Vermischtes EU-Bashing

Rückblick, 12.6.2020: Österreichs Kanzler Kurz hat dem Kurier ein „großes Sonntagsinterview“ gegeben. Redakteur Richard Grasl ist der richtige Mann dafür. Er fragt auch dann nicht kritisch nach, wenn der Kanzler für jeden offensichtlich lügt. Thema ist der den beiden Plauderern vollkommen unverständliche Umstand, dass an der Politik des Kanzlers Kritik laut wird. Die kommt von Gastronomen und anderen Kleinbetrieben, bei denen die vollmundig angekündigte Unterstützung („Koste es was es wolle“) partout noch nicht ankommen will. Kanzler Kurz erklärt leutselig wer daran schuld ist. Nämlich die EU. Er scheint sich immer noch, oder schon wieder im Wahlkampfmodus zu befinden. Und buhlt nach wie vor um rechte bis rechtsradikale Wählerstimmen. Glaubt er seine Lügen selbst?
„Die Schweiz ist unter den Top-Staaten – auch weil sie nicht an EU-Regeln gebunden ist.“ Natürlich weiß, wie Stefan Brocza gestern im Standard süffisant anmerkt, auch ein Studienabbrecher der Rechtswissenschaften, erst recht aber ein ehemaliger Außen- und EU-Minister, dass die Schweiz durch zahllose Abkommen am EU-Binnenmarkt teilnimmt und ebenso viele Gesetze längst an EU-Recht angepasst und deren Regelwerk in großen Teilen übernommen hat. Dass Richard Grasl – 2018 von der ÖVP und René Benko als Mitglied der Kurier-Chefredaktion installiert, um das Blatt zusammen mit Martina Salomon auf türkise Linie zu bringen – bei solch munterem EU-Bashing kritisch nachfragen würde, wäre freilich zu viel verlangt. Der Mann trägt seit einer Verurteilung über die höflich geschwiegen wird eine elektronische Fußfessel, und die zwickt in solchen Fällen wohl schmerzhaft.

Die Europäische Union fordert die Stärkung biologischer Landwirtschaft und will mit ihrer Landwirtschafts- und Biodiversitätsstrategie den Wandel der europäischen Landwirtschaft vorantreiben. Österreichs Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger steht auf der Bremse und verlangt eine Studie, die die Folgen der Umstellung auf biologische Landwirtschaft untersuchen soll.
Biologische Landwirtschaft würde, so Köstinger, die Produktivität senken und damit Europa stärker von Landwirtschaftsimporten abhängig machen. Nehmen wir Frau Köstinger mal – absurderweise – einen Moment langdieses Argument ernst, dann will sie uns also sagen, dass die österreichische Landwirtschaft also Bio vor allem für die Tourismuswerbung und das „grüne Image“ produziert. Sonst aber weiter herkömmliche Massenproduktion betreiben soll. Soviel Ehrlichkeit sind wir gar nicht mehr gewohnt. Der EU-Rechnungshof warnt hingegen vor dem zunehmenden Rückgang von Bio-Diversität, durch die nach wie vor betriebene konventionelle Landwirtschaft und ihre Monokulturen.

Seit drei Tagen gilt für Menschen, die nach Großbritannien einreisen, eine 14tägige Quarantänepflicht. Wer sich nicht an die Selbstisolation hält, muss mit einem Bußgeld von 1000,- Britischem Pfund rechnen. Die neue Verordnung macht nur Ausnahmen für Reisende aus Irland, der Isle of Man und den Kanalinseln, sowie für Lastwagenfahrer im Fernverkehr und medizinisches Personal. Gesundheitsexperten rätseln öffentlich, warum Großbritannien diese Maßnahme erst jetzt einführt. Die zögerliche Einführung von Corona-Maßnahmen in Großbritannien hat dazu beigetragen, dass das Land die höchste Zahl von Toten aufweist, die an der Pandemie gestorben sind. Offiziell liegt die Zahl der Toten inzwischen bei 41.000. Man geht aber von einer extrem hohen Dunkelziffer aus. Dass nun vor allem der Schutz Großbritanniens vor infizierten Ausländern im Mittelpunkt der Politik steht, halten viele Kritiker für reine Propaganda. Schließlich sei das Risiko sich in Großbritannien anzustecken sehr viel höher, als in den meisten anderen Ländern Europas.

Von Ischgl bis Island

Rückblick, 7.6.2020: Tirols Landeshauptmann Günther Platter brüstet sich in der ORF-Pressestunde mit dem Umgang des Landes Tirol mit Corona. Er behauptet, in Ischgl hätte es erst am 7. März den ersten Corona-Fall gegeben. Island hat die Tiroler Behörden allerdings schon in der Nacht vom 4. auf den 5. März offiziell darüber informiert, dass 14 in Ischgl infizierte Urlauber am 29. Februar via München zurückgekehrt sind, das Virus also offenbar schon im Februar in Ischgl in fünf Hotels grassierte. Testungen wurden danach in den betroffenen Hotels nur spärlich durchgeführt. Selbst nach der behördlichen Schließung am 10. März hatten zahlreiche Aprés-Ski-Lokale in Ischgl weiter geöffnet, ohne dass die Polizei eingeschritten ist.
Landeshauptmann Platter schließt personelle Konsequenzen aus. Es sei, so sagt er, doch unbestritten, dass das Virus, das sich auf der ganzen Welt ausgebreitet hat, gar nicht in Tirol entstanden sei. Das freilich hat auch niemand behauptet.

Am Höhepunkt habe das Bundesland 3.500 Erkrankte gezählt, nun seien es zehn. „Da sieht man, wie hier gearbeitet wurde“, so Platter. „Das ist eine Erfolgsgeschichte, die ich mir nicht schlechtreden lasse“, sagt Platter.
Die Zahl der bestätigten Corona-Fälle pro Hunderttausend Einwohner hält in Tirol nun bei 467, im Vergleich dazu in den übrigen Bundesländern (Wien eingeschlossen) bei 163. Um nach dem Desaster in Ischgl noch größere Infektionsraten zu vermeiden, musste das ganze Land in Quarantäne geschickt werden. Nicht nur „Ausländer“ sondern auch Österreicher, die dort keinen Wohnsitz hatten, wurden gezwungen, das Land zu verlassen. Die Arbeitslosigkeit im Land hat sich verdreifacht (im übrigen Österreich verdoppelt). Im Bezirk Landeck liegt sie derzeit bei 24%. Eine Bereitschaft, diese „Erfolgsgeschichte“ kritisch aufzuarbeiten besteht scheinbar noch nicht.

In Israel ist die Gefahr einer Corona Infektion offenbar wieder größer geworden. Seit Ende Mai steigen die Zahlen der Corona-Fälle an und insbesondere Schulen gelten als Infektionsherde. 130 Schulen und Kindergärten mussten deshalb erneut geschlossen werden.
In Österreich ist die Maskenpflicht beim Betreten der Schule und in den Schulgebäuden außerhalb des Unterrichts von Bildungsminister Faßmann nach Pfingsten wieder aufgehoben worden. Lehrer berichten nun davon, dass damit auch die Bedeutung anderer Maßnahmen (Abstand, Händewaschen etc.) in Frage gestellt worden ist und deren Einhaltung deutlich zurückgeht.

In den letzten Tagen haben weltweit mehr als eine Million Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstriert, in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Österreich, Australien und erneut in den USA, aber auch in Tunesien, Thailand, Japan oder Südkorea. Alleine in Wien sind am 4. Juni 50.000 Menschen, statt der erwarteten 3000, auf die Straße gegangen. Die meisten Demonstrationsteilnehmer trugen Masken. An eine Einhaltung des Sicherheitsabstandes war angesichts der Menschenmassen allerdings nicht zu denken. Die Wiener Polizei unternahm allerdings alles nötige, um dem rasch waschenden Demonstrationszug mehr Raum zu verschaffen und schritt ansonsten nicht ein. Einige Polizeifahrzeuge zeigten selbst den hashtag #blacklivesmatter als digitale Laufschrift. Die gesamte Demonstration verlief friedlich. Corona-Cluster sind nach dieser Demonstration nicht aufgetreten.

