Europäisches Tagebuch, 25.8.2021: Auf unserer Europakarte in der Ausstellung “Die letzten Europäer” geht die Diskussion zwischen unseren Besucher*innen munter weiter. Hier gibt es einige neue Impressionen.
Rosika Schwimmer: Eine schillernde Feministin
Europäisches Tagebuch, 3.8.2021: Heute vor 73 Jahren starb Rosika Schwimmer in New York.
von Felicitas Heimann-Jelinek
Der Begriff „Feminismus“ ist heute nicht mehr in einem Satz erklärbar, geschweige denn mit einem einzigen Begriff übersetzbar. Feminismus, das meint heute einen komplexen Pool an Strömungen sozial-politischer Anliegen und Agenden. So spricht man im aktuellen Diskurs von Feminismen, nicht von Feminismus – und die jeweiligen Interpretationen und Funktionen gegenwärtiger Feminismen sind von Fragen nach den jeweils gesellschaftlich bedingten spezifischen Dimensionen von natürlichem oder konstruiertem, sozialem und ethnischem Geschlecht geprägt.
Eine solche Ausdifferenzierung hätte sich Rosika Schwimmer, am 11. September 1877 in eine Budapester jüdische Familie hineingeboren, auch als eine der profiliertesten Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit wohl kaum vorstellen können. Doch sehr wohl war sie eine überraschend moderne Feministin. Ihr war eben nicht nur das Recht der Frauen, sondern das Recht aller ein Anliegen. So setzte sie sich auch vehement gegen Kinderarbeit und für den Weltfrieden ein.
Rosika Schwimmer entsprach nicht der Norm einer Frau ihrer Zeit. Nach einjähriger Ehe ließ sie sich scheiden. Vermutlich war sie lesbisch, disziplinierte ihre Sexualität allerdings mit Morphin. Sie war stur, rechthaberisch, dominant, dynamisch – eine Kämpfernatur. 1897 gründete sie den Verein für weibliche Büroangestellte, 1903 den ersten ungarischen Arbeiterinnenverein, 1904 schließlich den Verein ungarischer Feministinnen. Rosika Schwimmer entsprach auch weder dem weiblichen Schönheitsideal, noch folgte sie dem Dresscode ihrer Zeit. Sie neigte zu Korpulenz, trug Dutt, Kneifer und – kein Korsett. Nach damaligen Maßstäben agierte sie auch nicht „typisch weiblich“, eher „typisch männlich“. Als Streiterin für wirtschaftliche, soziale und politische Gleichberechtigung erwarb sie sich einen Ruf als führende Verfechterin der Frauenrechte in Ungarn.
Als Schwimmer 1914 das erste Mal in den USA ankam, wurde sie mit offenen Armen empfangen. Die jüdische Presse überschlug sich vor Euphorie über „Ungarns große Jüdin, Liebling der Frauenrechtlerinnen in Europa und Amerika.“ 15 Jahre später überschlug sich die rechte Presse vor Hass gegen sie. Mal wurde sie als Spionin für die Deutschen, mal als ebensolche für die Bolschewiki beschimpft, vor allem aber, „weit gefährlicher“, als „Agentin der politisch-ökonomischen Bewegung des Judentums“. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon keinen Rückhalt in der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft mehr.
Denn Rosika Schwimmer war 1915 international durch ihre Peace Ship Expedition als Pazifistin noch bekannter geworden, als sie es als Feministin schon war. Gemeinsam mit Louis Lochner überredete sie den Automobil Tycoon Henry Ford, eine diplomatische Amateurmission nach Europa zu entsenden, um ein Ende des Ersten Weltkriegs zu vermitteln. Doch die von der Presse weithin verspottete Mission war wenig überraschend erfolglos. In diesem Zusammenhang distanzierten sich die amerikanischen Juden von Schwimmer und beschuldigten sie, Henry Fords antisemitische Kampagne während der kurzlebigen, doch äußerst medienwirksamen Peace Ship Expedition angefacht zu haben. Die Kampagne war kein Ausrutscher; Ford betätigte sich immer wieder als antisemitischer Publizist. Während des Nürnberger Prozesses sollte der Reichsjugendführer der NSDAP, der Wiener Gauleiter und Reichsstatthalter Baldur von Schirach erklären: „Das ausschlaggebende antisemitische Buch, das ich damals las und das Buch, das meine Kameraden beeinflußte […], war das Buch von Henry Ford ‚Der internationale Jude‘. Ich las es und wurde Antisemit.“ Kein Wunder also, dass viele GlaubensgenossInnen sie als Verräterin betrachteten. 1919 wurde Schwimmer kurzzeitig ungarische Botschafterin in der Schweiz, bald darauf musste sie aus Budapest vor dem weißen Terror nach Wien fliehen und emigrierte in die USA, wo der konsequenten Pazifistin die Einbürgerung verweigert wurde.
