Antisemitismus und Corona bekämpfen. Aber mit welchen Mitteln?

Rückblick, 28.8.2020: Der Vorsitzende der Grazer Jüdischen Gemeinde wurde vor sechs Tagen Opfer eines antisemitischen Angriffs eines offenkundig islamistischen verhetzten Syrers. Das Verhalten des Mannes, der zuvor schon die Grazer Synagoge und eine LGBTQ Einrichtung attackiert hat, lässt auf gröbere psychische Probleme schließen.

Österreichs „Integrationsministerin“ Susanne Raab (ÖVP) reagiert nun darauf mit dem üblichen Pauschalangriff auf muslimische Flüchtlinge. Schon im September sollen Maßnahmen zu verpflichtenden Unterrichtseinheiten für Asyl- und subsidiär Schutzberechtigte in Österreich „anlaufen“. Wie diese aussehen soll, ist freilich noch unklar. Denn zusätzliche Budgetmittel sind laut Raabs Sprecherin nicht vorgesehen. Ohne Finanzierung aber flächendeckend tausende von Asylberechtigten zu „unterrichten“ ist eine – wie soll man sagen „interessante Idee“.
Die Maßnahmen sollen, so heißt es weiter, in Kooperation mit dem Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) und der Israelitischen Kultusgemeinde umgesetzt werden. Geplant ist unter anderem eine verpflichtende Unterrichtseinheit “Antisemitismus” für Flüchtlinge, die im Rahmen der Integrationskurse des ÖIF behandelt werden sollen. Die Kurse sollen für alle Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten verpflichtend sein.

Weiter heißt es, man wolle ein besonderes Augenmerk auf die Multiplikatoren legen. Deutschtrainer, Integrationsberater oder Mitarbeiter von Behörden sollen in Workshops Grundlagenwissen über Antisemitismus erhalten und so bei Zuwanderern und Flüchtlingen antisemitische Haltungen sofort erkennen. Insbesondere diese Ankündigung macht hellhörig. Solche Seminare werden vom ÖIF nämlich schon durchgeführt. Das Material, das dabei verwendet wird ist recht eigentümlich, und offenbar eher vom Interesse geleitet, Menschen von vornherein zu stigmatisieren, die nicht reflexartig die politisch gewünschten Antworten geben. Und zwar solche Antworten, wie sie zum Beispiel das israelische Ministerium „für strategische Angelegenheiten“ vorgibt, deren Hauptaufgabe es ist, jede „unverhältnismäßige“ Kritik an israelischer Politik weltweit als „Antisemitismus“ zu identifizieren, ganz gleich ob sie von Juden, jüdischen Israelis im Ausland, Palästinensern muslimischen Migranten oder sonst irgendjemand geäußert werden. Außer es handelt sich um Rechtspopulisten, mit denen man gerade sonst gemeinsame Sache macht. Aber die reden ohnehin nicht über Israel, sondern über „Soros“ und andere Verschwörungstheorien.

Das Judentum wird im Übrigen vom ÖIF auf eine so naive und unglaubwürdige Weise verherrlicht, dass Vorurteile dadurch wohl eher verstärkt als bekämpft werden. So ist zum Beispiel in dem Material zu lesen, Juden könnten grundsätzlich nie und nimmer rassistisch sein, da Juden ja daran glauben würden, dass die ganze Menschheit von Adam und Eva abstammt. Das mag stimmen, oder auch nicht, da sich mittlerweile weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Welt doch älter als 5782 Jahre ist. Vor allem vertreten die Autoren des Materials offenbar die interessante These, dass Christen und Muslime noch nie etwas von Adam und Eva gehört haben. Mit diesem Material wird es sicher gelingen, viel Irritation zu ernten. Aber wer will so „Antisemitismus bekämpfen“?
Ungefähr genauso tauglich, wie die Mittel, mit denen Europas und Amerikas Rechtspopulisten “Antisemitismus” bekämpfen wollen (wenn sie es denn überhaupt wollen) sind auch die Mittel, auf die manche von ihnen im Kampf gegen Corona schwören.