Corona-Verschwörungstheorien

Rückblick, 30.5.2020: 20% der Briten glauben, die Juden haben Corona erschaffen, um der britischen Wirtschaft zu schaden und daraus finanzielle Vorteile zu ziehen. Genauer: „Demnach stimmten 5,3 Prozent der Befragten «ein wenig» überein, 6,8 Prozent sagten, sie würden «moderat übereinstimmen», 4,6 Prozent waren weitgehend einverstanden und 2,4 Prozent waren «vollkommen einverstanden» mir der Behauptung, Juden hätten den Virus geschaffen, um die Wirtschaft aus Gründen des finanziellen Profits zum Zusammenbruch zu führen. Rund 80,8 Prozent stimmten überhaupt nicht überein mit dieser Aussage. 40 Prozent glauben, dass der Virus von mächtigen Kreisen vorsätzlich in Umlauf gebracht worden sei, um die Kontrolle auszuüben. 20 Prozent sind zumindest irgendwie der Ansicht, der ganze Virus sei ein schlechter Witz.“ (Quelle: tachles)

Vor drei Tagen hat EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen einen Plan für Europäische Wiederaufbauhilfen vorgelegt, der insgesamt 750 Milliarden umfassen soll. Der größere Teil davon soll als Zuschüsse fließen, ein Teil aber auch als langfristige Kredite. Dafür sollen die EU-Mitglieder endlich stärker für diese Gemeinschaftsausgaben in die Pflicht genommen werden. Vor allem soll die EU auch über eigene Einnahmen verfügen, zum Beispiel durch eine Steuer für die international operierenden Digitalkonzerne, deren Gewinne bislang in Europa nur marginal besteuert werden. Ob dieser Versuch, Europa in der Krise zu stärken, Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. Der Widerstand – nicht zuletzt von Seiten der sich als „sparsame vier“ definierenden Staaten, nämlich Österreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark – ist keineswegs überwunden.

Unsere Europakarte – neue Kommentare unserer Besucher:innen

Europäisches Tagebuch, 20.5.2021: Unsere Europakarte ist inzwischen voller kontroverser Besucherkommentare zur Zukunft Europas: Bald werden wir Platz machen müssen für neue.

Rückblick, 20.5.2020: Deutschland und Frankreich trauen sich, den europäisch-gordischen Knoten zu durchschlagen und endlich über konkrete, gemeinsame europäische Wiederaufbauhilfe zu sprechen. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz will gemeinsam mit den Niederlanden, Schweden und Dänemark einen „alternativen Plan“ vorlegen.

Die von der österreichischen Regierung versprochenen Hilfen für die Wirtschaft dauern zu lange? Was fällt der Wirtschaftsministerin dazu ein? Natürlich, die EU ist schuld, ihre vielen Vorschriften. In Wirklichkeit sind die Ministerien und die Wirtschaftskammer angesichts der schieren Zahl von Anträgen und den eigenen, teils widersprüchlichen neuen Vorschriften und Erlassen heillos überfordert.

Innenminister Nehammer bietet „Wien Hilfe an“. Die Polizei solle das Contact-Tracing in Wien und die Kontrolle von Quarantänemaßnahmen „unterstützen“. Aus dem Gesundheitsministerium wird zur gleichen Zeit abgewunken. Die Kooperation mit der Bundeshauptstadt funktioniere hervorragend. Man werde ständig hervorragend informiert. Die neu aufgetretenen Coronainfektionen in Postverteilzentren in Wien und Niederösterreich, sowie in einer Asylunterkunft in Wien nutzt die ÖVP hingegen zum Wahlkampfauftakt. Dabei sind die Zahlen in Wien im Vergleich zu manchen anderen österreichischen Bundesländern, erst recht aber zu anderen europäischen Metropolen nach wie vor eher niedrig. Die neuen Fallzahlen beruhen hingegen auf langsam besser funktionierendem Contact-Tracing und entsprechenden Testungen.

Die Philippinen statt Rumänien?

Europäisches Tagebuch, 11.5.2021: In Österreich fehlen bis 2030 schätzungsweise 75000 Pflegekräfte. Die Wirtschaftskammer will offenbar ein Programm starten, das dem Mangel an Pflegekräften mit dem Import von Pfleger:innen von den Philippinen abhelfen soll.
Schon vor einem Jahr hat die türkisblaue Landesregierung Oberösterreichs eine Agentur beauftragt, Arbeitskräfte auf den Philippinen anzuwerben. Dabei wurde auf die sonst so oft gehörten markigen Sprüche wie „Deutsch ist Pflicht“ verzichtet. Deutschkenntnisse sind auch nach den neuen Plänen der Wirtschaftskammer verzichtbar. Der Spracherwerb soll „in der Praxis“ erfolgen. Die Rede ist von diplomierten Pflegern und Pflegerinnen, die nach zwei Jahren Arbeit unter fachlicher Aufsicht als Krankenpfleger:innen arbeiten sollen. Dabei wird mit Rekrutierungskosten von 8000-12000 Euro gerechnet. Die Gewerkschaften und die SPÖ mahnen stattdessen schon länger bessere Arbeitsbedingungen und Entlohnung, und die Einführung einer 35 Stunden Woche für die Pflegeberufe ein. Auch die Umschulung von Arbeitslosen für die Pflege soll attraktiver gestaltet werden. Ob das freilich reichen wird, Menschen hier im Land für einen Beruf zu erwärmen, der in unserer Gesellschaft allgemein noch nicht wirklich ernst genommen wird? Das scheint noch ein langer Weg zu sein.
Der Ausbruch der Covid-19 Pandemie im letzten Frühjahr hat immerhin schlagartig die Aufmerksamkeit für die Misere im Pflegebereich erhöht. Und dies sowohl in den Krankenhäusern, deren Personal seit dem letzten Frühjahr vor allem mit öffentlichen Streicheleinheiten bedacht, aber nach wie vor schlecht bezahlt wird. Wie erst recht in der Heimpflege, die im April 2020 zusammenzubrechen drohte, weil die Anreise von Heimpflegerinnen aus Osteuropa blockiert war. Ob die Anwerbung auf den Philippinen diese Probleme lösen kann? Aber den Pflegeberuf wirklich attraktiver zu machen, wird viel Geld kosten.
Am wachsenden Bedarf nach Heimpflege hingegen, wird nur dann etwas zu ändern sein, wenn grundsätzlich über Alternativen nachgedacht würde, zum Beispiel über die Förderung des Zusammenlebens und Wohnen mehrerer Generationen, oder mehr gemeinschaftliche Wohnformen für ältere Menschen. Mehrgenerationenprojekte: Das freilich würde einem anderen Prestigeprojekt der Wirtschaftskammer und des Wirtschaftsbundes widersprechen. Nämlich der Erhöhung der Mobilität, und wenn es sein muss auch zwangsweise, durch die Drohung mit der Kürzung des Arbeitslosengeldes, die derzeit in der österreichischen Regierung für Spannungen sorgt.

Rückblick, 11.5.2020: Der erste Transitzug mit Pflegerinnen aus Rumänien ist in Österreich angekommen, nachdem wochenlang mit der ungarischen Regierung über ein Durchfahrtsrecht verhandelt worden ist. 33.000 Familien in Österreich sind auf 24-Stunden-Betreuung durch Pflegekräfte angewiesen, die im Monat weniger als 1000,- € für 14 Tage 24-Stunden-Dienst bekommen, „natürlich“ ohne 13 oder 14 Monatsgehalt, und davon noch die Fahrtkosten zwischen ihren Heimatorten und Österreich bezahlen müssen – wenn die Familien, in denen sie arbeiten, nicht „nebenher“ die Pflegerinnen dabei unterstützen.
Viele der Frauen waren deshalb auf eben jene Sozialleistungen angewiesen, die die türkisblaue Bundesregierung 2019 gekürzt hat. Die sogenannte „Indexierung“ der Familienbeihilfe war eines der populistischen Prestigeprojekte von Sebastian Kurz.

Im Klartext bedeutete das für die zumeist aus Rumänien stammenden Pflegerinnen eine Halbierung der Unterstützung für jedes Kind – d ren Betreuung häufig wiederum Geld kostet, da die Mütter 1000 Kilometer entfernt von zu Hause arbeiten müssen. Trotzdem ist die Pflegearbeit für Frauen aus Osteuropa angesichts der Lohnunterschiede und der sozialen Situation in ihren Heimatländern nach wie vor finanziell attraktiv. Viele Familien dort sind auf diese Verdienste im Ausland existentiell angewiesen. Ob das auf Dauer so bleiben wird, ist allerdings kaum abzusehen.