Aus heutiger Perspektive agierte Rosika Schwimmer am linken Rand der pazifistischen und der feministischen Bewegung. Im Dienste der guten Sache war sie wenig zimperlich und instrumentalisierte, wen sie instrumentalisieren konnte. Ihre kompromisslose Einstellung machte sie zur angegriffenen Außenseiterin in einer kriegsgetriebenen Welt der Ismen und Anti-Ismen, in der Rassismus, Chauvinismus, Anti-Kommunismus, Anti-Feminismus und Anti-Semitismus alltäglich waren.
Doch erfuhr sie Genugtuung: Kurz bevor Schwimmer 1948 staatenlos in New York verstarb, war sie zur Kandidatin für den Friedensnobelpreis gekürt worden. Nicht ahnen konnte sie, dass im Grunde nur 20 Jahre später ihr feministischer Aktionismus im Westen wieder aufgegriffen wurde und die neue Frauenbewegung stärker denn je den asymmetrischen Geschlechterverhältnissen in Familie, Gesellschaft, Politik und Religion die Stirn bot.
Kampf um jeden einzelnen Flüchtling
Rückblick, 31.7.2020: Der Berliner Senat ist erneut mit seinen Plänen gescheitert, 300 Flüchtlinge aus den nach wie vor heillos überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln aufzunehmen. Bundesinnenminister Horst Seehofer hat der Berliner Initiative nun schon zum dritten Mal die notwendige Zustimmung verweigert, mit dem Verweis auf die Notwendigkeit eines bundeseinheitlichen Vorgehens und seiner neuen Initiative für eine EU weite Koordination der Flüchtlingspolitik. Darauf möchten in Deutschland, angesichts der mehr als 20.000 Flüchtlinge die in den Lagern dahinvegetieren, viele regionale und lokale Politiker nicht mehr warten. Die Nachrichten aus den Lagern sind verstörend. Angesichts der sanitären Situation, der unbeschreiblichen Enge und den mangelhaften technischen Anlagen kommt es dort regelmäßig zu tödlichen Unfällen, aber natürlich auch zu zunehmenden Konflikten und Aggressionen zwischen den dort Festgehaltenen. Mittlerweile ist bekannt, dass die schweren Traumatisierungen durch diese Lagerhaft noch schwerer wiegen, als die Traumatisierung durch Krieg, Verfolgung und Flucht. Schließlich geht sie mit der Erfahrung der vollkommenen Ohnmacht und des Ausgeliefertseins einher.
Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sieht wenig Chancen, das Hilfsangebot durch eine Klage gegen die Bundesregierung durchzusetzen. Er betont, es handele sich um eine politische Frage und einen politischen Skandal. „Wir haben die Möglichkeiten. Trotz Corona leben wir in einem reichen und guten Land und können Menschen vor Not und Tod bewahren.“ 142 Menschen, insbesondere Kinder, darf Berlin bis Ende August aufnehmen, im Rahmen eines Kontingents von 928 Kindern und Kranken, das die deutsche Bundesregierung zulassen will.
Index auf dem Index. Zum Sterben der Pressefreiheit in Ungarn
Rückblick, 26.7.2020: Schon 80% aller Medien in Ungarn werden von der Regierung Viktor Orbans kontrolliert. Nun wird auch das letzte einflussreiche Medium ausgeschaltet, das für unabhängige Berichterstattung einstand: das Online-Portal Index, das mit anderthalb Millionen Leserinnen und Lesern zum reichweitenstärksten Medium des Landes geworden ist. Chefredakteur Szabolcs Dull wurde gestern vom neuen Chef der „Index-Stiftung“ László Bodolai zu einem Treffen außerhalb der Redakteursräume gebeten, um eine „geschäftliche Angelegenheit“ zu besprechen. Und bekam dort seine Kündigung überreicht. Inzwischen haben fast alle Redaktionsmitglieder aus Solidarität ebenfalls gekündigt, mehr als 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie sehen unter den jetzigen Umständen keine Chance mehr für unabhängigen Journalismus. Dull und seine KollegInnen haben die Gefahr kommen sehen.
