Verstehen wir uns?

Ausstellungsinstallation Verstehen wir uns? Foto: Dietmar Walser

Aufgewachsen im heute polnischen Białystok, einer einstmals multiethnischen, multireligiösen und vielsprachigen Stadt im Russischen Reich, dachte Ludwik Zamenhof (1859–1917) bereits früh über eine neue, universell verständliche Sprache nach. Wie manch anderer seiner Zeitgenossen hoffte er, mit der Entwicklung einer rational leicht erfassbaren Weltsprache die internationalen und ethnischen Beziehungen zu verbessern. „Die Zerrissenheit und der Hass zwischen den Nationen werden nur dann vollständig verschwinden,“ – so war er überzeugt – „wenn die ganze Menschheit eine Sprache und eine Religion hat.“ 1887 publizierte der Sohn einer jiddisch sprechenden Mutter und eines sich meist des Russischen bedienenden Vaters seine „Plansprache“ unter dem Pseudonym Doktor Esperanto (der Hoffende). Daraus wurde bald der Name der von ihm erdachten Sprache. Deren logische Struktur, möglicherweise aber auch Zamenhofs Übersetzung der hebräischen Bibel ins Esperanto, trug zur schnellen Verbreitung der Sprache bei – und zur Bildung einer internationalen Bewegung, die sie propagierte. Schon 1905 fand der erste Esperanto-Weltkongress in Boulogne-sur-Mer statt, dem jährliche Weltkongresse folgten. 

Ludwik Lejzer Zamenhof, um 1900, ©: Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv

< Plakat für den Esperanto-Weltkongress in Warschau 1937, © Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv

< Zitate zur Ablehnung des Zamenhof-Jahres durch den Stadtrat von Białystok, Dezember 2016 (Quelle: www.esperanto.de)

Esperanto hätte eine gemeinsame Sprache in einem vereinten Europa werden können. Doch wenn es in der Politik um Sprache geht, geht es immer auch um Macht. So haben sich mehrere Nationalsprachen für den Gebrauch in den EU-Gremien durchgesetzt und eben nicht Esperanto. Der Bedeutung dieser Sprachutopie zollte jedoch die UNESCO Anerkennung. Zamenhofs Todestag wurde in die offizielle Liste der UNESCO-Gedenktage 2017 aufgenommen.
Die Stadtregierung von Białystok hat sich für ihren illustren Sohn, der darum gekämpft hat, dass Europäer einander besser verstehen, freilich nicht sonderlich interessiert. Als 2016 im Stadtrat der Antrag eingebracht wurde, in seinem hundertsten Todesjahr 2017 mit einem offiziellen Programm an ihn zu erinnern, wurde das mit den Stimmen der nationalkonservativen Partei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) abgelehnt. Esperanto, so hieß es, habe heute keine Bedeutung mehr. Über diese Entscheidung wurde ursprünglich nur in einigen polnischen Zeitungen berichtet. Als aber die Nachrichtenagentur Agence France-Presse und dann Yahoo die Nachricht international bekannt machten, erschienen auf der ganzen Welt Berichte über das verleugnete Erbe Ludwik Zamenhofs und den nationalistischen Antisemitismus der PiS-Partei.

Liliana Feierstein (Berlin): Über Esperanto als jüdische, europäische und internationale Sprache

Alfred Otto Munk

Alfred Otto Munk: Brief an seinen Vater Hans Munk, nach dem 10. April 1938. Jüdisches Museum Hohenems

Am Tag der pseudodemokratischen Volksabstimmung über den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 10. April 1938 gelang Alfred Otto Munk (1925 – 2002) und seiner 23-jährigen Schwester Gertrud die Flucht bei Lustenau in die Schweiz. Ihre Mutter Rega Brunner, Tochter von Lucian Brunner, hatte einen Schlepper und gefälschte Papiere organisiert und ließ die Kinder in Wien von einem Auto abholen. Sie selbst war bereits rund um die „Anschluss“-Tage aus Österreich geflohen und befand sich in Zürich. Mit zwei weiteren Helfern erreichten ihre Kinder Schweizer Boden. Die Familie verließ Zürich im Oktober und emigrierte in die USA, wo Alfred Otto Munk zunächst in die US-Armee eintrat. Nach Kriegsende studierte er in Stanford und arbeitete jahrzehntelang als Manager in amerikanischen Ölkonzernen. Den Brief über seine Flucht aus Österreich schrieb Alfred Otto Munk an seinen Vater Hans Munk, der – von Rega Brunner seit 1926 geschieden – schon 1937 in die USA emigriert war und in Kalifornien lebte. In der Aufregung vergaß Alfred Otto Munk wohl zu erwähnen, dass der Tag der Flucht aus Österreich auch sein 13. Geburtstag war.

Alfred Otto Munk, Brief an seinen Vater. Auf der Flucht, April 1938.