Corona und Colani – und natürlich die Adler

Europäisches Tagebuch, 5.5.2021: Rücktritte in Tirol? Damit hat man gar nicht mehr gerechnet. Gesundheitslandesrat Tilg – „Die Behörden haben alles richtig gemacht“ – hat das Handtuch geworfen. Und die Wirtschaftslandesrätin gleich mit. Von Tilg stammte auch im März vorigen Jahres die überraschende Erkenntnis, „dass das Corona-Virus nicht in Ischgl entstanden sei“, womit er einen tiefen Einblick in sein Verständnis von Pandemien gab. Und das folgenreichste Corona-Cluster nördlich des Alpenhauptkamms verschlief. Seitdem wartet ganz Europa auf irgendetwas, was wie eine demütige Entschuldigung für die Versäumnisse verstanden werden könnte. Aber die gab es auch im Zuge der Rücktritte von gestern nicht. Man habe die „Umbesetzung“ ja eh geplant.

Stattdessen war gestern heraus gekommen, dass die Firma HG Labtruck eines Wiener Urologen (kein Tippfehler !), die in Tirol mit einer mobilen Teststation hunderttausende von Tests durchgeführt hat (Auftragsvolumen 8.000.000,-, ohne Ausschreibung), offenbar unzählige falsche Testergebnisse geliefert hat. Die Virologin Dorothee van Laer von der Med-Uni Innsbruck erklärte inzwischen, sie habe wochenlang erfolglos versucht herauszufinden, wer bei der HG Labtruck überhaupt für die Befunde verantwortlich sei. Die zwei vom Urologen Ralf Herwig angegebenen Partnerlabors in Deutschland und Salzburg, weisen das zurück. Das deutsche Labor hat offenbar keinen einzigen Test ausgewertet, das Labor in Salzburg hat die Kooperation seit November eingestellt und streitet sich seitdem mit HG Labtruck um Millionenforderungen. Auch sonst hat Ralf Herwig in einigen offenen Verfahren mit der Justiz zu tun. Zum Beispiel wegen dem Verdacht auf Körperverletzung mit Dauerfolgen, im Zuge der Behandlung von Erektionsproblemen. Und vor drei Jahren schaffte er es mit Wundermitteln gegen Krebs und Autismus in die Schlagzeilen. Auch das Verfahren in dieser Sache ist noch offen.
An Selbstvertrauen mangelt es dem Medizinunternehmer, der laut Ärztekammer nicht mehr praktizieren darf, jedenfalls nicht. Die Tiroler Landesregierung hat er offenbar nicht zuletzt mit dem von Luigi Colani stammenden futuristischen Design seines Lab Trucks überzeugt, dessen phallische Entschlossenheit nichts zu wünschen übrig ließ.

Colani Truck aus Dortmund

Im Moment herrscht in Tirol Rätselraten, wieviele von den 220.000 PCR-Tests im Lab Truck überhaupt oder jedenfalls fehlerhaft durchgeführt wurden. Und die Tiroler Behörden genauso wie der in Misskredit geratene Wunderdoktor selbst beteuern, dass er persönlich nichts mit Tirol zu tun hätte. Damit nur ja kein Verdacht aufkommen könnte, hier hätten irgendwelche Familienbande eine Rolle gespielt. Das klang im Werbefilm im September 2020, als das futuristische Labor auf seine Adlerrunde geschickt wurde, noch etwas anders.

Nun ja, sein Schwager ist ja auch ein Kitzbühler Eventmanager, der auf Anfrage bestreitet, mit dem Unternehmen des arbeitslosen Urologen irgendetwas zu tun zu haben. Und dann allerdings einräumen muss, dass er die mobilen Testlabors seines Schwagers in Tirol durch die Gegend kutschiert. Muss ja auch einer machen. Ganz arbeitslos ist Ralf Herwig, trotz des Verbots zu praktizieren, natürlich ohnehin nicht. Er amtiert im Kitzbühler Country Club seines Kumpels Richard Hauser als “Experte” für “Zellenergie” und – dreimal darf man raten – “Urologie”. Und natürlich ist Hauser auch Mitglied der legendären Adlerrunde.

 

Rückblick, 5.5.2020: Mittlerweile haben sich Tausende von Corona-Infizierten beim Verbraucherschutzverein VSV gemeldet um Ansprüche gegen das Land Tirol, den Bürgermeister der Gemeinde Ischgl und die dortigen Seilbahnbetreiber anzumelden. Die Ansteckungen in Ischgl sind für einen großen Teil der Corona-Fälle in Nordeuropa, in Deutschland aber auch in Österreich verantwortlich. Das Land Tirol geht nach wie vor davon aus, dass es sich beim ersten Corona-infizierten in Ischgl um einen Ausländer handelt, einen deutschen Barkeeper mit norwegischem Namen. Die österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit AGES geht allerdings davon aus, dass eine einheimische Kellnerin schon vorher infiziert war, bei der im März bei einer Testung Virenrückstände festgestellt wurde, und nach eigenem Bekunden schon am 8. Februar Symptome hatte.

Die EU-Kommission will sich mit 1,4 Milliarden Euro an einer globalen Krisenreaktion zur Entwicklung eines Impfstoffes gegen Corona beteiligen.

Großbritannien, dass dank seiner Regierung zunächst auf „Herdenimmunität“ gesetzt hat, ist inzwischen das Land mit den meisten Corona-Toten in Europa und hat mit über 30.000 Opfern der Pandemie Italien, Spanien und Frankreich hinter sich gelassen. Und dies, obwohl die Zahlen geschönt sind, da Tote in Heimen nicht mitgezählt werden.

 

Missverständnisse

Rückblick, 28.4.2020: Präsident Trump hat vor vier Tagen bei seiner Pressekonferenz gefordert, neue Behandlungsmethoden zu prüfen: zum Beispiel die Injektion von Desinfektionsmitteln oder die Bestrahlung mit UV-Licht. Gesundheitsbehörden warnen daraufhin davor, solche Experimente zu machen. Wenig später werden die ersten Todesopfer dieser „Behandlungsmethode“ gemeldet. Trump hat inzwischen erklärt, er habe diese Vorschläge „sarkastisch“ gemeint, um Journalisten zu testen. Ein Missverständnis.

Auch das österreichische Gesundheitsministerium hat mit Verständnisproblemen zu kämpfen. Es stellt nun klar, dass es sich beim „Verbot“ des Besuchs bei Freunden und Verwandten, das in der allgemeinen Wahrnehmung seit Mitte März besteht, um ein „Missverständnis“ handelt.

Die entsprechende Formulierung auf der homepage des Ministeriums besteht aus zwei Fragen und einer Antwort: „Wann enden die Ausgangsbeschränkungen? Wann sind Besuche bei Familienmitgliedern oder Freunden wieder erlaubt?“ „Die Ausgangsbeschränkungen wurden bis Ende April verlängert.“ Nun stellt eine Sprecherin des Ministeriums öffentlich fest, worum es sich bei dieser Nicht-Erlaubnis nicht handelt: „Natürlich ist das kein Verbot“. Vermutlich, weil ein solches Verbot in Wirklichkeit verboten wäre.

Man kann dies als eine typisch österreichische Lösung des gegenwärtigen Dilemmas verstehen. Nur diesmal funktioniert sie umgekehrt. Gesetzliche Verbote gelten ja in Österreich häufig als „Empfehlung“. In diesem Fall ist es eindeutig im Interesse der Pandemiebekämpfung, wenn möglichst viele Menschen diese Empfehlung als „Verbot“ missverstehen und ihre sozialen Kontakte reduzieren. Das kann im Moment nicht schaden.

Die offizielle Zahl der Coronatoten in den USA hat unterdessen die Grenze von 50.000 überschritten, in Großbritannien sind schon mehr als 20.000 Menschen an Covid 19 verstorben. Es zieht damit in dieser traurigen Statistik an Italien und Spanien vorbei.

Nicht missverstanden werden möchte hingegen FPÖ-Vorsitzender Herbert Kickl. Er will allen Österreicherinnen und Österreichern 1000,- € zum Einkaufen in Österreich schenken. Natürlich nur den österreichischen Staatsbürgern.