Die Genfer Flüchtlingskonvention – im Koma
Europäisches Tagebuch, 28.7.2021: Heute vor 70 Jahren wurde die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet. Man könnte meinen, dies sei ein Tag zum Feiern. Doch das Gegenteil ist der Fall. Gerald Knaus, einer der besten Kenner der weltweiten Fluchtbewegungen und Flüchtlingsschicksale, spricht ernüchtert von einer Konvention “die im Koma liegt”.
80 Millionen Flüchtlinge gibt es weltweit, so heißt es. Doch diese Zahl, mit der das UN-Flüchtlingshilfswerk auf die Notwendigkeit von Hilfen aufmerksam machen will, lässt sich leicht missbrauchen. Von Massen, die uns überschwemmen werden, ist die Rede. Eine Sprache, die man von Rechtsradikalen gewohnt ist, wird zum politischen Kleingeld von Regierungen. Österreich gibt dabei mittlerweile den Ton an. Es ist zum fremdschämen, jeden Tag, vom Aufwachen, bis zum Schlafengehen. Und im Traum verfolgt es einen weiter.
In Wirklichkeit haben davon aber nur etwa 20 Millionen Flüchtlinge irgendeine Grenze überwunden. Die meisten von ihnen hausen in den von Bürgerkriegen, Verfolgungen und Zwangsrekrutierungen gerissenen Ländern der Welt irgendwo fern von ihren Heimatregionen. Die Zahl jener, die es immerhin über die Grenze, meistens bis ins Nachbarland, geschafft haben, ist in den letzten vier Jahren gerade mal um 700.000 Menschen gestiegen, darunter sind viele in den Flüchtlingslagern geborene Kinder. Noch immer ist es die viel gescholtene Türkei, die weltweit die meisten Flüchtlinge beherbergt. Und ob sie dabei weiter unterstützt wird, ist offen. Wer verhandelt darüber schon gerne mit dem Regime Erdogans. Aber welche Alternative dazu bietet sich? Noch mehr Gewalt gegen die Flüchtlinge im Mittelmeer?
Der Zynismus, mit dem Politiker in Europa, den USA oder Australien ihre rechtlichen Verpflichtungen missachten und den Geist der Konvention verhöhnen, ist kaum noch zu überbieten. An den EU-Außengrenzen werden Flüchtlinge mit Gewalt daran gehindert, Asyl-Anträge zu stellen. Ein offener Rechtsbruch. Und nur wenigen dämmert es, dass Regierungen, die den Rechtsstaat verachten, sich auch um „unsere“ Rechte nicht kümmern werden, wenn das ihnen passt.
Erst unlängst hat Österreichs Innenminister mit der Formulierung aufhorchen lassen, so rasch wie möglich Flüchtlinge nach Afghanistan abzuschieben „solange das noch geht“. In der Tat bricht dort der Widerstand gegen die Taliban in weiten Teilen des Landes in sich zusammen und einige EU-Länder setzen angesichts des einsetzenden Chaos schon beschlossene Abschiebungen aus, so wie auch die österreichischen Höchstrichter nicht mehr alle Abschiebungen durchwinken. Ein schwacher Trost. Denn man hat den Eindruck als ginge es der mittlerweile tiefblauen Regierungsspitze in Wien vor allem um symbolische Ablenkung. Von allen hausgemachten Problemen. Nein, der Tag des Jubiläums der Flüchtlingskonvention ist kein Tag zum Feiern.
Rückblick, 28.7.2020: Wenn Mitarbeiter von McKinsey in einem Unternehmen auftauchen, dann löst dies in der Regel Panikattacken unter Mitarbeitern aus. Schließlich steht das Beratungsunternehmen in dem Ruf, Firmen äußerst effektiv bei ihrer Sanierung zu helfen, und das bedeutet zumeist, ein Teil der Belegschaft „zu schicken“. Auch Flüchtlinge und Migranten durften in den letzten Jahren diese Erfahrung machen. Eine Recherche des Spiegel ergab, dass seit 2017 McKinsey die EU dabei berät, wie man die „Produktivität“ der Asylbehörden an den Grenzen erhöhen könnte. Mit wenig Erfolg bisher.