Angiola Sartorio

Angiola Sartorio: Zigarettenalben-Sammelbild. Jüdisches Museum Hohenems

Angiola Elise Sartorio (1903-1995) war die Tochter von Julie Bonn und dem italienischen Maler Giulio Aristide Sartorio. Ihre Großmutter Elise Bonn, geb. Brunner, eine Schwester der „Triester Brüder“ der ersten Generation, hatte in die Frankfurter Bankiersfamilie Bonn eingeheiratet. Nach der Trennung der Eltern und Jahren in England und Schweden zog Angiola Sartorio zurück nach Deutschland, wo sie die Ideen des modernen Tanzes kennenlernte und in die Kompanie von Kurt Jooss, einem Schüler des einflussreichen Tanztheoretikers Rudolf von Laban, eintrat. Um schließlich eine steile Karriere als Choreographin und Tänzerin zu beginnen. 1933 erarbeitete sie die Choreographien zu Max Reinhardts italienischer Inszenierung des „Sommernachtstraum“ in Florenz. Reinhardts Einladung, mit ihr in die USA zu gehen, schlug sie aber aus. Sie hatte gerade eine eigene Tanzschule in Florenz eröffnet, in der ab 1933 zahlreiche geflüchtete Tänzerinnen und Tänzer aus Deutschland und Österreich Arbeit fanden. 1939 entschloss sich Angiola Sartorio selbst zur Flucht in die USA, zuerst nach New York, dann nach Santa Barbara, wo sie weiterhin Tanz- und Choreographie unterrichtete. Bis zu ihrem Lebensende blieb sie beruflich aktiv und setzte sich für Minderheiten und Bürgerrechte ein.

Verhütung und Bestrafung des Völkermordes

Ausstellungsinstallation Verhütung und Bestrafung des Völkermords. Foto: Dietmar Walser

Alle EU-Staaten sind Mitglieder der Vereinten Nationen, der United Nations. Als globale Organisation, sieht die UN ihre Aufgabe hauptsächlich in der Friedenssicherung, der Welternährung und der Menschenrechtspolitik. Seit 1951 gilt die Völkermordkonvention der UN, die „Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide“, die eng mit den europäischen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist.
Der Begriff „Genozid“ wurde 1944 von Raphael Lemkin (1900-1959) geprägt. Schon in den 1920er Jahren ließ ihn der Völkermord an den Armeniern nicht los. Als er erfuhr, dass der ehemalige türkische Innenminister Talaat Pascha wegen seiner Verantwortung für die Verbrechen an den Armeniern im Exil in Deutschland nicht von Armeniern angeklagt werden konnte, begann Lemkin, sich mit dem Völkerrecht zu beschäftigen. Bereits 1933 versuchte er erfolglos, Vertreter des Völkerbunds von einer internationalen Konvention gegen Genozid zu überzeugen. Der aus der Region um Wilna stammende Lemkin floh nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von Warschau über Schweden in die USA. Die meisten seiner Familienmitglieder wurden als Juden ermordet.
Unermüdlich bemühte er sich um die Aufmerksamkeit der Alliierten für den Völkermord an den europäischen Juden. Nach Kriegsende kämpfte er für die Einführung des Rechtsbegriffs „Genozid“, der entsprechende Verbrechen als völkerrechtswidrigen Tatbestand erfasst. 1948 wurde Genozid nach der von Lemkin übernommenen Definition in das Völkerstrafrecht aufgenommen. Genozid ist demnach „durch die Absicht gekennzeichnet“, „auf direkte oder indirekte Weise eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.

^ ID-Karte Raphael Lemkin für das Kriegsministerium © American Jewish Historical Society

< Armenische Bevölkerung flieht vor türkischen Massakern in Anatolien, 1915, © epd-bild/akg-images/Pictures From History

> Die verzweifelte Nedžiba Salihović aus Srebrenica und UN-Soldaten in einem Flüchtlingslager in Tuzla, Bosnien, 17. Juli 1995, © Ron Haviv/VII/Redux/aif

Im Rahmen der Jugoslawienkriege kam es zwischen April 1992 und Dezember 1995 aufgrund der Unabhängigkeitsbestrebungen der jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina zum sogenannten Bosnienkrieg. Es bekämpften einander die Armee der Republik Bosnien-Herzegowina, die Streitkräfte der Republik Kroatien und die Jugoslawische Volksarmee im Verbund mit der Armee der neu ausgerufenen Republika Srpska. Aus Furcht vor ethnischen Säuberungen richtete der Sicherheitsrat der UN eine Schutzzone um das ostbosnische Srebrenica in der heutigen Republika Srpska ein und entsendete UN-Friedenstruppen in die Region. Die holländischen Blauhelme Dutchbat griffen – nach eigener Aussage wegen Unterbesetzung und mangelnder Ausrüstung – nicht ein, als im Juli 1995 serbische Milizionäre in der Gegend um Srebrenica rund 8.000 muslimische Bosniaken ermordeten. Ein Genozid vor den Augen der UN.

Aleida Assmann (Konstanz) über Raphael Lemkin, Hersch Lauterpacht, Rene Cassin und die Ächtung des Völkermords:

Gina Segré-Brunner

Tasse mit Untertasse von Gina Segré-Brunner. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Gina Segrè (1867-1948) entstammte einer jüdischen Industriellenfamilie aus Triest. Ihr Bruder Salvatore Segrè engagierte sich schon früh für die irredentistische Bewegung, die die Loslösung Triests vom Habsburgerreich und den Anschluss an Italien forderte, während die wachsende Zahl slowenischer Arbeiter in der Stadt auf die panslawische Bewegung setzten.
Für seine Hilfe für Flüchtlinge, die im Ersten Weltkrieg vor der österreichischen Armee geflohen waren, wurde er 1919 zum Baron geadelt und trug fortan den Namen Segrè-Sartorio. Auch seine Schwester Gina, die 1888 Rodolfo Brunner geheiratet hatte, war leidenschaftliche Anhängerin des Irredentismus (der Bewegung der „Unerlösten“) und stand damit im politischen Gegensatz zu ihrem Ehemann. Rodolfo und Gina Brunner bekamen vier Kinder, ihr älterer Sohn Guido fiel im Ersten Weltkrieg im Kampf gegen Österreich, was dazu führte, dass seine Eltern kaum mehr ein Wort miteinander sprachen. 1937 wurde Gina Brunner zur Präsidentin des Nationalverbandes der Mütter und Witwen der Kriegsopfer ernannt. Das Geschirr, vermutlich von Gina Segrè in die Ehe eingebracht, trägt das alte Familienwappen der Segrès mit dem Spruch „Omnia pro patria libenter“.