Auf die serbisch-chinesisch(-österreichische) Freundschaft

Rückblick, 19.4.2020: Präsident Vučić feiert den chinesischen Präsidenten Xi Jinping für seine Hilfe gegen die Corona-Epidemie, zum Beispiel für die Zurverfügungstellung von Schutzmasken, die allerdings in Wirklichkeit auf Kosten der EU erworben und nach Serbien eingeflogen wurden. Und während die EU für 7,5 Millionen € Labore in Serbien modernisiert und insgesamt 374 Millionen an die Nicht EU-Staaten auf dem Balkan zur Abfederung der sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie, läuft die serbische Propagandamaschine auf Hochtouren: Das Digitale Forensische Zentrum in Montenegro berechnet, dass zwischen dem 9. März und dem 9. April von serbischen Twitter-Konten 30.000 Tweets versendet wurden, bei denen es um China und Serbien ging. Fast 72 Prozent von ihnen stammten von Roboterkonten – sogenannten Bots –, hinter denen also keine realen Personen stehen. Bei den Tweets ging es meistens darum, China und die chinesisch-serbische Freundschaft wie auch Vučić und die serbische Regierung zu preisen und den Mangel an EU-Hilfe zu bemängeln.

Seit dem 15. März herrscht in Serbien der widerrechtlich unbefristete Ausnahmezustand und damit eine Ausgangssperre. Zuwiderhandeln wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft, eine der ersten Personen, die unter diesem Vorwand festgenommen wurden, war die regimekritische Sängerin Jovana Popovic, die zwar überhaupt nicht gegen die Selbstisolation verstoßen hat, dafür aber das korrupte serbische Regime als „Diebesbande“ beschrieben hat.

Offenbar schon vor einem Jahr hat der Innenminister der türkisblauen Regierung Österreichs, Herbert Kickl, einen Geheimvertrag mit Serbien abgeschlossen, der vorsieht, abgelehnte AsylwerberInnen, die nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können stattdessen nach Serbien abzuschieben, um sie dort auf österreichische Kosten in Lagern festzuhalten. Die Existenz dieses Vertrags ist erst unlängst bekannt geworden. Wieviel Österreich Serbien für diesen Dienst zahlen soll, verrät die Bundesregierung aufgrund „vertragsrechtlicher Vereinbarungen“ nicht. Aus der Antwort von Innenminister Nehammer auf eine parlamentarische Anfrage der Neos geht hervor, dass auch die türkis-grüne Bundesregierung an diesem Vertrag festhalten will. Als Bedingung nennt Nehammer einen „ausreichenden Bezug des Fremden zu Serbien“. Dieser sei gegeben, wenn jemand über die Westbalkan-Route gekommen sei und dabei das Staatsgebiet Serbiens berührt habe. Unklar ist, welche Summen Österreich dafür an das serbische Regime bezahlen will. Erst recht aber ist höchst zweifelhaft, ob die rechtlich zwingenden Voraussetzungen für eine Unterbringung in Serbien (z.B. dass ihnen dort kein Freiheitsentzug droht) überhaupt gegeben sind.

Inzwischen hat die EU für die Rückholung von ca. 500.000 Europäern aus Krisengebieten außerhalb der EU gesorgt.

Lucian Brunner: Sprachenstreit und Nationalitätenhader

Europäisches Tagebuch, 15.4.2021: Heute vor 107 Jahren starb der ehemalige Wiener Gemeinderat Lucian Brunner in Wien. Geboren wurde er am 29 September 1850 in Hohenems als Sohn von Marco Brunner und Regina Brettauer. Lucians Vater war wie die meisten seiner Brüder und Cousins in ihrer Jugend nach Triest aufgebrochen um an dem regen Textilhandel zwischen St. Gallen und dem Mittelmeerraum zu partizipieren, mit dem die Familie Brunner ihren steilen ökonomischen Aufstieg begann. Später ging Marco Brunner nach St. Gallen, wo er die Geschäfte der Familie in der Schweiz vertrat und bald auch das „Bankhaus Jakob Brunner“ führte, aus dem später einmal die UBS hervor gehen sollte.
1883 trat auch Lucian Brunner als Kompagnon in die Privatbank seines Vaters in St. Gallen ein. Bald darauf, 1889, ließ Lucian sich mit seiner Frau Malwine Mandel in Wien nieder, wo er sein eigenes Bankgeschäft gründete aber auch als Industrieller und Politiker tätig wurde. Er engagierte sich in einer kleinen liberal ausgerichteten Partei, den „Wiener Demokraten“, für die er von 1896 bis 1901 dem Wiener Gemeinderat angehörte, wie auch als Obmann des „Demokratischen Zentralvereins“ und als Herausgeber der dazugehörigen Zeitung „Volksstimme“. Im Wiener Gemeinderat trat er immer wieder dem antisemitischen Bürgermeister Karl Lueger entgegen, wo er den immer lauter werdenden nationalistischen Parolen widersprach. In der Auseinandersetzung um die Badenische Sprachenverordnung vertrat er gegenüber der aufwallenden Feindseligkeit gegenüber den Tschechen eine mäßigende Position. Er vertrat die Ansicht, dass die deutsche Verkehrssprache nicht mit nationalistischem Ressentiment, sondern aus Vernunftgründen verteidigt werden müsse, ohne die Sprachminderheiten im Reich abzuwerten. „Die Vertretung der Stadt Wien (…) muß sich gegenwärtig halten, daß sie nicht bloß das Zentrum eines Landes ist, welches von einer Nationalität bewohnt ist, sondern von vielen Nationalitäten und es soll daher verhütet werden, daß etwa eine andere Nationalität des Reiches glaube, daß in dieser Resolution eine Spitze, eine Feindseligkeit gegen sie enthalten sei. (…) Es ist ja seit Jahr und Tag bei uns in Österreich üblich, daß man eine Politik der Schlagwörter macht und zu den zügigsten dieser Schlagwörter gehört der Nationalitätenstreit und der Nationalitätenhader. Wenn eine politische Partei nichts mehr anzufangen weiß, dann fängt sie an, Nationalitätenstreitigkeiten hervorzurufen.“ Als im Oktober 1897 Vertreter der tschechischen Minderheit in Wien eine neue Schule für sich forderten, ging er ebenfalls auf Distanz zum nationalen Furor und rief dazu auf Pluralismus zuzulassen – und verweis dabei auf seine eigenen Erfahrungen als Angehöriger der deutschen Minderheit in Triest. Stattdessen wurde er im Gemeinderat als „Jude“ beschimpft. „Gerade der Zwang, mit dem man die Völker Österreichs zum Deutschtum zwingen wollte, hat das Deutschtum geschädigt. (…) Wir wollen das Recht für unsere Minoritäten, deshalb dürfen wir selbst auch nirgends das Recht einer Minorität unterdrücken! Außerdem steht es der großen deutschen Kulturnation nicht gut an, wenn sie sagt, wir fürchten uns vor dieser tschechischen Schule in Favoriten. (…) Ich bin ein Jude, wie Sie ganz richtig sagen, und meine Herren, ich bin froh daß ich einer bin.“

Vollends zum Feindbild der Christlichsozialen wurde er mit seinem Protest gegen eine geplante Kirchenbausubvention der Christlichsozialen Mehrheit. Gegen dieses Bruch mit der Religionsneutralität des Staates reichte Lucian Brunner eine Klage ein, die schließlich vor dem Höchstgericht Erfolg hatte. Damit verteidigte er die verfassungsmäßig garantierte Trennung von Kirche und Staat – und wurde nun zum beliebten Ziel andauernder antisemitischer Angriffe, in Wien wie in Vorarlberg. Lucian Brunners erste Frau, Malwine, starb während dieser Kampagnen, die der Familie Brunner auch persönlich zusetzten.
Mit seiner Heimatgemeinde Hohenems blieb Brunner immer in engem Kontakt. So spendete er beispielsweise für den Bau des Krankenhauses und der Turnhalle namhaften Summen. Mehrfach versuchte er auch in Zusammenarbeit mit Hohenemser Liberalen und der Fabrikantenfamilie Rosenthal Straßenbahnprojekte in Hohenems zu realisieren, die Hohenems mit der Schweizer Eisenbahn jenseits des Rheins oder auch mit Lustenau verbinden sollten. Ein letztes Straßenbahnprojekt, das 1911 den Hohenemser Bahnhof mit der Rosenthalschen Fabrik im Süden der Marktgemeinde verbinden sollte, kam ebenfalls nicht zustande, da die Wirtschaftslage die Firma Rosenthal inzwischen schwer in Mitleidenschaft zog. Auch in Hohenems agitierten die Christlichsozialen inzwischen gegen den „Juden“ Brunner – und gegen die Rosenthals, die die Schule mit italienischen Kindern „vollstopfen“ würden.
Brunner blieb zeitlebens ein Liberaler, auch wenn er am Ende seines Lebens die zionistische Bewegung in Wien unterstützte, wohl aus Enttäuschung über die politische Entwicklung in Österreich. Als er am 15. April 1914 in Wien starb, hinterließ er ein Legat für eine überkonfessionelle Schule in seiner Heimatgemeinde. Der Hohenemser Gemeinderat nahm das Legat nicht an. Eine überkonfessionelle Schule war nicht erwünscht.