Einiges davon soll allerdings in die griechische Asylpolitik seitdem eingeflossen sein, zum Beispiel die Überführung von abgelehnten Asylwerbern in erster Instanz in geschlossenes Gewahrsam. Auch dann, wenn sie gar nicht abgeschoben werden können. Und auch die Verweigerung von Rechtsberatung gehört zu den griechischen „Optimierungsmaßnahmen“.
Bis heute werden die genauen Ratschläge von McKinsey allerdings von der EU geheim gehalten. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen klassifiziert das Material als „confidential“. Die Betreuung der Flüchtlinge in den Lagern auf den Inseln durch die griechischen Behörden folgt nach wie vor dem Prinzip der Abschreckung. Umso unwürdiger und menschenverachtender, umso „produktiver“. Auch wenn die EU-Kommission immer wieder Anläufe unternimmt, die Situation der Menschen dort zu verbessern und die Mitgliedsstaaten von der Notwendigkeit zu überzeugen, mehr Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufzunehmen.
Schon 2016 hatte das Deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 1,86 Millionen Euro für eine „Studie“ an das Beratungsunternehmen bezahlt, um sich Tipps geben zu lassen, wie abgelehnte Asylwerber in Deutschland „effektiver“ abgeschoben werden könnten. Auch damals förderte eine Spiegel-Recherche zutage, dass McKinsey dafür 678 „Beratertage“ für je 2700,- € in Rechnung stellte. Das von McKinsey vorgeschlagene Rückkehrmanagement sah sowohl finanzielle Anreize als auch Abschiebhaft und „Gewahrsamsanstalten“ vor, und radikale Kürzung der Hilfen für Kranke.
“Wirklich so gefährlich?”
Rückblick, 23.7.2020: Noch immer diskutieren manche darüber, ob Covid-19 „wirklich“ so gefährlich sei, und ob nicht vor allem solche Menschen gefährdet sein würden, die aufgrund ihrer Vorerkrankungen und ihres Alters sowie bald sterben würden. Zwei Studien aus Italien deuten nun auf das genaue Gegenteil hin. Offenbar ist die Zahl der an Corona Gestorbenen in Italien doch sehr viel höher, als die offiziellen Statistiken verraten würden. Und es liegt nahe, diesen Schluss auch für andere Länder für wahrscheinlich zu halten.
Wissenschaftler der Universitäten Mailand und Palermo sind der Frage nachgegangen, wie sich die Corona Toten zur Übersterblichkeit im März und Anfang April verhalten haben – und haben Daten aus 1689 italienischen Gemeinden untersucht. Tatsächlich sind dort im Schnitt pro Woche bis zu 10.000 Menschen mehr gestorben als im Vergleichszeitraum in den Vorjahren. Dem standen nur 5000 offiziell gezählte Corona-Toten gegenüber. Menschen, die zu Hause starben oder in Heimen wurden in aller Regel nicht getestet und nicht gezählt. Nicht alle diese zusätzlichen Toten müssen zwingend auf Corona zurückzuführen sein. Aber es muss davon ausgegangen sein, dass dies für die Mehrzahl zutrifft. Auch mit den unmittelbaren Todesursachen haben sich die Wissenschaftler beschäftigt. Von den offiziellen Covid-19 Opfern waren 89 % unmittelbar an den Folgen der Infektion gestorben, die meisten an einer Lungenentzündung. Nur 11% der Toten hatten eine andere primäre Todesursache.
In den USA sind jetzt offiziell fast 150.000 Menschen an den Folgen einer Covid-19 Infektion gestorben. Die Zahl der Toten ist wieder auf annähernd 1000 pro Tag angewachsen. Die Zahl der täglichen Neu-Infektionen hat schon vor einigen Tagen mit mehr als 77.000 ebenfalls einen neuen Höchststand erreicht. Damit sind selbst die apokalyptischen Höchstzahlen, mit denen Donald Trump im Frühjahr um sich geworfen hat, um sich dafür feiern zu lassen, wenn es weniger werden längst bei weitem übertroffen. Und ein Ende der immer noch „ersten“ Infektionswelle ist offenbar noch lange nicht in Sicht. Die Bundesstaaten Arizona und Texas bestellen Kühlfahrzeuge um der wachsenden Zahl von Leichen Herr zu werden.