Europa grenzenlos

Ausstellungsinstallation Europa grenzenlos. Foto: Dietmar Walser

Das Interesse europäischer Mächte richtete sich seit dem 15. Jahrhundert auf überseeische Gebiete. Es entsprang Forscherdrang, missionarischem Eifer, Machthunger und – vor allem anderen – der Profitgier. Die indigenen Bevölkerungen bezahlten für europäische Ambitionen vielfach mit dem Leben oder ihrer Arbeitskraft, während die lokalen Eliten oft mit den neuen Herren kollaborierten. Alle europäischen Seemächte waren Kolonialmächte, wenn auch manche – wie Deutschland – nur für kurze Zeit.
Die Niederlande hatten bereits mit der Erlangung der Unabhängigkeit von Spanien im frühen 17. Jahrhundert begonnen, ein Kolonialreich zu errichten. Zu diesem gehörte beispielsweise „Niederländisch-Indien“, das heutige Indonesien, dessen Bevölkerung jahrhundertelang Zwangsarbeit für Holland leistete. Einer der frühen europäischen Kritiker des Kolonialismus war David Wijnkoop (1876–1941), der für ein demokratisches Indonesien eintrat. Der Sohn eines prominenten Rabbiners gründete die Kommunistische Partei Hollands und ihr Parteiorgan „De Tribune“. Die Zeitschrift unterstützte vehement die indonesische Unabhängigkeitsbewegung und zielte auf die Solidarisierung ihrer Leserschaft mit dem Freiheitskampf der Inselvölker ab.

^ David Wijnkoop, ca. 1935, © Nationaal Archief/Collectie Spaarnestad

< Harry van Kruiningen, Wahlplakat der Kommunistischen Partei Hollands, 1933, © International Institute of Social History, Amsterdam

> Arbeiter im Kampf gegen die von Shell verursachte Ölpest im Nigerdelta, © Ed Kashi

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein Prozess ein, für den der Nationalökonom Moritz Julius Bonn (1873–1965) schon zuvor den Begriff Dekolonisation geprägt hatte. Zwischen 1947 und 1990 wurden alle vormaligen europäischen Kolonien – teils um den Preis kriegerischer Auseinandersetzungen – selbstständig, so auch Nigeria, das bis 1960 britische Kolonie war. Doch damit endete keineswegs die systematische Ausbeutung der regionalen Bodenschätze und der lokalen Bevölkerung zugunsten europäischer Interessen, wie sie beispielsweise der Shell-Konzern verfolgt. Das Unternehmen geht auf den jüdischen Kuriositätenhändler Marcus Samuel (1799–1872) in London zurück, der Muscheln nach England importierte. Einer seiner Söhne baute das Geschäft zu einem ölfördernden, -raffinierenden und -transportierenden Unternehmen aus. Aus der Fusion mit der Königlich Niederländischen Ölgesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts entstand letztlich die Royal Dutch Shell, heute ein globaler Konzern, der sich immer wieder mit massiven Klagen konfrontiert sieht. Nach Expertenschätzungen flossen in den letzten 50 Jahren aufgrund mangelnder Sicherheitsstandards des Konzerns zwei Millionen Tonnen Rohöl in das Nigerdelta. Die Umweltverschmutzung entzieht der Bevölkerung ihre Lebensgrundlagen und reduziert ihre Lebenserwartung drastisch. Shell wird überdies die Komplizenschaft bei der Tötung von Umweltaktivisten in Nigeria vorgeworfen.

Micha Brumlik (Berlin) über Europas Nichterinnerung an den Kolonialismus:

„Die Förderung der Menschenrechte ist der Europäischen Union ein stetes Anliegen“

Ausstellungsinstallation Menschenrechte. Foto: Dietmar Walser

Die 1950 formulierte Europäische Menschenrechtskonvention soll individuelle Menschenrechte vor staatlicher Willkür schützen. Über ihre Umsetzung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Eine der Schlüsselfiguren bei der Einrichtung des Gerichtshofes war Hersch Zwi Lauterpacht (1897–1960) aus dem galizischen Żółkiew. Nach seinem Studium bei Hans Kelsen, dem Staatsrechtler, Rechtsphilosophen und Mitgestalter der österreichischen Bundesverfassung von 1920, übersiedelte Lauterpacht nach London. Dort entwickelte er sein Konzept der Menschenrechte. 

Lauterpacht hatte fast seine ganze Familie in der Schoa verloren. Er definierte die „Aufgabe humanen Regierens“ als Gewährleistung der „natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“. Als Berater der britischen Ankläger im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945–46 entwickelte Lauterpacht den Rechtsbegriff des „Verbrechens gegen die Menschheit“ als Verletzung des Völkerrechts. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN hingegen war vor allem das Werk des französisch-jüdischen Juristen René Cassin (1887-1976), des späteren Präsidenten des Europäischen Menschengerichtshofes. Für sein Engagement erhielt er 1968 den Nobelpreis.