Rückblick, 27.8.2020: Nicht nur Donald Trump und Jair Bolsonaro stehen darauf, und natürlich so manche anderen rechtsradikalen Fanatiker (und wie man hört leider auch Madonna): Hydroxychloroquin. Eine großangelegte Meta-Studie der Universität Neuenburg, die nun im Fachmagazin „Clinical Microbiology and Infection“ erschienen ist, kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. Sie basiert auf 29 Studien mit insgesamt 33.000 Patienten und kommt zum gleichen Schluss, wie die Studie „Recovery Trial“ der Universität Oxford im Juni. Hydroxychloroquin hat, allein verabreicht, nicht einmal eine Placebo-Wirkung. Mit anderen Worten, die Wirkung des Malaria-Mittels gegen Covid-19 ist für sich genommen exakt Null. Schlimmer noch ist seine Wirkung, wenn das Medikament mit anderen zusammen verabreicht wird, zum Beispiel mit dem Antibiotikum Azithromycin, was in der Anfangszeit der Pandemie weit verbreitet war. Dann nämlich erhöht es das Sterberisiko substantiell, um nicht weniger als 27%.

Spiel mit dem Feuer am Nationalfeiertag

Rückblick, 4.7.2020: Donald Trump ruft am US-amerikanischen Unabhängigkeitstag seine Anhänger zum Kampf auf – gegen „Anarchisten, Marxisten, Plünderer“. Gemeint sind alle jene, die überwiegend friedlich in den letzten Wochen gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straßen gegangen sind. Und zum Kampf gegen „die Medien“, die die Einheit der USA bedrohen würden und mit seiner Person Donald Trump auch „Generationen von Helden“ Amerikas verleumden würden.
Schon einen Tag zuvor hat er in South Dakota die Kulisse von Mount Rushmore dazu benutzt, seine eingeschworenen Fans (die fast alle ohne Mund-Nasenschutz aufmarschiert sind) auf einen „Kulturkampf“ einzuschwören, gegen „linke Faschisten“ und den „linken mob“, also alle, die mit seiner Politik, mit den „white supremacy“ Ideologien seiner Agitatoren oder der öffentlichen Verhöhnung von Corona-Schutzmaßnahmen nicht einverstanden sind.
Trump warf seinen Gegnern vor, eine „gnadenlose Kampagne zur Auslöschung der amerikanischen Geschichte“ zu führen. Zum Abschluss wurde zum ersten Mal seit zehn Jahren in der durch Waldbrände gefährdeten Region wieder ein großes Feuerwerk veranstaltet. Dass Trump auch zwei Hits von Neil Young spielen ließ, „Like a Hurricane“ und „Rockin‘ the free World“, betrachtet der Musiker als Provokation. Und solidarisiert sich mit den einst aus dieser Region vertriebenen Sioux-Indianern, auf deren gestohlenem Land Mount Rushmore liegt.

 

 

“Corona ist nicht gefährlich”

Rückblick, 17.6.2020: Gestern hielt der Vorsitzende der FPÖ, Norbert Hofer, auf einer FPÖ-Demonstration am Viktor-Adler-Markt in Wien eine seiner üblichen Hetzreden. Die seinem Ruf als das “gemäßigte” Gesicht der Partei seltsamerweise keinen Abbruch tun.
„Ich fürchte mich nicht vor Corona, Corona ist nicht gefährlich. Da ist der Koran gefährlicher, meine Lieben, als Corona.“ Hofer kassiert dafür nun einige Anzeigen. Aber das gehört wohl zum Kalkül. Denn so kann er sich einmal mehr als Opfer inszenieren. Nach deutlicher Kritik an Hofer seitens muslimischer Gemeinden, der protestantischen Kirche und der Israelitischen Kultusgemeinde, reagiert nach einigen Tagen auch die katholische Kirche mit dem eher allgemeinen Aufruf, keine Religion „öffentlich schlecht zu machen“, so Kardinal Schönborn.

Wie “ungefährlich” Corona ist, erleben derzeit vor allem die Ärmsten. Der neueste Ausbruch der Corona Infektion in einem Deutschen Schlachtbetrieb wirft erneut ein Schlaglicht auf die besondere Gefährdung von Arbeitskräften in Billiglohnsegmenten, vor allem Wanderarbeiter aus Osteuropa, die unter besonders prekären und beengten Verhältnissen in irgendwelchen substandard Wohnheimen untergebracht werden. Mindestens 650 Neuinfektionen in der Fleischfabrik Tönnies in Westfalen sind vermutlich darauf zurückzuführen. Auch in Österreich arbeiten Billig-Arbeitskräfte nach wie vor unter menschenunwürdigen Verhältnissen, zum Beispiel bei Spargelbetrieben im Marchfeld, die ihre Arbeitskräfte aus Osteuropa in skandalösen Unterkünften unterbringen.