Rückblick, 15.4.2020: US-Präsident Trump erklärt, der Höhepunkt der Corona-Pandemie sei überschritten. Und kündigt an, dass die USA ihre Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisation WHO einstellen wird. Der deutsche Entwicklungsminister Müller erklärt hingegen, die Zahlungen an die WHO zu erhöhen: „Die WHO muss jetzt gestärkt werden, nicht geschwächt. Inmitten der Pandemie die Mittel zu kürzen, ist der absolut falsche Weg.“
Trump entscheidet außerdem, dass die von der US-Regierung angekündigten „Not-Schecks“ an ca. 70 Millionen Bedürftige in den USA – in Höhe von 1200,- $ – seinen Namen tragen sollen, mitten im beginnenden Wahlkampf. Das hat es in der amerikanischen Geschichte noch nicht gegeben.
Trump droht damit, das Parlament in die Zwangspause zu schicken, mit der Begründung er wolle freie Stellen ohne parlamentarische Beteiligung besetzen. Von der Möglichkeit eine Parlamentspause zu anzuordnen, hat ebenfalls noch nie ein amerikanischer Präsident Gebrauch gemacht. Trump spielt bei einer Pressekonferenz mit zirkulierenden Verschwörungstheorien, z.B. dass der Virus aus einem chinesischen Labor stamme.

EU-Kommissionspräsidentin van der Leyen fordert indessen mehr Gemeinsamkeit der EU-Mitglieder ein: „Ein Mangel an Koordination beim Aufheben der Beschränkungen birgt die Gefahr von negativen Effekten für alle Mitgliedsstaaten und würde wahrscheinlich zu einem Ansteigen der Spannungen unter den Mitgliedsstaaten führen. Es gibt keinen ‘one-size-fits-all’-Ansatz in der Krise, aber die Mitgliedstaaten sollten sich mindestens gegenseitig informieren“, mahnt die EU-Behörde in Brüssel. Van der Leyen kündigt einen Wiederaufbauplan für Europa an, der einen gemeinsamen Fonds beinhalten soll.

Auf den griechischen Inseln werden nach wie vor 40.000 Flüchtlinge unter unmenschlichen Bedingungen in Lagern festgehalten. Heute werden 12 (in Worten ZWÖLF) aus Syrien und Afghanistan stammende Kinder aus Athen nach Luxemburg ausgeflogen. Luxemburg ist damit das erste von elf Ländern, die sich bereit zeigen, einige wenige unbegleitete oder kranke Minderjährige aus den Lagern aufzunehmen. Außer Luxemburg beteiligen sich Deutschland, die Schweiz, Belgien, Bulgarien, Frankreich, Kroatien, Finnland, Irland, Portugal und Litauen an der Rettungsaktion. Am Samstag sollen 58 Kinder nach Deutschland folgen. Die österreichische Bundesregierung weigert sich nach wie vor, dabei zu helfen, obwohl zahlreiche Bürgermeister inzwischen angeboten haben, neue Flüchtlinge aufzunehmen.

Corona: Zum Stand der Dinge

Europäisches Tagebuch, 12.4.2021: Wer versucht die verschiedenen Corona-Bilanzen weltweit im Vergleich zu verstehen, stößt vor allem auf Widersprüche. Oder auf durchwachsene Erfolgsmeldungen.

Großbritannien hat es geschafft, das Infektionsgeschehen radikal einzudämmen und ist im europäischen Maßstab mit der Durchimpfung der Bevölkerung weit fortgeschritten. Freilich hat das Land auch die meisten Todesfälle Europas zu verzeichnen. Inzwischen sind es 127.000. Italien folgt mit 114.000 Todesfällen und wird Großbritannien bald überholt haben, was Tote pro Kopf der Bevölkerung angeht. Auch Frankreich wird bald 100.000 Tote zählen. Deutschland, dass europäische Land mit der größten Bevölkerung hingegen steht bei 78.500 Toten, auch wenn über das „Impfchaos“ geschimpft wird, so wie in Österreich oder der Schweiz, die so wie Deutschland ebenfalls mit ihren 9700-9800 Toten eher zu Ländern zählen, die bisher die wenigsten Toten pro Kopf betrauern müssen.

Die dramatischste Todesrate Europas hat Tschechien aufzuweisen, mit 28.000 Toten und einer Bevölkerung von 10,6 Millionen.

Außerhalb Europas hält die USA nach wie vor den zynischen Spitzenwert von 560.000 Toten, vor Brasilien, das inzwischen 353.000 offiziell dokumentierte an Covid-19 Verstorbene aufweist – und ein derzeit völlig außer Kontrolle geratenes Infektionsgeschehen mit den weltweit mit Abstand meisten Toten am Tag. Immerhin: in Brasilien weiß man woran es liegt: das Land mit dramatischen sozialen Gegensätzen und riesigen Elendsquartieren am Rande seiner Metropolen wird von einem Faschisten regiert, der keine Gelegenheit auslässt, zu demonstrieren, wie wenig ernst er die Pandemie nimmt.

Dunkelziffern gibt es zudem in vielen Ländern, am höchsten ist sie vermutlich in Russland, dass sich rühmt nur wenig mehr als 100.000 Tote gezählt zu und als erstes einen Impfstoff, nämlich Sputnik-V zugelassen zu haben. Rechnet man die Übersterblichkeit der vergangenen Monate in die Bilanz ein, so gehen unabhängige Beobachter in Summe von über 400.000 Toten aus. Viele von ihnen haben die Todesursache: „Viruspneumonie, nicht näher bezeichnet“. (In den USA beträgt die Differenz zwischen den offiziellen Coronatoten und der Übersterblichkeit seit Beginn der Pandemie, nur etwa 15.000 Menschen).

Auch wenn Sputnik-V mit viel Medienecho schon 2020 zum Einsatz kam – geimpft sind in Russland erst 6% der Bevölkerung mit einer ersten Dosis. Die Impfskepsis grassiert genauso wie die Pandemie, so richtig traut man der Politik und den Behörden nämlich nicht. Und Russland scheint den Impfstoff eher als zur Ankurbelung des Exports zu benutzen, in Länder, von denen man sich Geld oder auch politische Gefälligkeiten erwartet, wie Serbien.

Zum Vergleich: In Österreich sind fast 17% der Bevölkerung inzwischen mit einer ersten Dosis geimpft, in Deutschland 16%, in Italien 15%, in der Schweiz etwas über 12%, in den USA sind es inzwischen, durch einen beispiellosen Kraftakt nach dem Ende der Ära Trump nun 36%. In Brasilien, wo die Pandemie derzeit wütet wie nirgendwo auf der Welt nur 10%.

Und Israel? Das Land dass es mit fast 60% Durchimpfung mit einer ersten Dosis vermeintlich geschafft hat, „Herdenimmunität“ zu erreichen und nun weltweit als leuchtendes Beispiel gehandelt wird? Was kann man aus diesem Beispiel lernen?
Von einem Regierungsschef, der sein eigenes politisches Überleben an den Erfolg der Pandemiebekämpfung geknüpft hat und stolz darauf ist, den Chef des wichtigsten Impfstofflieferanten Pfizer regelmäßig nachts aus dem Schlaf geklingelt zu haben? Wieviele können ihm das nachmachen?
Ein Land das, kontinuierlich im militärischen Ausnahmezustand, seine eigene Bevölkerung nun durch den Geheimdienst überwacht und sämtliche Gesundheitsdaten exklusiv an Pfizer verkauft hat, und um diesen Preis nun vor allen anderen Ländern mit den Lieferungen bevorzugt wurde, genauer gesagt, auf Kosten von allen anderen Ländern.
Und auf Kosten der Bevölkerung in den besetzten Gebieten, von denen nur diejenigen geimpft werden, die in Israel “systemerhaltende” Jobs haben. Natürlich war die palästinensische Führung zu stolz, um Israel offiziell um Impfstoffe zu bitten und hat stattdessen auf Sputnik-V gesetzt. Doch für den größten Teil der palästinensischen Bevölkerung ist die israelische Regierung verantwortlich, auch wenn sie immer wieder beteuert, dass der Vertrag von Oslo die Verantwortung für die gesundheitliche Versorgung der Palestinian Authority übergeben hätte. Doch jeder weiß, dass der Vertrag von Oslo inzwischen das Papier nicht mehr Wert ist, auf dem er geschrieben wurde. Und seine Regelungen über palästinensische Teilautonomie ohnehin niemals das gesamte besetzte Gebiet und sein Bevölkerung umfasst hat.
Was an all dem soll nun als leuchtendes Vorbild dienen?