^ Hersch Lauterpacht, Trinity College, Cambridge, UK, 1958, © The Lauterpacht Centre for International Law, Cambridge, UK

< Straßenbahn-Station „Droits de l’Homme“ vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Straßburg 2016, © Rainer Unkel/picturedesk.com

> Griechische Polizei bewacht die türkisch-griechische Grenze, 29. Februar 2020, © Emrah Gurel/APA/picturedesk.com

2012 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer Grundsatzentscheidung fest, dass im Falle von Abschiebungen/Rückführungen von Flüchtenden 

  • „gemäß Art. 3 der europäischen Menschenrechtskonvention der rückführende Staat eine Misshandlung im Zielland verhindern muss 
  • die Inkaufnahme einer Weiterschiebung in das folternde Herkunftsland gegen Art. 3 der europäischen Menschenrechtskonvention verstößt 
  • Kollektivausweisungen auch auf hoher See und von Bootsflüchtlingen gegen Art. 4 des Protokolls 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen 
  • Bootsflüchtlingen gegen ihre Rückschiebung Rechtsmittel gemäß Art. 13 der europäischen Menschenrechtskonvention zustehen“.

Die Verwirklichung der 2007 im Vertrag von Lissabon formulierten Verpflichtung der Europäischen Union, selbst der Europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten, wird – trotz wiederholter Bekenntnisse dazu – bis heute blockiert. Liegt dies daran, dass dann auch ein unabhängiges Kontrollorgan das Handeln und die Glaubwürdigkeit der Mitgliedstaaten hinterfragen müsste?

Gerald Knaus (Berlin) über die Flüchtlingspolitik Europäischer Staaten:

Die Waffen nieder!

Ausstellungsinstallation Die Waffen nieder! Foto: Dietmar Walser

Seit 1901 wird der Friedensnobelpreis an diejenigen vergeben, die „am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt“ und damit „im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht“ haben. 1911 wurde der Preis an zwei Männer vergeben, die beide aus jüdischen Familien stammten: an den holländischen Juristen Tobias Asser (1838–1913) für die Einrichtung des ständigen Schiedshofes in Den Haag und an den österreichischen Buchhändler und Publizisten Alfred Hermann Fried (1864–1921), der – gemeinsam mit Bertha von Suttner – die Zeitschrift „Die Waffen nieder! Monatsschrift zur Förderung der Friedensbewegung“ ins Leben gerufen hatte. Der glühende Pazifist Fried glaubte an die Möglichkeit der Überwindung des Krieges. Er sah in Krieg ein strukturelles „Symptom zwischenstaatlicher Anarchie“, dem mit „zwischenstaatlicher Organisation“, das hieß mit der Einrichtung des Völkerbundes, zu begegnen sei. Dieser sollte in Konfliktfällen den Frieden sichern.

^ Alfred Hermann Fried, o. J., © ÖNB-Bildarchiv

< Diplom über die Verleihung des Friedensnobelpreises an Alfred Hermann Fried, Stockholm 1911, © ÖNB

> Granatwerfer, 120 mm, Hirtenberger Defence Systems, Eurosatory (Land and Airland Defence & Security Exhibition), Paris 2018, © armyrecognition.com

Nach zwei Weltkriegen erfuhr die pazifistische Bewegung einen deutlichen Aufschwung. Immer wieder kam es zu Appellen für eine vollständige Abrüstung. Doch die Rüstungsindustrie ist überall auf der Welt ein wichtiger Wirtschaftszweig. In Österreich gehörte neben den Steyr-Werken die Hirtenberger Munitionsfabrik zu den bekanntesten Rüstungsbetrieben. Lange Zeit wurde Hirtenberger von Fritz Mandl (1900–1977) geleitet. Schon früh fand er über die Schweiz Wege, auch unerlaubt Waffen auszuführen. Ideologisch stand er faschistischen Systemen der Zeit nahe. 1933 versuchte er, von seiner Firma modernisierte Beutewaffen aus dem Ersten Weltkrieg nach Italien, Ungarn und an die Heimwehr zu liefern, was einen internationalen Skandal auslöste. Seine Freundschaft mit Nazis schützte ihn nach dem Anschluss allerdings nicht davor, nach den Nürnberger Gesetzen als Jude definiert zu werden; er emigrierte nach Argentinien und beriet Diktator Perón. Nach seiner Rückkehr 1955 sicherte Mandl seinem restituierten Unternehmen Großaufträge des Bundesheers. 1999 startete Hirtenberger Defense Systems sein Granatwerfer-Programm. Waffenexport in kriegführende Staaten und solche, in denen Waffen menschenrechtswidrig eingesetzt werden, ist gesetzlich verboten. Doch taucht immer wieder österreichisches Kriegsmaterial, auch solches von Hirtenberger, in kriegführenden Ländern wie beispielsweise Afghanistan auf.