Leitkultur: Heuchelei!

Europäisches Tagebuch, 4.6.2021. In Europa wird gerne über sogenannte „Leitkulturen“ geredet. Da ist vom Recht auf Schweinshaxen die Rede (Bayern) und vom christlich-jüdischen Abendland (Österreich), da verteidigt Frankreich seinen angeblichen Laizismus, also seine Weltlichkeit, viele Polen glauben daran Jesus unter den Völkern zu sein und die ungarische Regierung macht aus ihre antisemitischen Verschwörungstheorien ein nationales Projekt. In Österreich regiert derzeit das „politische Christentum“ und droht Kirchenvertretern, die die Menschenrechte auch von Flüchtlingen politisch verteidigen wollen, mit dem Ende von Steuerbefreiungen. Man fragt sich was dieses Europa, das Europa der „Leitkulturen“, wirklich kulturell verbindet. Die Antwort darauf ist ernüchternd. Es ist die Fähigkeit zu schamloser Heuchelei.

Als es vor Jahren darum ging an französischen Schulen den Laizismus durchzusetzen, da wurden jüdische Kippot, muslimische Kopftücher (egal welche) und GROSSE Kreuze verboten. Es soll bis dahin selten vorgekommen sein, dass Schülerinnen oder Schüler mit einem großen Kreuz auf der Schulter im Klassenraum erschienen sind. Seitdem ist das Kopftuch zu einem Zeichen der Rebellion junger Frauen gegen die Gesellschaft geworden und die „Integration“ in Frankreich wurde zurückgeworfen, statt befördert.

Österreichische Politiker aus dem Lager des „politischen Christentums“ (also jene, die mit dem Schwingen von Kreuzen und der Teilnahme an Massengebeten charismatischer Prediger sich ihre eigene Macht sichern), sie sind ganz vorne dabei, wenn es darum geht, den sogenannten „politischen Islam“ zu bekämpfen. Und die vollkommen unschuldig dreinschauen, wenn der „ungeheuerliche“ Verdacht auftaucht, damit könnte etwa ein Pauschalverdacht gegenüber allen Muslimen gemeint sein. Es weiß ja jeder ohnehin, wie es gemeint ist.
So war es auch, als die Vorarlberger Landesregierung Minarette verbieten wollte, und stattdessen für „Kultusbauten“ ein besonderes Genehmigungsverfahren schuf. Auch die neugegründete „Dokumentationsstelle politischer Islam“ darf natürlich offiziell nicht so heißen, das wäre ja verfassungswidrig. Also nennt man sie „Österreichischer Fonds zur Dokumentation von religiös motiviertem politischem Extremismus“. Der nun als erstes eine „Islamlandkarte“ publiziert, die jedem potentiellen islamfeindlichen Gewalttäter endlich ein praktisches Adressenverzeichnis aller (!) auch noch so harmlosen Moscheenvereine und ihrer Repräsentanten bietet.

Letztes Jahr gab es nicht nur 500 registrierte antisemitische Zwischenfälle in Österreich (die weitaus meisten davon übrigens mit rechtsextremem Hintergrund) sondern auch dreimal so viele islamfeindliche Aktionen in Österreich.
Die „Islamlandkarte“ hat in den wenigen Tagen, in denen sie am Netz war, schon den gewaltbereiten „Identitären“ gute Dienste geleistet. Vor vielen Moscheenvereinen haben islamfeindliche Aktivisten „Warnschilder“ aufgehängt, die sich nur als unverhohlene Drohungen lesen lassen.  Inzwischen ist die „Islamlandkarte“ vorläufig vom Netz genommen worden, angeblich wegen technischer Probleme. Die Universität Wien hat sich von dem Projekt, an dem ein Professor beteiligt war, öffentlich distanziert. Aber Österreichs „Integrationsministerin“ tut noch immer so, als sei alles „gut“ gemeint.

Doch in diesem Fall ist das Gegenteil von gut keineswegs „gut gemeint“. Hier ist alles so abgrundtief schlecht gemeint, wie es dann auch wirkt.

