwine Mandel und drei Buben in Wien nieder, wo er als Industrieller und Politiker wirkte. Er engagierte sich in einer kleinen liberal ausgerichteten Partei, den „Wiener Demokraten“, als Wiener Gemeinderat, als Obmann des „Demokratischen Zentralvereins“ und als Herausgeber der dazugehörigen Zeitung „Volksstimme“. Im Wiener Gemeinderat trat er immer wieder dem antisemitischen Bürgermeister Karl Lueger entgegen, so zum Beispiel als er eine Kirchenbausubvention aus Steuermitteln verhinderte, oder nationalistischen Positionen widersprach. Lucian Brunner blieb immer mit seiner Heimatgemeinde Hohenems in Kontakt und spendete namhafte Summen für den Bau des Krankenhauses und der Turnhalle. Als er am 15. April 1914 in Wien starb, hinterließ er ein Legat für eine überkonfessionelle Schule in seiner Heimatgemeinde Hohenems. Der Hohenemser Gemeinderat nahm das Legat nicht an. Die Skizze zeigt die Familie Brunner als typische Vertreter der Wiener Großbourgeoisie, deren Abende zur Selbstrepräsentation im eigenen Salon genützt wurden.

Lucian Brunner, Rede im Wiener Gemeinderat zum deutsch-tschechischen Sprachenstreit, der durch die Sprachverordnung Innenminister Badenis ausgelöst wurde, die das Tschechische als zweite Amtssprache in Böhmen und Mähren verpflichtend machen sollte. Wien, 27. April 1897.

Lucian Brunner, Rede im Wiener Gemeinderat zu Minderheitenrechten in Wien und Triest – anlässlich der Erweiterung der tschechischen Komensky-Schule in Wien-Favoriten, Wien, 22. Oktober 1897.

 

 

Tea Brunner

Tea Brunner: Menükarte für ein Dinner für Angehörige der US-Armee, Forcoli, 18. August 1944. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Im Jahr 1916 hatte Rodolfo Brunner das große Anwesen von Forcoli im toskanischen Pontedera erworben, das fast drei Jahrzehnte später für manche Familienmitglieder zum Rettungsort wurde, während andere Mitglieder der Brunner-Familie in die Schweiz flohen oder rechtzeitig nach England emigrierten. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im September 1943 flohen Rodolfo und seine Frau Gina, die Schwiegertochter Maria Teresa („Tea“) Brunner, geb. Clerici (1908-1947) und deren vier Kindern nach Forcoli, wo sie den deutschen Besatzern nicht auffielen und Krieg und Verfolgung überlebten, während Leone Brunner, Teas Ehemann, sich im Widerstand gegen die Nationalsozialisten engagierte. Zu Ehren der amerikanischen Befreier gab Tea Brunner am 18. August 1944 ein Dinner für die „Combat Command B“. Tea Brunner starb früh und hinterließ fünf Kinder. Ihr ältester Sohn war Carlo Alberto Brunner.

Tea Brunner: Menükarte für ein Dinner für Angehörige der US-Armee, Forcoli, 18. August 1944. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

„Christlich-Jüdisches Abendland“

Ausstellungsinstallation “Christlich-jüdisches Abendland”. Foto: Dietmar Walser

Die jüdischen Gemeinden in Europa sind zum Teil wesentlich älter als die christlichen, war die Christianisierung Europas doch erst im Mittelalter abgeschlossen. Dennoch wurde für Europa bis vor Kurzem noch der Begriff „christliches Abendland“ verwendet und die elf Millionen vor der NS-Zeit in Europa lebenden Juden damit per Sprachgebrauch aus der europäischen Kultur ausgeschlossen.

Das Verhältnis von Katholizismus und Judentum wurde erst unter dem Eindruck des Holocaust und mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) auf eine positivere Grundlage gestellt. Dem war – als kritische Reaktion auf Antisemitismus und Mitschuld der Kirchen am Genozid an den europäischen Juden – die Gründung christlich-jüdischer Gesellschaften vorausgegangen. Es sollte noch bis 1986 dauern, dass der erste Papst, Johannes Paul II., Karol Wojtyła (1920-2005), ein jüdisches Gotteshaus betrat, nämlich die Große Synagoge in Rom, gemeinsam mit Oberrabbiner Elio Toaff. 