Michael Miller (Wien) über den Pazifismus der Paneuropa-Union:

Europas Grenzen

Ausstellungsinstallation Europas Grenzen. Foto: Dietmar Walser

„Wir konnten reisen ohne Pass und Erlaubnisschein, wohin es uns beliebte, niemand examinierte uns auf Gesinnung, auf Herkunft, Rasse und Religion.“ Als Stefan Zweig 1941 im brasilianischen Exil seine etwas idealisierten „Erinnerungen eines Europäers“ fertigstellte, hatte er eine radikal veränderte Realität in Europa vor Augen. 
Schon 1938 hatte die Schweiz ihre Grenzen vor den immer zahlreicheren jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland geschlossen und verweigerte ihnen politisches Asyl. Der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger rettete in der Zeit von 1938 bis 1939 hunderten von ihnen das Leben, auch durch die gefälschte Datierung von Grenzübertritten. 1939 wurde er vom Dienst suspendiert und verurteilt und erst 1995 von der Schweiz rehabilitiert. Während Grüninger als Flüchtlingshelfer geehrt wird, werden heute viele Helfer erneut kriminalisiert.

Eine der großen Errungenschaften der Europäischen Union ist das Schengener Abkommen von 1985, das die Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb der EU ermöglicht. 

Auch nicht-EU-Länder wie die Schweiz, Liechtenstein, Island und Norwegen nehmen inzwischen am Abkommen teil. An der österreichisch-schweizerischen Grenze bei Hohenems gehört der kleine Grenzverkehr in beide Richtungen längst zum Alltag. 
Auch Rumänien, Bulgarien und Kroatien sollen dem Schengen-Raum beitreten. Manche Branchen, wie die Landwirtschaft, die Baubranche oder die Pflegedienste sind auf „Wanderarbeiter“ aus Süd-Osteuropa inzwischen existentiell angewiesen.

< Die Paul Grüninger Brücke, von der Schweiz aus Richtung Grenzübergang Hohenems, 2020, © Dietmar Walser, Jüdisches Museum Hohenems

> Im Sommer 2015 von Ungarn errichtete Grenzzäune zwischen Ungarn und Serbien, © Attila Kisbendedek/AFP

Anlässlich der Beitrittsverhandlungen zur EU wurde auch Serbien 2009 der kontrollfreie Zugang zum Schengenraum gewährt. Das sollte sich nach der Flüchtlingsbewegung Richtung EU ändern. Zahlreiche Länder u. a. auch Österreich und Deutschland führten die Grenzkontrollen wieder ein. Und Ungarn, in das im Sommer 2015 ca. 160.000 Flüchtlinge gelangten, errichtete an seiner „EU-Außengrenze“ zu Serbien einen 300 km langen und bis zu 4 Meter hohen Stacheldrahtzaun.

Inzwischen hat sich der Fokus der EU auf die Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei verlegt. Mehr als 4 Millionen Kriegsflüchtlinge leben in der Türkei. Im Rahmen des „EU-Türkei Abkommens“ erhielt diese von der EU finanzielle Unterstützung, um die Flüchtlingsbewegung in die EU einzudämmen. Nach Ablauf des Abkommens brachte die Türkei Ende Februar 2020 Flüchtlinge an die Grenze, um Druck auf die EU auszuüben. Griechenland setzte daraufhin das Recht auf Asyl zunächst für ein Jahr aus, was offen gegen die EU-Menschenrechts- und die Genfer Flüchtlingskonvention verstieß. 

Die „Wanderarbeit“ in Europa hingegen offenbart ihre Schattenseiten: schlechte Bezahlung, schwierige Arbeitsbedingungen und menschenunwürdige Unterbringung wurden im Zeichen von Corona unverhofft als Problem der ganzen Gesellschaft erkannt.

Rainer Münz (Wien) über Wanderarbeit in Europa:

Das „Andere“ Europas

Ausstellungsinstallation Das “Andere” Europas. Foto: Dietmar Walser

Auf der europäischen Suche nach dem „Anderen“, dem Versuch, das „Gegenüber“ Europas im Orient zu finden, entstand schon im 18. Jahrhundert die Wissenschaftsdisziplin der Orientalistik. Zu jenen, die die Erforschung der Sprachen und der Geschichte des gesamten Orients im 19. Jahrhundert vorantrieben, zählten auch viele Vertreter der Wissenschaft des Judentums. Zu ihnen gehörten Lion Ullmann, Salomon Munk, Gustav Weil, Moritz Steinschneider, David Samuel Margoliouth, Felix Peiser, Josef Horovitz und Eugen Mittwoch. Anders als die historisch-philologisch ausgerichtete Orientalistik beschäftigt sich die Islamwissenschaft vor allem mit muslimischer Religion und Kultur. Die erste Anregung, ein solches Fach zu etablieren, gab der Vordenker der jüdischen Reformbewegung in Deutschland, Abraham Geiger. Vater der modernen Islamwissenschaft war – gemeinsam mit Theodor Nöldeke – jedoch Ignaz Goldzieher. In die Fußstapfen dieser Gelehrten wollten auch der zum Islam konvertierte Lew Nussimbaum (1905-1942) und Hedwig Klein treten (1911–1942). Klein studierte in Hamburg Islamwissenschaft und Semitistik und beendete 1937 ihre Dissertation über eine Handschrift zur „Geschichte der Leute von ‘Omān von ihrer Annahme des Islam bis zu ihrem Dissensus“. Als Jüdin wurde sie nicht mehr promoviert. Nach einem vergeblichen Fluchtversuch aus Deutschland konnte sie noch bis Mitte 1942 am heute meistbenutzten „Arabischen Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart“ von Hans Wehr mitarbeiten. Dann wurde sie deportiert und in Auschwitz ermordet. 1947 wurde ihr der Doktortitel posthum zuerkannt. Lag Hedwig Kleins Interesse am Orient und am Islam wie bei ihren männlichen Vorgängern und Kollegen an der Verwandtschaft des Hebräischen und des Arabischen oder daran, dass Judentum und Islam beide strikt monotheistische Gesetzesreligionen sind? 