 Rückblick, 4.6.2020: Österreich öffnet seine Grenzen zu den Nachbarstaaten wieder. Ausgenommen bleibt Italien, auch wenn dort die Infektionszahlen ebenfalls stark gesunken sind. Italien hat seinerseits die Grenze geöffnet und hofft auf österreichische und vor allem auf deutsche Urlauber. Dabei geht es für eine der wichtigsten italienischen Branchen um die Existenz. Die Österreichische Blockade sorgt in Italien zunehmend für Proteste, nachdem auch die österreichische Position gegenüber Wiederaufbauhilfen der EU für Irritation gesorgt hat. Die Vermutung steht im Raum, dass Österreichs Politik nicht nur von Besorgnis gegenüber Infektionsrisiken geprägt ist, sondern auch den Versuch darstellt seine eigenen, schwer gebeutelten Touristikdestinationen im Corona-Sommer auf Kosten Italiens zu begünstigen.

 

Netanjahu, die AfD und das “christliche Europa”

Rückblick, 6.5.2020: Die rechtsextreme AfD in Deutschland wirbt jetzt mit dem Konterfei von Yair Netanjahu, dem Sohn des Israelischen Ministerpräsidenten, der immer wieder für seinen Vater in die Bresche springt.
Yair Netanjahu hatte am 28. April getwittert: „Schengen zone is dead and soon your evil globalist organization will be too, and Europe will return to be free, democratic and Christian!“ Und weiter: “Die EU sei der Feind Israels und aller christlichen Länder Europas.” Gemeint war die Unterstützung der EU-Vertretung für die große jährliche Friedensveranstaltung der Combattants for Peace die am Vorabend des israelischen Heldengedenktages der Opfer auf beiden Seiten gedenken.

Der Posterboy der AfD: Yair Netanjahu

Netanjahu bekam prompt Beifall vom AfD-EU-Abgeordneten Joachim Kuhs auf dessen Facebook Seite. Was Yair Netanjahu mit einem begeisterten Aufruf an Kuhs und die AfD beantwortete, endlich mit seinen “Kollegen” diesen “Wahnsinn” zu beenden. Gemeint war die Unterstützung der EU für NGOs in Israel und Palästina.
Kuhs, Vorsitzender der “Christen in der AfD” und Mitglied im AfD-Bundesvorstand, hat erst unlängst gemeinsam mit Vertretern der “Juden in der AfD” Israel besucht um Vertreter des Likud zu treffen – und schreibt immer wieder in rechten und rechtsradikalen deutschen wie israelischen Medien über die “Israelfeindlichkeit der EU”, offenbar eines seiner Lieblingsthemen.
Die AfD, deren Mitglieder immer wieder mit israelischen Fahnen auf rechten Demos gesichtet werden, machen auch sonst keinen Hehl daraus, welches Israel sie lieben: nämlich jenes, dass endlich dafür sorgt, dass die Juden kein Teil von Europa mehr sein wollen – und man sie auf diese Weise endlich doch noch los wird.

 

“Hilfe vor Ort”

Europäisches Tagebuch, 25.9.2020: Ein ORF-Bericht über Lesbos. Späte Stunde. Danach kann man nicht gut schlafen.
Der bestbezahlte Türsteher der Nation, Österreichs Innenminister Nehammer landet mit dem dicksten Flugzeug, das er von den Russen mieten konnte, in Griechenland. Er bringt 55 Tonnen „Hilfsgüter“ und Polizisten. Er steht breitbeinig vor der Kamera und spricht von „Hilfe vor Ort“. Wir kennen das schon. Und er macht nun auch ganz deutlich, was er damit meint.
Es geht nicht um Hilfe für die Menschen, die seit Monaten, zum Teil seit Jahren auf der Insel gefangen gehalten werden. Es geht darum, den Griechen dabei zu helfen, sie weiter schlecht zu behandeln, zur Abschreckung. Mit den österreichischen Zelten soll ein neues Lager errichtet werden, sieben Kilometer entfernt, weit weg von jeder anderen Siedlung, noch besser kontrollierbar, noch abschreckender als es Moria schon war. Aber zumindest für den Anfang mal ein bissel ordentlicher und sauberer. Bis die Presse wieder abgezogen ist und man die Menschen wieder im Dreck allein lassen kann, der sich im Herbst von selber einstellt.
Die Menschen, die nun mit „sanftem Druck“ wie es heißt, in das neue Lager gezwungen werden, müssen ihre wenige Habe, auf Paletten, Kisten oder Brettern geschnallt, selber auf der Straße den kilometerlangen Weg ins neue Lager ziehen. Auch diese Bilder wird man so schnell nicht vergessen. Zumindest weiß man jetzt, wie sich Österreich „Hilfe vor Ort“ vorstellt.
Der Provinzgouverneur der Inseln erklärt dem ORF indessen, wie man das auf Lesbos so sieht: man danke Österreich für seine Bemühungen, aber Zelte hätte man schon selber gehabt, diese Hilfe hätte man gar nicht gebraucht. Worauf man auf den Inseln wartet ist, dass Europa die Flüchtlinge endlich unter den Mitgliedsstaaten verteilt. Nun ja, die griechische Regierung könnte sie natürlich auch aufs Festland nehmen, aber in dieser Frage ist sich die griechische Regierung und die europäische Koalition der Unwilligen einig.
Bundeskanzler Kurz hat solche Lager auf griechischen Inseln schon vor Jahren gefordert. Und Österreichs sprachschöpferisch so begabter Ex-Innenminister Kickl hatte auch einen originellen Namen dafür: „Konzentrierungslager“. Sage da nur einer, Österreich und manche anderen EU-Staaten hätten aus der Geschichte nichts gelernt.