Donald Trump hält immer noch daran fest, dass die steigende Zahl von Neu-Infektionen nur der wachsenden Zahl von Test geschuldet sei. Doch auch der Anteil der Infektionen an den Test wächst.
Sieger und Verlierer in Brüssel? – oder ein wegweisender Durchbruch?
Rückblick, 22.7.2020: Angesichts von 300 Millionen Rabatt pro Jahr für die nächsten sieben Jahre lässt sich Kanzler Kurz nach seiner Rückkehr von den Brüsseler Verhandlungen in Österreich als „Sieger“ feiern. Nicht nur von seinem eigenen Chefkommunikator sondern auch von den meisten Zeitungen. Als wäre das ein Erfolg, wenn es in Brüssel Sieger und Verlierer gibt. In Brüssel selbst ließ er sich von seinem Leibfotografen begleiten. Um immer im rechten Licht zu erscheinen. Die Propagandafotos wurden von der APA übernommen. Soviel zum Thema „unabhängige Presse“ in Österreich.
Für österreichische Zeitungen besteht der mühsamste – und in mancher Hinsicht doch auch folgenreichste – Kompromiss in der Geschichte der EU vor allem aus einer österreichischen Provinzposse. Als wäre ein österreichisches Rabatt-Schnäppchen das wichtigste, was es zu Europa im Zeichen von Corona und Wirtschaftskrise, von Millionen von Arbeitslosen und einer immer spürbarer werdenden Klimakatastrophe sagen lässt. Nicht alle stimmen da mit ein. Vorarlbergs Landesrat Johannes Rauch von den Grünen richtet auf Twitter aus: „Auf diesen ‚Rabatt‘ mag ich nicht stolz sein, weder als Europäer noch als Österreicher. Sorry about“. Österreich muss in Wirklichkeit natürlich trotzdem mehr an die EU bezahlen, als bisher. Alleine schon, weil die Budget-Lücken die der Brexit hinterlässt, geschlossen werden müssen. Doch das Knausertum der geizigen Vier führt nun dazu, dass ausgerechnet in wichtigen Zukunftsbereichen die EU sparen muss, z.B. bei Investitionen in Forschungsprogramme, in Klimaschutz und Gesundheitspolitik.
Und dennoch, jenseits der nationalistischen Propaganda der „neuen FPÖ“, wie der liberale Journalist Johannes Huber die Kurz-ÖVP nun treffend bezeichnet, ist der Kompromiss wohl besser, als es scheint. So paradox das ist.
Die Einigung in Brüssel: es bleibt bei einem Gesamtvolumen von 750 Milliarden „Corona-Wiederaufbauhilfen“. Statt 500 Milliarden sollen nun bloß 390 Milliarden als Zuschüsse, der Rest als Kredite vergeben werden. Auch wenn sich die „sparsamen vier“ (bzw. fünf, die Finnen eingerechnet) nun so gerieren, als hätten sie wie David einen Goliath, nämlich Deutschland und Frankreich bezwungen, so ist der Kern des Plans der Kommissionspräsidentin damit tatsächlich ein Stück der Realität nähergekommen. Denn die Begleichung der Schulden der EU soll nun in Zukunft auch durch Einnahmen der EU gedeckt werden. Das verschafft der EU (nicht den Stammeshäuptlingen und ihren „nationalen Interessen“) in Zukunft etwas mehr Gewicht. Ein kleiner Schritt, aber vielleicht mit mehr Wirkung, als das allen in diesem Moment bewusst war.