^ Hedwig Klein, ca. 1930, © Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg

< Lew Nussimbaum, alias Essad Bey, aka Kurban Said, Berlin um 1923, courtesy of Tom Reiss, Autor der Nussimbaum-Biographie „The Orientalist“

> Islamfeindlicher Mottowagen beim Düsseldorfer Karnevalsumzug, 2007, © Federico Gambarini/dpa/picturedesk.com

Die Forschungen europäischer Juden zum Islam waren jedenfalls nicht durch den im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert verbreiteten Exotismus motiviert, die oberflächliche Faszination durch das „Fremde“. Ebensowenig entsprangen sie dem Ziel, Orientalismus als eine Ideologie der Differenz zu verwenden und – wie auch heute so oft – den Orient als Negation des Okzidents zu definieren. Im Gegenteil: Juden vermochten sich – selbst als Europas „Andere“ wahrgenommen – der islamischen Welt mit weit mehr Einblick und Verständnis als viele Christen zu nähern. Obwohl die Rückkehr fundamentalistischer Bewegungen in allen Religionen festzustellen ist, äußert sich populistische Agitation in Europa heute hauptsächlich in der Propagierung des Feindbilds „Islam“: das Bild vom Morgenland als einem Gegenentwurf zum Abendland, als Europas ewigem Widerpart.

Brian Klug (London) über das innere und äußere “Andere” Europas und das Erbe des Kolonialismus:

Raus aus dem Korsett!

Ausstellungsinstallation Raus aus dem Korsett. Foto: Dietmar Walser

Während sich in Folge der Französischen Revolution die bürgerliche Gleichstellung für männliche Bürger in Europa durchsetzte, war die Gleichberechtigung der Frauen kein Ziel der Verfechter von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gewesen. Erst um 1900 formierte sich eine internationale Frauenbewegung.

Feministische Pionierin in Ungarn war die Pazifistin Rózsika Schwimmer (1877–1948). Zur Durchsetzung emanzipatorischer Ziele gründete sie verschiedene Frauenvereine und gab gemeinsam mit Vilma Glücklich (1872–1927) die wichtigste feministische Zeitschrift Ungarns – „Frau und Gesellschaft“ – heraus. 1913 organisierte sie den VII. Internationalen Frauenstimmrechtskongress in Budapest und brachte damit erstmals das Frauenwahlrecht auf die politische Agenda. Anschließend ging sie als Pressesprecherin der International Woman Suffrage Alliance nach London, das sie mit Kriegsbeginn als „feindliche Ausländerin“ verlassen musste. Den Krieg verbrachte sie in den USA. 1918 kehrte sie nach Ungarn zurück, wo nach der gescheiterten Revolution 1919 der „Weiße Terror“ unter Miklós Horthy hauptsächlich auf Linke und Juden zielte. So emigrierte sie endgültig in die USA, wo sie als Staatenlose lebte. Als Pazifistin hatte sie sich geweigert zu unterschreiben, dass sie das Land im Notfall mit Waffen verteidigen würde.

^ Rózsika Schwimmer, Budapest 1913, © Carrie Chapman Catt Albums. Bryn Mawr College Libraries, Special Collections.

< Briefmarke zum Internationalen Frauenstimmrechts-Kongress 1913 in Budapest, © Jüdisches Museum Hohenems

> Propagierung von Orbans „Aktionsplan für Familienschutz“, 2019, © Gábor Ligeti

1912 schrieb Schwimmer „Obwohl die ungarische Frau als Gattin eine viel vorteilhaftere Stellung hat als die deutsche, englische, holländische usw., steht die Mutter in Ungarn unter denselben Gesetzen der Unlogik, Ungerechtigkeit und Grausamkeit, die fast die ganze menschliche Gesellschaft beherrschen. Poesie und Prosa verherrlichen die Mutterschaft, stellen die Mutter als Typus des Vollweibes dar. Außerhalb dieser luftigen Regionen jedoch ist die Mutter, die eheliche wie die uneheliche, Trägerin der Dornenkrone.“ 

Mehr als hundert Jahre später trifft ihre Analyse wieder zu. Nach Revolution und Konterrevolution ist Ungarn erneut von Abwanderung und Abschottung gegen alles „Fremde“ geprägt, und von der Demontage der Demokratie. Gegen die niedrige Geburtenrate initiierte Viktor Orbán im Frühjahr 2019 eine neue Familienpolitik: Junge, ungarische, verheiratete Frauen mit mehreren Kindern sollen finanziell großzügig unterstützt werden. „Familienpolitik“ soll gegen vorgeblich drohende „Überfremdung“ helfen.
Bei der Kampagne unterlief der ungarischen Regierung allerdings ein peinlicher Lapsus: Das auf dem Stockfoto einer Agentur abgebildete „Paar“ wurde im Internet in anderen Versionen unter dem Schlagwort „distracted boyfriend“ schon lange vor der Familienplan-Kampagne als sogenanntes „Meme“ verwendet, um Untreue darzustellen. 