Postcriptum am 30. September 2020: Heute berichten die Nachrichten davon, dass die “55 Tonnen Hilfsgüter” niemals auf Lesbos angekommen sind. Sie sind irgendwo auf dem griechischen Festland verräumt. Die griechische Regierung weiß nicht, was sie mit den 400 Zelten anfangen soll. Wie schon gesagt: “Zelte haben wir…”

Niemals Vergessen!

Ausstellungsinstallation “Niemals Vergessen!”. Foto: Dietmar Walser

Unter dem Imperativ „Niemals vergessen!“ wird versucht, die Erinnerung an die Verbrechen des NS-Regimes und an die Schoa warnend wachzuhalten. Bereits im September 1946 veranstaltete der kommunistische Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka unter diesem Titel im Wiener Künstlerhaus eine große Ausstellung. Organisiert wurde sie vom „Österreichischen Bundesverband ehemals politisch verfolgter Antifaschisten“, der bis 1948 bestehenden Dachorganisation österreichischer NS-Opfer, der sich der „Verband der Abstammungsverfolgten“ angeschlossen hatte. Doch erst im letzten Augenblick wurde der jüdische Auschwitz-Überlebende Heinrich Sussmann (1904–1986) mit einem Plakatentwurf und der Gestaltung des Ausstellungsraumes VI „Judenverfolgung“ beauftragt. Hauptwerbeträger wurde jedoch nicht Sussmanns das KZ-Leid thematisierendes Plakat, sondern Victor Slamas Widerstandskämpfer, der das Hakenkreuz kraftvoll zerstört. Auch darüber hinaus war die Ausstellungsvorbereitung konfliktreich. Die Österreichische Volkspartei wollte die unmittelbare Vorgeschichte der NS-Zeit, die ständestaatliche Diktatur, zu deren Beginn Österreicher auf Österreicher geschossen hatten, nicht thematisiert sehen und beide Großparteien wollten die österreichische Opferthese unterstrichen wissen. Eine Bearbeitung des aktiven Anteils der Österreicher am Judenpogrom und am Judenmord wollte keine Partei.

^ Grabmal der Familie Sussmann am Wiener Zentralfriedhof, Wien 2020, © Oskar Prasser

< Heinrich Sussmann, Plakat zur Ausstellung „Niemals vergessen“, Wien 1946, © ÖNB-Bildarchiv

> Antisemitisches „Spiel“, das Simon Wiesenthal anonym per Post erhielt, o. J., © Archiv des Wiener Wiesenthal Instituts (VWI)

v Simon Wiesenthal, Wien 1988, © Archiv des Wiener Wiesenthal Instituts (VWI)