Rückblick, 12.4.2020: Einer Meinungsfrage in Italien zufolge will fast die Hälfte aller Italiener aufgrund des unsolidarischen Verhaltens mancher europäischer Staaten die EU verlassen.

Die USA hat mit 20.600 offiziell bestätigten Todesopfern Italien überholt. Bis zum Abend steigt die Zahl auf 22.000. Davon sind ca. 3600 Tote aus Altenheimen gemeldet worden. Eine hohe Dunkelziffer wird angenommen. Dies gilt auch für Großbritannien. Dort sind es nun über 10.000 bestätigte Todesopfer. Die britische Statistik erfasst allerdings nur die in Krankenhäusern Verstorbenen, nicht die Toten in Seniorenheimen, Pflegeheimen oder Privatwohnungen.

 

Fauler Fisch und brennende Busse

Europäisches Tagebuch, 8.4.2021: In seiner Weihnachtsansprache hat der englische Premier Boris Johnson seinen englischen Landsleuten Fisch versprochen, viel Fisch. Natürlich auch Truthahn, Pudding, Rosenkohl und Brandybutter. Was auch immer zu Weihnachten auf die englische Tafel kommen mag. Aber was bleibt, ist nun wohl wirklich: viel Fisch. Auf dem die Briten nun zum Teil sitzen bleiben.

Schon der Scheidungsvertrag mit der EU hatte die britischen Fischer enttäuscht. Deren Empörung über die europäischen Fischerboote in „ihren“ Gewässern hatte den EU-Austritt Großbritanniens ganz wesentlich befeuert. Und nun sollen sie noch weiterhin die europäischen Invasoren, allen voran belgische, irische, dänische und niederländische Fischer, in ihren Jagdgründen dulden? Immerhin gehörte zum „Deal“ in letzter Minute, dass deren Fangquoten zwar gesenkt aber durchaus nicht abgeschafft würden. „Johnson hat uns die Rechte an allen Fischen versprochen, die in unserer exklusiven Wirtschaftszone schwimmen“, so klagte der Chef des nationalen Verbunds der Fischereiorganisationen (NFFO), Andrew Locker, noch zu Weihnachten sein Leid dem Sender BBC Radio 4. „Aber wir haben nur einen Bruchteil davon erhalten.“

Inzwischen dämmert den britischen Fischern freilich die Erkenntnis, dass ihr Problem nun ein ganz anderes ist: wohin mit „ihrem“ Fisch?

Denn so sehr die Briten vielleicht auch Fish and chips selber mögen, leben tun die britischen Fischer vom europäischen Markt. Und den Zugang zu diesem Markt haben sie sich selber nun deutlich erschwert. Bei einem fragilen Gut wie Fisch kann das fatale Folgen haben, denn der muss schnell aus dem Netz in den Handel. Und genau daran hapert es seit Januar. Ganze Schiffsladungen sind in britischen Häfen verrottet. Die Lieferketten mussten neu organisiert werden, der komplizierte Weg durch den Zoll funktioniert zwar inzwischen leidlich. Aber all das kostet Geld und treibt die Preise in die Höhe – und das ist schlecht für den Absatz des symbolisch kostbarsten, was Großbritannien offenbar zu exportieren in der Lage ist: Fisch. Der droht nun das zu werden, was er politisch immer schon war, ein fauler Fisch.

Dass dies für die britischen Fischer eine Überraschung ist, mag nur denjenigen verwundern, der davon ausgeht, dass Menschen wirklich immer im Sinne ihrer Interessen handeln.

Noch weniger überraschend allerdings beginnt nun auch in Nordirland die Saat des Brexit aufzugehen. Krawalle, Straßenschlachten, verletzte Polizisten, brennende Busse. All das hat lange den Alltag im Norden der irischen Insel geprägt, bis „einst“ (so ist man schon versucht zu sagen) 1998 mit dem Karfreitagsabkommen ein Meilenstein im Friedensprozess zwischen Katholiken und Protestanten erreicht wurde. Schließlich waren Großbritannien und Irland beide in der EU und die Grenzen konnten geöffnet werden, zwischen den Ländern, aber „step by step“ auch innerhalb der gespaltenen nordirischen Gesellschaft. 16.200 Bombenanschläge, 37.000 Fälle von Schusswaffengebrauch, 22.000 Überfälle und 2.200 Brandanschläge waren in den Jahrzehnten des Konflikts von beiden Seiten ausgegangen. 3.600 Menschen starben, 47.000 wurden verletzt.

Nun haben protestantische Gewalttäter pünktlich zu Ostern wieder damit begonnen britische Polizisten zu attackieren und marodierend durch die Straßen zu ziehen, am Brennpunkt der „Grenze“ zwischen protestantischen und katholischen Stadtvierteln. Unter dem Vorwand, gegen die „Zollgrenze“ zwischen Nordirland und Großbritannien zu protestieren. Mit dem Ziel freilich, die alten Grenzen auf der Insel wieder herzustellen. Fortsetzung folgt.

Rückblick, 7.4.2020: In den USA sterben täglich ungefähr 2000 Menschen. US-Präsident Trump macht die WHO für die Corona-Krise verantwortlich und droht damit, die Zahlungen der USA an die WHO einzustellen.
Die EU schickt ein Team aus rumänischen und norwegischen Ärzten und Pflegern nach Mailand und Bergamo. Österreich beteiligt sich mit 3000 Litern Desinfektionsmitteln an dieser Aktion. Deutschland nimmt Patienten aus dem Elsass auf.

EU-Krisen und “kritische Diskussion”

Rückblick, 30.3.2020: Gestern hat Sebastian Kurz in der Kronenzeitung die EU für die Krise verantwortlich gemacht: „Die EU wird sich nach der Krise eine kritische Diskussion und Auseinandersetzung damit gefallen lassen müssen. Es kann nicht sein, dass wir zwei Wochen lang komplett auf uns allein gestellt darum kämpfen müssen, dass ein Lkw der mit bereits von uns bezahlten und dringend benötigten Schutzmasken an der deutschen Grenze hängt, weiterfahren darf, und gleichzeitig unsere Kontrollen zu Italien kritisiert werden.“ Die Austria Presse Agentur verbreitet die Meldung mit der kritischen Nachfrage, ob Kurz mit “der EU” tatsächlich die EU-Kommission gemeint haben könnte, die doch selbst gar keine Entscheidungen in dieser Sache treffen kann. Oder ob er die verantwortlichen Regierungschefs meinte, also unter anderem sich selber.

Im gleichen Interview der Kronenzeitung wird Sebastian Kurz dafür gefeiert, sich schon mit Corona befasst zu haben, „als die EU derweil mit oberster Priorität noch damit beschäftigt (gewesen sei), die Grenzschließungen der Nationalstaaten zu kritisieren und sich um die minderjährigen Flüchtlinge vor der griechischen Außengrenze zu sorgen“. Gemeint sind wohl die minderjährigen Flüchtlinge innerhalb der griechischen Flüchtlingslager.

In der Kontroverse um mögliche Corona-Bonds sehen Italien und Frankreich Europäische Solidarität gefordert. Österreich, Deutschland und die Niederlande lehnen gemeinsame Anleihen ab.

Das ungarische Parlament verhängt heute mit der Zweidrittelmehrheit der Regierungspartei Fidesz zeitlich unbefristet den Ausnahmezustand, der Ministerpräsident Orban weitgehende Vollmachten einräumt, mit Dekreten zu regieren, ohne das Parlament zu beteiligen. Wahlen und Abstimmungen sind ausgesetzt. Der Generalstaatsanwalt erhält weitreichende Vollmachten. Die „Verbreitung von Fake-News“ wird mit bis zu 5 Jahren Gefängnis bestraft. Dabei denkt Orban offenbar weniger an Corona-Leugner und Verschwörungsphantasien sondern an demokratische Kritiker seiner Politik. Die wenigen Presseorgane, die noch nicht in Regierungshand sind, können damit jederzeit mundtot gemacht werden. Zuvor hat Orban schon angeordnet, dass die Presse bei bestimmten Themen vorher bei der Regierung anfragen, ob das Thema erlaubt ist.