< Papst Johannes Paul II. und Oberrabbiner Toaff 1986 auf dem Weg in die Große Synagoge in Rom, © Str/EPA/picturedesk.com

> Anti-Islam-Proteste in Tschechien mit Miloš Zeman anlässlich des 26. Geburtstags der „Samtenen Revolution“ im November 2015, © Matej Divizna, Getty Images

Das neuerdings gerne verwendete Schlagwort vom „christlich-jüdischen Abendland“ ist ein politischer Kampfbegriff. Mit ihm soll eine alte Minderheit vereinnahmt und gegen eine neue mobilgemacht werden. Er spielt auf das kulturelle Erbe der griechischen und römischen Antike sowie der Bibel an. Die Tatsache, dass ein guter Teil dieses Erbes islamisch-arabischer Vermittlung zu verdanken ist, wird ebenso unterschlagen wie die Tatsache, dass Juden in Europa immer in prekäre Lebensbedingungen gezwungen und von Pogromen bedroht waren.

Europäische Proteste gegen den Bau von Moscheen rufen überdies die Verbote, Synagogen zu errichten, ins Gedächtnis, die in einem großen Teil Europas bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts galten. Der Protest wendet sich damit auch gegen die Gotteshäuser der slawischsprachigen Muslime, welche die Kultur Südosteuropas seit Hunderten von Jahren mitprägen. Der Begriff einer europäischen „christlich-jüdischen Wertegemeinschaft“ widerspricht auf eklatante Weise Artikel 10 (1) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in der es heißt: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.“

Doron Rabinovici (Wien) über die Rede vom “christlich-jüdischen Abendland”:

Rodolfo Brunner

Büste Rodolfo Brunner, von Oscar Brunner. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Die zweite Generation der Hohenemser Einwanderer in Triest brachte die Brunner-Familie zu ihrem sozialen und wirtschaftlichen Zenit. Rodolfo Brunner (1859-1956), ältester Sohn von Carlo Brunner und Caroline, geb. Rosenthal, hielt einerseits bedeutende Anteile an den Industrieunternehmen seiner Familie (u.a. Chemie, Pharmazie, Minen und Reedereien) und Leitungsfunktionen in Unternehmen, wie der Generali-Versicherung, an der die Brunner ebenfalls Anteile besaßen. Andererseits spezialisierte er sich auf die Modernisierung und Optimierung der Landwirtschaft in Venetien und dem Friaul, nicht zuletzt im Isonzo-Delta. Politisch sympathisierte er mit der liberalnationalen Partei Triests, die eine stärkere Orientierung der Stadt nach Italien forderte, suchte aber stets den Ausgleich mit den habsburgisch-österreichischen Interessen. Wie der Großteil der Wirtschaftselite Triests, aber auch viele Juden der Stadt, schloss sich Rodolfo Brunner schon früh den italienischen Faschisten an. Als Wirtschaftsmagnat der Stadt kam er vermutlich öfter in Kontakt mit den Spitzen ihrer Politik. Der Grund für das Zusammentreffen mit Mussolini auf dem Foto ist allerdings nicht bekannt, es könnte sich jedoch um die Verleihung des „Goldenen Stern für landwirtschaftliche Verdienste“ handeln, der Rodolfo 1937 zuerkannt wurde.
Sein Großneffe Oscar Brunner (1900 – 1982) war Architekt und Bildhauer, jedoch finden sich nur wenige seiner Werke in öffentlichen Sammlungen.

Rodolfo Brunner und Benito Mussolini, vermutlich 1937. Fotoalbum der Familie mit Szenen aus dem Leben auf den Landgütern im Isonzodelta. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner
Carlo Alberto Brunner, „Il Fondo del Ghetto” (Am Grunde des Ghettos): über Rodolfo Brunner und das Abenteuer der Industrialisierung
Carlo Alberto Brunner, „Il Fonds del Ghetto” (Am Grunde des Ghettos): Über Rodolfo Brunner und den 1. Weltkrieg

Carlo Alberto Brunner

Löschwiege von Carlo Alberto Brunners Schreibtisch. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Das Jüdische Museum Hohenems verdankt den Bestand Carlo Alberto Brunner (1933-2014) seinen Kindern, die sich nach seinem Tod entschlossen, einen Teil des Nachlasses dem Museum als Dauerleihgabe zu überlassen. Carlo Alberto Brunner wuchs in Triest auf, als erster Sohn von Leone Brunner und Maria Teresa Brunner (geb. Clerici). Die NS-Zeit überlebte er mit seiner Familie im toskanischen Forcoli, wo die Familie ein Anwesen besaß. In der Zeit vom Einmarsch der Deutschen bis Ende der 1960er- Jahre war die Familie mit schweren wirtschaftlichen Verlusten konfrontiert. Nach dem Verkauf des Anwesens in Forcoli zog Carlo Alberto nach Israel und re-konvertierte zum Judentum. Er lebte zuerst in einem religiösen, dann in einem sozialistischen Kibbuz. 1974 heiratete er Nurit Feuer und lebte mit seiner Familie in einer Wohnung in Giv’atayim, einem Vorort von Tel Aviv, inmitten der Memorabilia seiner Hohenemser und Triester Familie, Ölgemälden aus dem frühen 19. Jahrhundert und aus Triest, Erbstücken und Erinnerungen. Carlo Alberto Brunner hinterließ auch das Manuskript eines Buches „Il Fondo del Ghetto“, in dem er die Stationen seines Lebens und seine Familiengeschichte im Spiegel der großen politischen Ideen, historischen Ereignisse und nationalistischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts reflektiert.