Das EU Parlament hingegen kritisiert den Kompromiss der EU-Staatschefs, weil er nicht weit genug geht, so berichtet heute die Süddeutsche Zeitung:
„In einer überfraktionellen Entschließung, die heute verabschiedet wurde, heißt es: “Das Europäische Parlament akzeptiert die politische Übereinkunft zum mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 in seiner derzeitigen Form nicht.” Zu oft verstießen “die exklusive Einhaltung nationaler Interessen und Positionen gegen das Erreichen gemeinsamer Lösungen im allgemeinen Interesse”. In dem von Christdemokraten, Grünen, Liberalen, Linken und Sozialdemokraten ausgehandelten Resolutionsentwurf schreiben die Abgeordneten, die Kürzungen im Finanzrahmen ständen den Zielen der EU entgegen. Insbesondere die Kürzungen bei Gesundheits- und Forschungsprogrammen halten sie gerade in Zeiten einer globalen Pandemie für gefährlich. In der Entschließung kritisieren die Parlamentarier besonders, dass Zukunftsthemen zu wenig gefördert würden. Sie fordern mehr Mittel etwa für Digital- und Werteprogrammen. Sassoli kritisierte zudem beispielsweise die geplanten Kürzungen für Forschung und das Förderprogramm Erasmus. “Wir können das Budget für Forschung und junge Menschen und Erasmus nicht kürzen, das können wir nicht.” Mit den Kürzungen bei Programmen, die kohleabhängigen Regionen den Übergang erleichtern sollen, werde gegen die Green-Deal-Agenda der EU verstoßen. Die Fraktionien verlangen einen konkreten Prozentsatz an klimabezogenen Ausgaben (30 Prozent des Budgets) und Ausgaben für Biodiversität (zehn Prozent). Zudem gefährdeten Kürzungen bei Asyl, Migration und Grenzmanagement “die Position der EU in einer zunehmend volatilen und unsicheren Welt”. Zudem müsse die Hälfte der Ausgaben im EU-Haushalt und im Wiederaufbaufonds Frauen zugutekommen.
In dem Resolutionsentwurf vermissen die Abgeordneten auch einen genaueren Plan zur Rückzahlung der EU-Schulden. Die einzige für das Parlament akzeptable Variante sei es, dass die Union neue Eigenmittel schafft. Unter diesen Begriff können beispielsweise EU-weite Steuern fallen. Dafür solle es einen verbindlichen Zeitplan geben. Auch beim Thema Rechtsstaatlichkeit äußern die Abgeordneten starkes Bedauern über das Gipfelergebnis. Die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Demokratie sei erheblich geschwächt worden. Sie fordern einen wirksamen Rechtsstaatsmechanismus mit umgekehrter qualifizierter Mehrheit im Europäischen Rat, sodass Strafen bei Verstößen leichter durchgesetzt werden können.
Der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold erklärte, die Staats- und Regierungschefs hätten “große Teile der Position des Europaparlaments zum EU-Haushalt ignoriert. Mit der geplanten Resolution bekommen sie dafür die Quittung.” Das Parlament nehme seine Verhandlungsposition ernst. “Kürzungen bei den Zukunftsprogrammen, zu wenig Klimaschutz und keine effektive Handhabe gegen Rechtsstaatsverstöße von Orban & Co würden Europa langfristig schwächen”, so Giegold.“
Die sparsamen Vier
Rückblick, 17.7.2020: EU-Gipfel in Brüssel. Heute kommen die europäischen Staatschefs zum ersten Mal seit der Corona-Krise wieder selbst in Brüssel zusammen. Erneut wird versucht einen Kompromiss über die Pläne der EU-Kommission für Wiederaufbauhilfen nach der Corona-Krise zu finden, dem auch die „frugalen vier“ wie Österreichs Kanzler Sebastian Kurz Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande neuerdings nennt, zustimmen können.
Ratspräsident Michel versucht es mit Lockangeboten. So soll sich der Rabatt für die Beitragszahlungen, die Österreich leisten muss, fast verdoppeln. Aber die Zockerei geht weiter. Fraglich ist nach wie vor, welchen Anteil an der Förderung rückzuzahlende Kredite haben sollen. Dabei weiß jeder, dass eine Erhöhung der individuellen Verschuldung von Staaten wie Italien, die Krise der gesamten EU nur vergrößern würde. Es weiß auch jeder, dass ein drohender Zusammenbruch von Volkswirtschaften der Größe von Spanien, Frankreich oder Italien, ja selbst ein weiterer tiefer wirtschaftlicher Einbruch am Ende auch kleinere Volkswirtschaften wie Österreich in einen gefährlichen Strudel ziehen würden. Aber dennoch kämpfen die frugalen vier mit allen Waffen. Die Niederlande treten nun als radikalste Bremser auf: sie verlangen, dass Zahlungen erst erfolgen, wenn die damit zu tätigen Investitionen schon erfolgt, kontrolliert und erfolgreich waren. Wie das gehen soll, weiß niemand außer dem niederländischen Premier Mark Rütte.
Ob es hingegen ngelingen wird, die Vergabe der Förderungen an Verpflichtungen auf rechtsstaatliche Standards zu knüpfen, ist offen. Der Widerstand dagegen kommt, kaum anders zu erwarten, genau von denen, die ihre rechtsstaatlichen Standards in den letzten Jahren Zug um Zug über Bord geworfen haben: Ungarn und Polen.
Die wohl tatsächlich entscheidende Frage schläft im Hintergrund. Darf die EU endlich eigene, nennenswerte Einnahmen generieren, um die Wiederaufbauhilfen zu finanzieren? Digitalsteuern, Emissionsabgaben… Das wäre, unbemerkt von dem meisten Kommentatoren die eigentliche stille Revolution. Die EU würde damit zum ersten Mal einen Schritt aus der Geiselhaft nationaler, nein: nationalistischer Interessen tun.
Und natürlich geht es am Ende um die Höhe des Rabatts mit dem die „Sparsamen“ sich zu Hause als Hüter ihrer „nationalen Interessen“ feiern lassen wollen.
Österreichische Großzügigkeit gegenüber illegal abgeschobenen Flüchtlingen
Rückblick, 16.7.2020: Das Bundesverwaltungsgericht in Wien verurteilt die Abschiebung eines 29-jährigen Tadschiken durch die österreichischen Behörden als rechtswidrig. Ob dies Khizbulloi Shovalizoda noch helfen wird ist fraglich. Der Tadschike hatte im März 2019 in Österreich Asyl beantragt. Er gehört einer ethnischen Minderheit an, die in Tadschikistan verfolgt wird. In seiner Heimat wird ihm stattdessen vorgeworfen einer verbotenen islamischen Partei anzugehören. Shovalizodas Asylantrag wurde abgelehnt und ein Abschiebebescheid ausgestellt. Am 10. Januar 2020 brachte er einen erneuten Antrag auf internationalen Schutz ein. Er hatte erfahren, dass gegen ihn in Tadschikistan ein Verfahren wegen „Terrorismus“ eröffnet werden würde und ihm dort seine Verhaftung drohen würde. Das BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) lehnte seinen Antrag erneut ab, obwohl die Staatsanwaltschaft Eisenstadt darauf hinwies, dass inzwischen von den tadschikischen Justizbehörden ein Auslieferungsbegehren eingegangen sei, das „überwiegend politischen Charakter“ trage. Ein Auslieferungsverfahren würde daher abgelehnt. Dennoch wurde Shovalizoda am 4. März nach Tadschikistan abgeschoben – und dort prompt verhaftet. Im Juni wurde er tatsächlich zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Das Bundesverwaltungsgericht stellte nun fest, dass das BFA den Fall nicht genau geprüft habe und sich bei seiner Entscheidung auf bekanntermaßen veraltete Informationen über die Situation in Tadschikistan gestützt habe. Inzwischen sei bekannt, dass die dortige Regierung unter dem Deckmantel der „Terrorismusbekämpfung“ Oppositionelle und Kritiker kriminalisiere. Menschenrechtsverletzungen, willkürliche Tötung durch Gefängnisbehörden, willkürliche Inhaftierungen, Folter und Misshandlung politischer Gefangener sind in Tadschikistan an der Tagesordnung, wie auch die österreichische Datenbank der Staatendokumentation inzwischen feststellt. Die Entscheidung des Gerichts erlegt nun den österreichischen Behörden die Pflicht auf, nicht nur Shovalizoda die Einreise nach Österreich zu erlauben, sondern auch proaktive Maßnahmen zu setzen, um ihn „wieder in das österreichische Bundesgebiet zu verbringen“. Das Innenministerium weigert sich aber offenbar, dem Gerichtsentscheid Folge zu leisten. Es gäbe keine „rechtliche Grundlage“ um den Abgeschobenen wieder zurückzuholen. Die Einreise nach Österreich werde ihm aber gestattet. Ob Shovalizoda von dieser österreichischen „Großzügigkeit“ je erfahren wird, ist fraglich. Seit seiner Verurteilung zu 20 Jahren Haft fehlt von ihm jede Spur.