Zeit seines Lebens forderte der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal (1908–2005) dazu auf, niemals zu vergessen, dass die Schoa eine der Folgen der Demontage von Demokratie und Menschenrechten war. Über das von ihm gegründete „Dokumentationszentrum des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes“ sammelte und dokumentierte er Nazi-Verbrechen und suchte weltweit nach entkommenen Tätern. Politisch stand Wiesenthal der ÖVP nahe. Sein Protest gegen ehemalige Nazis als Minister in der von der FPÖ unterstützten SPÖ-Minderheitsregierung unter Bruno Kreisky – der sich 1966 selbst von einem ÖVP-Abgeordneten als „Saujud“ hatte beschimpfen lassen müssen – veranlasste den Bundeskanzler zur der bösartigen Unterstellung, Wiesenthal sei ein Nazi-Kollaborateur gewesen. Zwei Österreicher jüdischer Herkunft attackierten einander nun öffentlich, und die Republik schaute zu. Trotz aller Aufklärungsarbeit und aller von Politikern reflexartig vorgebrachten Beteuerungen antifaschistischer Gesinnung war Wiesenthal immer wieder derbem Antisemitismus ausgesetzt. Als ein FPÖ-Bürgermeisterkandidat 1990 in einem Interview wissen ließ: „Dem Simon Wiesenthal hab ich gesagt: Wir bauen schon wieder Öfen, aber nicht für Sie, Herr Wiesenthal – Sie haben im Jörgl seiner Pfeife Platz“, war dies nur die Spitze des Eisbergs.

Aleida Assmann (Konstanz) über Erinnerungskultur in einer Einwanderungsgesellschaft:

Idee Europa

Ausstellungsinstallation “Idee Europa”. Foto: Dietmar Walser

Schon seit dem 18. Jahrhundert gab es in Anlehnung an das Modell der Vereinigten Staaten von Amerika die Vorstellung von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Sie ist bis heute nicht realisiert. Walter Rathenau (1867–1922) war einer jener, die sie vor Augen hatten.

Der Sohn des bekannten Gründers der AEG – selbst prominenter Unternehmer – war während des Ersten Weltkriegs für die Rohstoffversorgung des deutschen Reiches zuständig. Er forderte auch den Einsatz belgischer Zwangsarbeiter zur Kompensierung des kriegsbedingten Mangels an Arbeitskräften in Deutschland.

Bereits vor dem Krieg hatte Rathenau für die Errichtung eines mitteleuropäischen Zollvereins plädiert, in dessen Zentrum er eine deutsch-österreichische Wirtschaftsgemeinschaft sah, deren Anziehungskraft sich die westeuropäischen Länder auf Dauer nicht verschließen könnten. Nach 1918 bemühte er sich in verschiedenen politischen Funktionen um eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen Deutschland und den alliierten Siegermächten sowie um einen Ausgleich mit Sowjetrussland. 1922 wurde in „Besinnung auf christliche, abendländische Werte“ die Paneuropa-Bewegung begründet. Ihr erster Großspender war der deutsch-jüdische Bankier Max Warburg. Sie blieb bis heute weitgehend wirkungslos. Rathenaus Idee einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hingegen wurde 1957 Wirklichkeit. Aus ihr erwuchs 1992 schließlich die Europäische Union.

^ Walther Rathenau, vermutlich Berlin, ca. 1920, © Jüdisches Museum Berlin

< Walter Rathenau, Gesammelte Schriften Bd. 1, 1918, Ausschnitt, © Günter Kassegger

> Gedenkstein für die Mörder Rathenaus in Saaleck, 2012, © Torsten Biel

Rathenau hat weder die Europäische Einigung noch den Zweiten Weltkrieg erlebt. Er wurde von der völkischen Rechten der Weimarer Republik als „Erfüllungspolitiker“ bezeichnet, sein Wirken als Minister als Beleg für die „Macht des internationalen Judentums“ interpretiert, seine Verhandlungen mit Russland als „jüdischer Bolschewismus“ diffamiert. Der Hass der extremen Rechten auf alles, wofür Rathenau stand, entlud sich nicht nur im Skandieren der Parole „Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau!“ Am 24. Juni 1922 wurde er von Mitgliedern der rechtsterroristischen „Organisation Consul“ tatsächlich ermordet. 

Die Täter Erwin Kern und Hermann Fischer kamen bei der Festnahme in Saaleck in Sachsen-Anhalt um und wurden auf dem dortigen Friedhof verscharrt. Hitler ließ den „Helden“ ein Denkmal errichten, dessen Inschrift in DDR-Zeiten entfernt wurde. Nach der Wiedervereinigung wurde das Grab zu einer Wallfahrtsstätte für Neonazis. Das Militär transportierte den Stein daraufhin ab und die Kirchengemeinde schloss den Grabplatz. 2012, zum 90. Todestag der Mörder, wurde dort von Unbekannten ein Findling deponiert, der – in runenähnlicher Schrift – die Namen der beiden trägt.

Michael Miller (Wien) über antisemitische Schuldzuweisungen nach dem 1. Weltkrieg und die Paneuropa-Bewegung: