Eugenie Goldstern – Europäische Ethnologie zwischen Pogrom und Massenvernichtung

Europäisches Tagebuch, 01. März 2023: Heute vor 139 Jahren kam (wahrscheinlich) Eugenie Goldstern in Odessa zur Welt.

von Raphael Einetter

Eugenie (auch Jenja bzw. Jenny) Goldsterns Geburtsdatum ist nicht abschließend geklärt. So tauchen sowohl der 16. Dezember 1883 als auch der 1. März 1884 in Quellen und Literatur auf. Gesichert ist jedenfalls, dass sie im damals zum russischen Kaiserreich zählenden (und heute ukrainischen) Odessa geboren wurde. Als Tochter einer wohlhabenden Familie entstammte sie als vierzehntes Kind der Ehe des Kaufmanns Abraham Goldstern (1832-1905) und dessen Frau Marie Goldstern, geb. Kitower (1844-1913). Die Familie war stark von deutsch-österreichischen Einflüssen geprägt, weshalb die Umgangssprache auch deutsch war, wie Gerhard Milchram bereits 2009 in seinem Beitrag zum Ausstellungskatalog Hast du meine Alpen gesehen? festhielt. Darin ging er auch darauf ein, dass besonderen Wert auf die Erziehung von Eugenie Goldstern und ihren Geschwistern gelegt wurde, was sich an der Anstellung von französischen Gouvernanten, englischen Kindermädchen sowie deutschen Hauslehrern ablesen ließ. 1905 flüchtete Eugenie Goldstern mit einem Teil ihrer Familie vor den Pogromen, bei denen zaristische Soldaten in Odessa ein Blutbad anrichteten, nach Wien.

Eugenie Goldstern, um 1910; Sammlung Frances Freemann, Wellington

Dort absolvierte sie das Gymnasium, interessierte sich für Volkskunde und besuchte ab 1911 als Gasthörerin an der Universität Wien die Vorlesungen von Michael Haberlandt, der zur selben Zeit das Amt als Direktor des Volkskundemuseums Wien angetreten hatte. Das Programm des Vereins für Volkskunde las sich – freundlich betrachtet – wie ein Programmtext vergleichender, europäischer Ethnografie:

„Von den Karpaten bis zur Adria wohnt in dem von Natur und Geschichte gefügten Rahmen des Vaterlandes eine bunte Fülle von Völkerstämmen, welche wie in einem Auszug die ethnographische Mannigfaltigkeit Europas repräsentiert. Germanen, Slaven und Romanen – die Hauptstämme der indo-europäischen Völkerfamilie – setzen in verschiedener historischer Schichtung und nationalen Abschattungen die österreichische Bevölkerung zusammen. Wir bekümmern uns aber nicht um die Nationalitäten selbst, sondern um ihre volksthümliche, urwüchsige Grundlage.“

Doch verleugnete dieser „vergleichende“ Blick, wie sich bald zeigen würde, weder seine rassistischen Prämissen, noch seine paternalistische, deutsch-österreichische Perspektive.

Da eine Promotion in Wien für sie nicht möglich war, setzte die sprachgewandte Eugenie Goldstern, die neben ihrer deutschen Muttersprache auch des Russischen, Polnischen und Französischen mächtig war, ihre Studien beim französischen Ethnologen Arnold van Gennep im schweizerischen Neuchâtel fort. Van Genneps bahnbrechende Studien zur Ethnografie der Initiationsrituale, der „rites de passage“, sollten den Weg zur strukturalistischen Entdeckung der tiefgreifenden Gemeinsamkeiten ganz unterschiedlicher „Kulturen“ öffnen. Und so waren auch Goldsterns Forschungen zum Lebensalltag und zur materiellen Kultur der Menschen in den Alpen von einer vergleichenden Perspektive geprägt, sie sowohl Osteuropa aber auch außereuropäische Gesellschaften mit in den Blick nahm.

Bessans. Volkskundliche monographische Studie über eine savoyische Hochgebirgsgemeinde. Inauguraldissertation von Eugenie Goldstern, Wien 1922

In der Schweiz unternahm sie im Rahmen ihrer Feldforschung Reisen durch entlegene Regionen in den Alpen, wie beispielsweise 1912 in die Hochgebirgstäler des Wallis. Im Winter 1913/1914 beobachtete, fotografierte und dokumentierte sie mehrere Monate das Leben der Menschen im französischen Bessans in Hochsavoyen, wobei sie auch den sozialen Lebensbedingungen ihre Aufmerksamkeit widmete. Schließlich lebte sie monatelang mit den Menschen dort zusammen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrach ihre Forschungen, die sie nach ihrer erzwungenen Rückkehr nach Österreich zunächst im Lammertal in Salzburg fortsetzte. 1918 konnte sie die Feldforschung im schweizerischen Wallis bzw. Graubünden wieder aufnehmen und ihr Studium 1921 schließlich mit der Promotion in Fribourg (Schweiz) bei Paul Girardin beenden. In ihrer Dissertation behandelte sie die Hochgebirgsvölker in Savoyen und Graubünden, insbesondere jene von Bessans sowie des Münstertals in Graubünden.

Während sich die Wiener Volkskunde immer stärker über Rassismus und Antisemitismus definierte, veröffentlichte die Wissenschaftlerin 1924 nochmals Erkenntnisse ihrer Studien zu „alpinen Spielzeugtieren“ und schenkte dem Wiener Volkskundemuseum mehrmals Objekte aus ihrer, über die Jahre gewachsenen, Forschungssammlung.

Krampus mit Kind aus Bessans, 19. Jhdt,, Sammlung Eugenie Goldstern, Österreichisches Museum für Volkskunde, Wien, Foto: Österreichisches Museum für Volkskunde

Die angestrebte Karriere in Wien blieb ihr als jüdischer Frau jedoch verwehrt und so zog sich Goldstern gezwungenermaßen aus der Wissenschaft zurück. Ihre Leistungen wurden zu ihren Lebzeiten weder in Österreich noch in der Schweiz, wo sie dem alpinen Museum in Bern einen kleineren Teil ihrer Sammlung schenkte, wirklich anerkannt. Unverheiratet und kinderlos half sie in weiterer Folge ihrem Bruder Samuel Goldstern der seit 1915 und bis zur Arisierung 1938 die Fango-Heilanstalt in der Wiener Lazarettgasse leitete. Die meisten Familienmitglieder konnten nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aus Österreich flüchten, doch Eugenie Goldstern blieb, gemeinsam mit ihrem Bruder Sima Goldstern, weiterhin in Wien. Am 14. Juni 1942 musste sie am Bahnhof Wien Aspang einen Deportationszug nach Lublin besteigen. Nach der Ankunft wurde sie als „nicht arbeitsfähig“ selektiert und ins Vernichtungslager Sobibor verschleppt, wo sie – wahrscheinlich am 17. Juni – bei Ihrer Ankunft ermordet wurde.

Ihre Sammlung blieb lange Zeit in beiden Museen unbeachtet. 1999 machte Albert Ottenbacher mit seiner Eugenie Goldstern-Biografie zum ersten Mal ein größeres Publikum auf sie aufmerksam und 2005 wurde ihr im Wiener Museum für Volkskunde eine erste Ausstellung gewidmet.