Carlo Alberto Brunner: „Il Fondo del Ghetto“ (Am Grunde des Ghetto), Manuskript. Jüdisches Museum Hohenems
Carlo Alberto Brunner, „Il Fondo del Ghetto” (Am Grunde des Ghettos): Kindheit unter Deutscher Besatzung
Carlo Alberto Brunner, „Il Fondo del Ghetto” (Am Grunde des Ghettos): Über Israel und ethnische Nationalstaaten

Leone Brunner

Ausweis von Leone Brunner unter dem falschem Namen Leopold Berti, 16. Oktober 1943. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Leone Brunner (1908 – 1969) war das jüngste Kind von Rodolfo und Gina Brunner in Triest. Er studierte Landwirtschaft und konvertierte 1930 zum katholischen Glauben. 1932 heiratete er Maria Teresa (Tea) Clerici, mit der er fünf Kinder hatte. Leone führte auf den Besitzungen seiner Familie das Leben eines „Landadligen“, geprägt von Jagdleidenschaft und anderen standesgemäßen Hobbies. Als Erbe des umfangreichen Besitzes seiner Eltern wurde er 1937 auch Vorstandsmitglied der Banca Triestina, sowie Präsident des Viehzüchterverbandes. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Triest 1943 schloss er sich dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten an, wofür er die falsche Identität eines „Leopold Berti“ annahm. Teil seiner Widerstandstätigkeit war das Verfassen von Berichten an die amerikanischen Streitkräfte, wo und welche Militäreinrichtungen und -fahrzeuge der deutschen Invasoren zu finden waren. Seine Familie befand sich in der Zwischenzeit einigermaßen geschützt auf dem Brunner’schen Landgut in Forcoli. Nach der Befreiung zog die Familie wieder nach Triest. Nachdem seine Frau 1947 gestorben war, heiratete Leone Brunner nicht wieder.

Lagebeschreibung deutscher Militäreinrichtungen in Rom, 26. Februar 1944. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Guido Brunner

Huf des Pferdes „Trieste“ von Guido Brunner. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Der Zerfall der multikulturellen Stadt Triest in ethnische und politische Lager zog sich weit in die Familien hinein. Guido Brunner (1893 – 1916), der ältere Sohn von Rodolfo und Gina Brunner, war wie seine Mutter Anhänger des Irredentismus, der gegen Österreich gerichteten italienischen Anschlussbewegung. Dies brachte ihn auch in Konflikt mit seinem Vater, der loyal zur Habsburger Monarchie stand. Als österreichischer Staatsbürger wurde Guido Brunner zur Armee eingezogen, desertierte jedoch und schloss sich den italienischen Truppen an. Auch seine Cousins kämpften auf verschiedenen Seiten im Weltkrieg, für die österreichische Monarchie und in der Britischen Armee. 
Guido wurde auf österreichischer Seite als Deserteur zum Tode verurteilt, jedoch von Kaiser Franz-Josef begnadigt. 1915 zog er dennoch für Italien in den Krieg und fiel am 8. Juni 1916 in der Schlacht von Monte Fior in den Alpen. Seine Überreste wurden nicht gefunden. Guido Brunners Pferd „Trieste“ überlebte die Schlacht und verbrachte sein restliches Leben auf dem toskanischen Landgut Forcoli der Brunners. Einer Reiter-Tradition folgend wurde nach seinem Tod ein Huf präpariert und als Dekorations- oder Gebrauchsgegenstand verwendet. Auf der Metall-Kappe ist die Inschrift: „Trieste segui in guerra il suo padrone Guido Brunner mori e fu sepolta a Forcoli li 8. XII.1918“ („Trieste – Er folgte seinem Meister, Guido Brunner in den Krieg, er starb und wurde in Forcoli begraben am 8. 12. 1918.“)

Carlo Alberto Brunner, „Am Grunde des Ghettos“: Über Guido Brunners „Heldentod“