Der österreichische Kanzler wird auf die Demontage der Demokratie in Ungarn angesprochen. Er habe wegen Corona „einfach keine Zeit“ sich mit der Lage in Ungarn zu beschäftigen. Kurz darauf postet er einen Tweet zur Lage in Venezuela.

Die EU-Kommission bemüht sich darum, die Freizügigkeit systemrelevanter Arbeitskräfte innerhalb der EU zu sichern, durch die Verbreitung praktischer Hinweise an die Mitgliedsstaaten. Und sie beschließt zusätzliche Soforthilfen für die Staaten des Westbalkans und Osteuropas in Höhe von 180 Millionen.

Erntehelfer und Arbeitssklaven

Europäisches Tagebuch, 25.3.2021: Vor einigen Wochen hat Portugal im Zuge seiner Ratspräsidentschaft den Versuch unternommen, die soziale Situation, die Arbeitsbedingungen, die Entlohnung und den legalen Status von Erntehelfern in der EU zu verbessern. Zahlreiche EU-Staaten haben sich der Forderung angeschlossen, Agrarförderungen. von der Einhaltung von Standards abhängig zu machen. Auch im EU-Parlament engagieren sich immer mehr Abgeordnete in dieser Frage.

Schließlich arbeiten die häufig illegal oder weit unter Kollektivverträgen oder Mindestlöhnen Beschäftigten unter zum Teil unerträglichen Verhältnissen, bis zu 12, ja manchmal 17 Stunden am Tag, untergebracht in menschenunwürdigen Behausungen. Dies gilt nicht zuletzt für die großen Agrarproduzenten Europas, Spanien und Italien. Aber auch für Länder wie Österreich.
Portugal hat vorgeschlagen, die EU-Agrarförderungen (immerhin ein Drittel des EU-Budgets) davon abhängig zu machen, dass Landwirte und Lebensmittelkonzerne endlich menschenwürdige Arbeitsbedingungen schaffen und soziale Rechte respektieren. Im Europäischen Rat haben 12 Länder jedoch Portugals Vorschläge abgelehnt, nicht zuletzt die österreichische Landwirtschaftsministerin Köstinger, die stattdessen eine „Informationskampagne“ starten will. Nun bringt sie auch eine „Evaluierung“ ins Spiel. Alles soll dazu dienen, offenbar Zeit zu gewinnen. Wofür auch immer. Interessanterweise sind es weder Italien noch Spanien, die den portugiesischen Vorschlag blockieren, sondern neben Österreich auch Belgien, Bulgarien, Kroatien, Zypern, Tschechien, Finnland, Griechenland, Ungarn, Malta, Rumänien, Lettland und die Slowakei. Der österreichische EU-Abgeordnete Thomas Waitz (Grüne) spricht von „sklavenartigen Verhältnisse und erklärt, es könne nicht sein, „dass man weiter öffentliches Geld bekommt, obwohl man Arbeitsrechte untergräbt.“ Waitz geht davon aus, dass eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse auch einen faireren Wettbewerb innerhalb der EU zulassen würde. Eine Einigung ist wohl noch in weiter Ferne. Schließlich gibt es wirtschaftliche Interessen daran, dass EU-Agrarprodukte auch auf dem Weltmarkt „konkurrenzfähig“ bleiben. Aber das geht zusehends auf Kosten derjenigen, die dafür schuften müssen.

Heute Abend spricht der österreichische Migrationsexperte Rainer Münz im Jüdischen Museum Hohenems über Wanderarbeit und Migration in Europa – vor, während und nach der Covid-Krise. Hier die Aufzeichnung des Abends.

Rückblick, 25.3.2020: Ausländische Erntehelfer fehlen in Österreich. Laut dem Branchenverband Obst und Gemüse mangelt es bereits an 2500 Helfern. Im Mai könnten es 5000 sein. Die meisten Erntehelfer kommen aus Rumänien und anderen osteuropäischen Staaten und können derzeit weder aus- noch einreisen. Auch in der Fleischproduktion und -verarbeitung fehlen hunderte von Arbeitskräften.

Verzockt

Europäisches Tagebuch, 23.3.2021: Offenbar hat sich Österreichs Bundeskanzler Kurz nun ganz und gar verrannt. Hier die aktuelle Zusammenfassung einer Woche österreichischer Eigentore. Eines grotesker als das andere.

Vor nicht ganz zwei Wochen hat Kurz einen „europäischen Skandal“ verkündet. Mit dem Blick auf den unterschiedlichen Impffortschritt in verschiedenen EU-Staaten war zu erkennen, dass einige Staaten schneller unterwegs waren als andere. Und das lag tatsächlich, an unterschiedlichen Liefermengen. Kurz brachte das mit einem angeblichen „Basar“ in Verbindung, der manche Länder bevorzugt hätte. Der Vorwurf stand kaum einen halben Tag im Raum, da war er auch schon als Propagandalüge entlarvt. Denn die unterschiedlichen Liefermengen hatten einen einfachen Grund. Manche Staaten wollten mehr vom teureren Biontech, andere mehr vom billigeren Astra Zeneca-Vakzin. Und dann gab es die bekannten Lieferprobleme bei Astra Zeneca. Das Ergebnis kann man sich selbst ausrechnen.
Schnell wurde auch klar, dass es nicht zuletzt Regierungen mit einer – wie soll man es sagen – ausgeprägten „EU-Skepsis“ (z.B. die österreichische) waren, die verhindert hatten, dass die EU-Kommission die Impfstoffe einfach gleichmäßig nach Bevölkerungszahl verteilt. Nein, man wollte selbst bestimmen, wer wieviel von welchen Impfstoff bezog.

Österreich befand sich auf der Gesamtbilanz der Lieferungen übrigens zufällig genau in der Mitte. Im Vergleich mit den anderen Ländern hatte Österreich nicht zu wenig und nicht zu viel erhalten.

Doch dann platzte das nächste Bömbchen. Dem Kanzler kam zu Ohren, dass der österreichische Vertreter im Steuerungsgremium der EU offenbar eine Gelegenheit ausgelassen hatte, sich ein paar Zusatzbestellungen zu sichern. Dass Kurz davon nichts gewusst haben wollte, veranlasste den ansonsten so abgeklärt-ruhigen Politikwissenschaftler Peter Filzmaier im Österreichischen Rundfunk die Frage zu stellen, was „Kanzler Kurz beruflich eigentlich so macht“. Nun saß der „Schuldige, ein altes ÖVP-Urgestein, passenderweise im grünen Gesundheitsministerium, was dem Kanzler Gelegenheit bot, den gerade krankheitshalber verhinderten Gesundheitsminister öffentlich vorzuführen. Und selber damit gar nichts zu tun zu haben. All das, ohne dass jemand aufgefallen wäre, dass zwischen „bestellen“ und „liefern“ inzwischen eine signifikante Lücke klafft. Oder mit anderen Worten: Hätte Clemens Martin Auer seine Zusatzbestellung abgegeben, wären wohl auf absehbare Zeit auch nicht mehr Impfstoffe in Österreich angekommen. Bestellt sind nämlich inzwischen eh schon mehr Vakzine, als Österreich braucht.

Nachdem auch dieser „Skandal“ sich schneller in Luft aufgelöst hat, als man dabei zusehen konnte, schwang sich Kurz zum Fürsprecher der „zu Kurz gekommenen“ auf und verlangte kategorisch einen EU-Gipfel. Der allerdings sowieso vor der Tür stand.

Angesichts der tatsächlich ungleichen Liefermengen, von denen einige osteuropäische Staaten, wie Bulgarien, Kroatien oder Litauen betroffen sind, hat die EU-Kommission nun ihrerseits Taten zeigen wollen. Und verkündete einen Verhandlungserfolg mit Biontech.
10 Millionen Dosen sollen nun aus dem Herbst vorgezogen werden und besonders den schlechter versorgten Ländern zu Gute kommen, auch wenn diese an ihrer Malaise im Grunde selber Schuld sein mögen. Aber was tut man nicht, um die Gemüter zu beruhigen.
Kaum erschien dieser warme Regen an zusätzlichen Dosen am Horizont wechselte der österreichische Kanzler erneut das Hemd und verkündete stolz, dass Österreich (bislang weder benachteiligt noch bevorteilt) aus diesen neuen Lieferungen 400.000 zustehen würden und ließ sich dafür gleich einmal feiern. Doch auch diese Feier währte nur kurz. Schließlich würde sich Österreich damit auf Kosten der bislang Benachteiligten nun seinerseits bereichern. Die Ansage aus Brüssel, aber auch aus anderen EU-Ländern, ließ nicht lange auf sich warten. Österreich soll mal im Moment exakt Null zusätzliche Dosen erwarten. Nun steht der österreichische Kanzler vor dem Scherbenhaufen seines eigenen Skandals. Und droht mit einem Veto.