Andrea Petö (Wien) über Frauenrechte, Genderstudien und Corona:

Moritz Julius Bonn

Moritz Julius Bonn: The Crisis of European Democracy. New Haven 1925 / Die Auflösung des modernen Staates. Berlin 1921. Jüdisches Museum Hohenems

Moritz Julius Bonn wurde am 16. Juni 1873 in Frankfurt am Main geboren, als Sohn des Bankiers Julius Philipp Bonn und Elise Brunner aus Hohenems. Nach Studien in Heidelberg, München, Wien, Freiburg und London, sowie Forschungsaufenthalten in Irland und Südafrika begann seine erfolgreiche Laufbahn als Nationalökonom. In Italien lernte er die Engländerin Theresa Cubitt kennen, die er 1905 in London heiratete, im gleichen Jahr, in dem er sich über die englische Kolonialherrschaft in Irland habilitierte. 1914 bis 1917 lehrte er an verschiedenen Universitäten in den USA.  Als Politikberater nahm er an zahlreichen Nachkriegskonferenzen teil, schrieb über Freihandel und wirtschaftlichen Wiederaufbau, kritische Studien über Kolonialismus und die europäische Demokratie, die er nur in Pluralismus und ethnischer Diversität als überlebensfähig betrachtete. Als Rektor der Handelshochschule in Berlin und Leiter des von ihm gegründeten Instituts für Finanzwesen gehörte er schließlich zu den führenden Wirtschaftsfachleuten der Weimarer Republik. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 musste Bonn emigrieren, zuerst nach Salzburg, dann nach London, und schließlich in die USA, wo er seine Autobiographie Wandering Scholar(deutsch: So macht man Geschichte) begann. Nach dem Krieg ließ er sich endgültig in London nieder, wo er 1965 verstarb.
Moritz Julius Bonn hatte die Sommer seiner Kindheit bei den Großeltern in Hohenems verbracht und hielt auch Kontakt zum Triester Zweig der Familie.

Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte, 1953: Erziehung eines Liberalen und Gottesdienste in Hohenems
Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte, 1953: “Felix Austria” und seine Minderheiten
Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte, 1953: Gedächtnis und Heimkehr aus dem Exil?

 

„Kommt ein Vogerl geflogen“

Ausstellungsinstallation “Kommt ein Vogerl geflogen”. Foto: Dietmar Walser

Ein dichtes Kommunikationsnetz macht die Welt zu einem scheinbar überschaubaren Raum, holt internationale Nachrichten in nur wenigen Minuten in unsere Wohnzimmer und erlaubt den Austausch mit Freunden und Familie über Kontinente hinweg.

Einer der Pioniere dieser globalen Kommunikation war Paul Julius Reuter (1816–1899), in Kassel als Sohn eines Rabbiners geboren und 1845 zum Christentum konvertiert. Er erkannte früh die Bedeutung möglichst schneller Nachrichtenübermittlung. Erste Erfahrungen machte er in der ältesten europäischen Nachrichtenagentur, bei Agence Havas in Paris. In jenen Jahren wurden die ersten Telegrafiestrecken eingeweiht, auch zwischen Paris und Berlin, wenn auch noch mit vielen Lücken. Reuter nützte die Gunst der Stunde und investierte zunächst in 45, bald in 200 Brieftauben, mit denen er die Verbindungslücken zwischen Brüssel und Aachen schloss. 1851 ließ sich Reuter in London nieder, wo er im Gebäude der Stock Exchange eine Telegrafie-Station einrichtete und die Börsenneuigkeiten zwischen Paris und London hin- und herschickte. Bald konnte er das Vertrauen der großen Medienhäuser gewinnen, die sich von ihm mit wichtigen Nachrichten aus aller Welt versorgen ließen. Reuter revolutionierte den internationalen Journalismus, indem er neutrale, möglichst objektive Nachrichten zur Verfügung stellte. 

^ Paul Julius Reuter, Kopie eines Gemäldes von Rudolf Lehmann, 1869, © Internationales Zeitungsmuseum Aachen

< Brieftaube, © Bettman, Getty Images

> Vordruck für eine „Freikarte“ für einen Bordellbesuch, © https://www.witzbold.org/bordell-gutschein.html

Die Kehrseite heutiger globaler Kommunikation ist die Produktion von Fake News. Besonders durch die Sozialen Medien verbreiten sich falsche Nachrichten innerhalb weniger Stunden weltweit. Einmal im Netz, ist es kaum mehr möglich, in Umlauf gebrachte Falschmeldungen rückgängig zu machen. Währenddessen gerät seriöser Journalismus auch in einigen EU-Ländern in Gefahr – durch zunehmende Gleichschaltung der Presse, aber auch durch Verunglimpfung und juristische Verfolgung von Journalisten. In Österreich werden vor allem Boulevardzeitungen mit Steuermitteln gefördert, besonders im Krisenjahr 2020.

„Bordellgutscheine“ wie der abgebildete sind seit 1989 im Umlauf. Ursprünglich als Faschingsscherzartikel gedacht – haben sich Varianten dieses Gutscheins im deutschsprachigen Raum rasant verbreitet, heute meist mit dem Zusatz „für Flüchtlinge“. Mit der Veröffentlichung dieser „Gutscheine“ werden bewusst Falschmeldungen über die Flüchtlingspolitik gestreut. Auch wird suggeriert, dass Flüchtlinge ihren Sexualdrang nicht kontrollieren könnten und deshalb von der Regierung Gutscheine für einen gratis Bordellbesuch bekämen, um zu verhindern, dass einheimische Mädchen vergewaltigt würden.