Immerhin ist es ihm damit gelungen von Dingen abzulenken, die seiner Anti-EU-Rhetorik wirklich in die Quere hätte kommen können. Der Skandal und Hygiene Austria und andere Probleme mit der “Message Control”. Und dann noch die südafrikanische Mutation in Tirol. Ganz und gar nicht bürokratisch hatte die EU auf den Hotspot der südafrikanischen Mutation in Tirol reagiert. Und den Bezirk Schwaz mit einer großzügigen Notversorgung mit Impfstoffen aus der Krise geführt. Das will natürlich nun auch jeder haben. Aber diese tatsächliche Bevorzugung Österreichs hat sich wirklich nicht dazu geeignet, in Österreich mit EU feindlicher Propaganda zu punkten. Dieses Problem hat Kurz jedenfalls kurzfristig aus dem Weg geräumt.

Rückblick, 23.3.2020: Zwei Boeing der Fluggesellschaft AUA fliegen 130 Tonnen medizinisches Schutzmaterial aus China für Tirol und Südtirol ein. Die Luftbrücke wird unter großer Medienaufmerksamkeit als spektakulärer Erfolg von Kanzler Kurz und Südtirols Landeshauptmann Kompatscher gefeiert. Auch der Bergsportausrüster Oberalp Group lässt sich für die Hilfsaktion feiern. Insgesamt sollen 20 Millionen Schutzmasken geliefert werden. Wenig später stellen sich die gelieferten Schutzmasken allerdings als weitgehend unbrauchbar heraus. Zertifikate, ohne die die Ware gar nicht hätte eingeführt werden dürfen, fehlen völlig. Nur 1,7 Millionen Masken von 20 Millionen, die schon bezahlt sind, werden schließlich überhaupt ausgeliefert.

Ebenfalls am 23.3.2020: Die EU-Kommission bittet die Mitgliedstaaten durch die Einrichtung von Green Lanes mit Vorrang für den Frachtverkehr für die Aufrechterhaltung des Warenfluss innerhalb der EU zu sorgen, angesichts drohender weiterer Grenzsperren, die zu Lieferengpässen lebenswichtiger Güter führen könnten.

Impfnationalismus

Europäisches Tagebuch, 20.3.2021: Der Streit um die Verteilung von Impfstoffen in der EU wird vom österreichischen Bundeskanzler weiter angeheizt. Im letzten Jahr noch wurde der Plan der EU-Kommission, die Impfstoffe gerecht auf alle Länder der EU zu verteilen, nicht zuletzt durch Staaten wie Österreich torpediert, die sich – im Rahmen der gemäß Bevölkerungszahl zugeteilten Gesamtmengen die Impfstoffe selbst aussuchen wollten. Das führte dazu, dass Länder die auf den billigen Impfstoff von Astra Zeneca setzten, wie Bulgarien oder Kroatien, angesichts der Produktions- und Lieferschwierigkeiten des Britischen Lieferanten derzeit das Nachsehen haben. Und solche, die auf den teuren Biontech-Impfstoff setzten, wie Malta oder Dänemark, derzeit besser abschneiden.
Österreich erhielt bislang allerdings, gemessen an den zur Verfügung stehenden Mengen, weder zuviel noch zu wenig Imnpfstoff. Das hielt aber den österreichischen Kanzler nicht davon ab, sich zum Wortführer der „zu Kurz gekommenen“ auszurufen. Und das eigene Gesundheitsministerium öffentlich anzugreifen.

Offenbar hat der österreichische Vertreter im EU-Impfgremium Clemens Martin Auer, ein altgedienter ÖVP-Mann, eine Gelegenheit ausgelassen, genau das zu tun, was Kanzler Kurz nun anderen vorwirft, nämlich auf dem „Basar“ noch eine Extra-Bestellung abzugeben. Ob die freilich zu einer schnelleren Lieferung von Impfdosen geführt hätte, mag bezweifelt werden. Österreich und die gesamte EU haben nämlich ohnehin schon weit mehr Impfdosen bestellt, als in diesem Jahr zur Durchimpfung der Bevölkerung gebraucht würden. Die derzeitigen Verzögerungen liegen offenkundig nicht an zögerlichen Bestellungen, sondern an sich dahinschleppenden Lieferungen.

Wenige Tage vor dem nächsten EU-Gipfel fordert Kurz einen EU-Gipfel. Diese Forderung klingt so, als würde er bei Sonnenuntergang mit allem Nachdruck einen baldigen Sonnenaufgang fordern, nur um ein paar Stunden später einen Erfolg zu verkünden.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat vor wenigen Tagen mitgeteilt, dass die Lieferung weiterer 10 Millionen Dosen von Biontech-Pfizer nun vorgezogen werden könnten, nach dem es noch vor wenigen Wochen auch von diesem Hersteller Lieferschwierigkeiten gab. Mit diesen Dosen könnten nun Länder bevorzugt werden, die bei ihren Bestellungen im letzten Jahr auf die falsche Karte gesetzt haben. Das auch das bislang weder begünstigte noch benachteiligte Österreich nun zusätzliche Forderungen stellt, kommt bei ihr freilich nicht gut an. Ist doch schon der Versuch, die unterschiedlichen Liefermengen durch diese zusätzlichen Biontech-Impfdosen auszugleichen von der Bereitschaft einiger Länder abhängig, freiwillig auf einen Teil der ihnen verabredungsgemäß zustehenden Lieferungen zu verzichten. Der von Österreich geschürte Impfnationalismus ist dabei nicht wirklich hilfreich.

Litauen verkündet indes mit großer Geste, es würde seinen Bürgerinnen und Bürgern nun freizustellen, mit welchem Impfstoff sie sich impfen lassen wollen. Auch das ist offenbar nur ein Propagandacoup. Denn die Auswahl zwischen Astra Zeneca und Biontech besteht offenbar vor allem darin, sich jetzt oder irgendwann später impfen zum lassen. Da von beidem zu wenig da ist, gewinnt die litauische Regierung damit zumindest ein wenig Zeit – und ihre Bürgerinnen und Bürger: nichts.

Rückblick 20.3.2020: Der israelische Historiker Yuval Harari sieht in Israel „die erste Coronavirus-Diktatur“ entstehen. Ministerpräsident Netanyahu nutzt die Corona-Krise und den verhängten Lockdown offenbar, um sich die fünfte Amtszeit zu sichern und den Widerstand gegen seine Neuernennung zu brechen, während der Prozess wegen Betrug, Untreue und Bestechlichkeit auf ihn wartet und wartet.

Boris Johnson verkündet indes die in seinen Augen offenbar bisher härteste Anti-Coronamaßnahme auf der britischen Insel: “We’re taking away the ancient, inalienable right of free-born people of the United Kingdom to go to the pub”.

In einem Interview mit der deutschen Bild-Zeitung erklärt der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, es wäre ein Anruf des Israelischen Premiers Benjamin Netanjahu gewesen, der ihn wachgerüttelt hätte. Er meint damit wohl die Telefonkonferenz zahlreicher EU-Premiers am 9. März, an dem auch Netanjahu teilgenommen hatte. Netanjahu hätte, so Kurz, gemeint, „ihr unterschätzt das in Europa.“ Die dramatische Situation im Nachbarland Italien seit Anfang März hat offenbar nicht gereicht, um den österreichischen Kanzler aufzuwecken.

Die EU-Kommission reagiert auf die zu erwartenden wirtschaftlichen Probleme im Zuge der Pandemie und ihrer Bekämpfung. Sie erlaubt nun Ausnahmen von den strengen Regeln, die Wettbewerbsverzerrungen durch staatliche Subventionen einschränken sollen. Sie hat einen befristeten Rahmen beschlossen, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, Wirtschaftshilfen innerhalb kurzer Zeit zu vergeben.