Andrea Petö (Wien) über die Schließung der Central European University durch die Regierung Orban:

Union Europa?

Ausstellungsinstallation Union Europa. Foto: Dietmar Walser

Die Europäische Union begann nach dem Zweiten Weltkrieg als Wirtschaftsgemeinschaft. Ihre Geschichte reicht in das Jahr 1952 zurück, als ihre Vorgängerin, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gegründet wurde. Heute ist die EU auch eine politische Gemeinschaft. Ihr einziges seit 1979 direkt gewähltes Organ ist das Europäische Parlament in Strasbourg. Seine erste Präsidentin war die französische Politikerin und Auschwitz-Überlebende Simone Veil (1927–2017). In jenem Jahr wurde außerdem die französische Frauenrechtlerin Louise Weiss (1893–1983) Abgeordnete für die Fraktion der Europäischen Demokraten für den Fortschritt. Noch während des Ersten Weltkriegs hatte sie die friedensorientierte Zeitschrift „L’Europe Nouvelle“ gegründet und über zwei Jahrzehnte herausgegeben. Als äußerst gefährdete Tochter einer Elsässer Jüdin war sie trotzdem während des Zweiten Weltkriegs aktiv in der Résistance gewesen. Ihre Arbeit für ein geeintes, demokratisches Europa wurde mit ihrer Bestellung zur ersten Alterspräsidentin des Europäischen Parlaments und der Benennung des Parlamentsgebäudes nach ihr gewürdigt. Louise Weiss hatte durchaus die Begrenztheit des Unionsgedanken auf seine wirtschaftlichen Aspekte erkannt und wies früh auf das Fehlen einer europäischen Solidargemeinschaft hin: „Die europäischen Institutionen“, sagte sie, „haben europäische Zuckerrüben, Butter, Käse, Wein, Kälber, ja sogar Schweine zustande gebracht. Aber keine europäischen Menschen.“ 

^ Louise Weiss, 1979, © Communauté Européenne

< Europäisches Parlament, Louise-Weiss-Gebäude ©, Dominique Faget / AFP / picturedesk.com

> Wandgemälde von Banksy in Dover 2017; von Unbekannten 2019 weiß übermalt, © Banksy

Ebenfalls 1979 ins Europäische Parlament geschickt wurde Stanley Johnson – Enkel des letzten Innenministers des Osmanischen Reiches, Ali Kemal. Als Abgeordneter der britischen Torys gehörte er derselben Fraktion wie Weiss an. Er befürwortete 1992 vehement den Vertrag von Maastricht, mit dem die Europäische Union ihre heutige Gestalt annahm. Sein Sohn Boris Johnson führt nun das Vereinigte Königreich aus dieser Union heraus. Sehen die Enkel der Generation des Zweiten Weltkriegs Europa nur mehr als sentimentales und obsoletes Friedensprojekt? Anfeindungen der EU gehen auch von Parteien auf dem Kontinent aus. Sind die Forderungen nach mehr nationaler Autonomie Symptome eines wachsenden Rechtsnationalismus? Zugleich mehren sich auch Austrittsforderungen in Ländern, die sich am Rand Europas – trotz aller Lippenbekenntnisse zu einer europäischen Wertegemeinschaft – mit der faktischen Entsolidarisierung Europas konfrontiert sehen. Kann damit die europäische Integration bereits als gescheitert gelten? Ist das der Anfang vom Ende des Projekts Europa?

Ulrike Guérot (Wien) über Europäische Demokratie:

Gerald Reitlinger

Gerald Reitlinger: Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939-1945, Berlin 1956 (im Original: The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939-1945, 1953) / Die S.S. – Tragödie einer deutschen Epoche, München 1957 (Im Original: The SS – Alibi of a Nation, 1956) / Auf Sand gebaut. Hitlers Gewaltpolitik in Russland 1941-1944. Hamburg 1962 (im Original: The House build on Sand. the Conflicts of German Policy in Russia, 1960). Jüdisches Museum Hohenems

Nach ihrem gewaltigen sozialen Aufstieg in Triest verheirateten Carlo Brunner und seine Frau Caroline, geb. Rosenthal, ihre drei Töchter an drei Brüder Reitlinger, Bankiers in Wien, London und Paris. Gerald Reitlinger (1900-1978) wurde als jüngster Sohn von Albert Reitlinger und Emma Reitlinger, geb. Brunner, geboren und studierte Kulturwissenschaften und Kunst. 1930 bis 1931 nahm er an einer Ausgrabung im Irak teil und unternahm in Folge mehrere Forschungsreisen in den Iran, die Türkei und nach China. Nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte Gerald Reitlinger die erste Gesamtdarstellung über den nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden: The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939–1945 erschien 1953 in London (deutsch 1956). 1956 folgte The SS. Alibi of a Nation 1922 – 1945(deutsch 1957). Gerald Reitlinger war ein begeisterter Sammler von asiatischen und islamischen Keramiken. Seine große Sammlung, die kurz vor seinem Tod durch ein Feuer beschädigt wurde, vermachte er dem Ashmolean Museum in Oxford, wo sie heute die Gerald Reitlinger Gallery bildet.

Gerald Reitlinger, Endlösung, 1956: Schuldfragen