Die Europäer sind europäischer als ihr Ruf
Rückblick, 15.7.2020: Mehr als zwei Drittel der EU-Bürger wollen nach einer Umfrage im Auftrag des EU-Parlaments, dass die Europäische Union bei der Bewältigung der Corona-Krise eine größere Rolle spielt. Mehr als die Hälfte der Umfrageteilnehmer meint, dass die EU dafür mehr Geld brauche, wie das EU-Parlament am Dienstag in Brüssel mitteilte.
Damit sollten vor allem die Folgen der Epidemie im Gesundheitswesen und in der Wirtschaft abgefedert werden. Ebenfalls mehr als die Hälfte der Befragten ist nach wie vor unzufrieden mit dem Ausmaß der Solidarität der EU-Mitgliedstaaten während der Corona-Krise.
Mehr Zuständigkeiten der EU beim Bewältigen von Krisen wie der Corona-Pandemie fordern nach der Umfrage 68 Prozent der Befragten. Besonders ausgeprägt ist dieser Wunsch in Portugal und Luxemburg (je 87 Prozent), Zypern (85 Prozent), Malta (84 Prozent), Estland (81 Prozent), Irland (79 Prozent), Italien und Griechenland (je 78 Prozent), Rumänien (77 Prozent) und Spanien (76 Prozent). Auch bei den Deutschen gab es eine Mehrheit von 59 Prozent.
Der Wunsch nach mehr EU-Geld zur Abmilderung der Corona-Folgen ist am ausgeprägtesten in Griechenland (79 Prozent), Zypern (74 Prozent), Spanien und Portugal (je 71 Prozent). Aber auch in Deutschland wünscht sich jeder Zweite eine aktivere und mit mehr Kompetenzen ausgestattete Rolle der EU.
Außer in das Gesundheitswesen und die Stärkung der Wirtschaft soll die EU nach dem Willen der Befragten Corona-Hilfen auch in Beschäftigung und Soziales sowie die Bekämpfung des Klimawandels investieren. Auf einem EU-Gipfel an diesem Wochenende soll über das umstrittene 750 Milliarden Euro schwere Corona-Konjunkturprogramm beraten werden.
Bei der Untersuchung der der Hotspots der Covid-19 Infektionen erweisen sich insbesondere christliche Freikirchen als Zentren von Corona-Ausbreitungen. Nach Corona-Infektionen in Wiener Neustadt wurden alle Freikirchen der Pfingstgemeinden in Österreich vorläufig geschlossen. Zuletzt machte eine Mennonitengemeinde in Euskirchen in Nordrhein-Westfalen mit Corona-Infektionen auf sich aufmerksam. Dort haben sich elf Kinder bei Ihrer Mutter angesteckt. Da die Kinder noch kurz zuvor in die Schule der Mennoniten gegangen sind, und die Familie zum Gottesdienst in das Bethaus hat das Kreis-Gesundheitsamt Quarantäne für ca. 1000 Personen angeordnet und Schule und Bethaus der Mennonitengemeinde geschlossen.
In Österreich sorgte Ende Juni ein Corona-Cluster in einer Linzer Freikirche für Aufsehen. Betroffen waren aber gar nicht die beiden afrikanischen Pfingstgemeinden, die das Bethaus in der Wankmüllerstraße betreiben, sondern eine rumänische Freikirche, die als Mieter im Gebäude ihre Gottesdienste abhielt. Dennoch kam es gegen einen der afrikanischen Priester der Pfingstgemeinden zu rassistische Angriffe und Schmierereien. Im Mai hatte es in Frankfurt ein Cluster nach einem Gottesdienst einer Baptistengemeinde gegeben, mit über 200 Infektionen.
Polen bleibt rechts. Haarscharf
Rückblick, 13.7.2020: Die Stichwahl für das Präsidentenamt in Polen endet mit einem knappen Sieg für den Nationalisten Andrzej Duda. Bis auf 48,97 % der Stimmen ist ihm der liberale Gegenkandidat Rafal Trzsakowski nahe gekommen. Doch es hat nicht gereicht, der nationalkonservativen Regierung der PIS-Partei ein Korrektiv entgegenzusetzen. Das Wahlergebnis verrät auch in Polen eine tiefgreifende Spaltung von Stadt und Land. Trzaskowksi, Stadtpräsident von Warschau, hatte in den großen Städten 65% der Stimmen auf sich vereinigen können, Duda hingegen 65% der Wählerinnen und Wähler auf dem Land gewonnen. Auch zwischen den Generationen verläuft ein tiefer Riss durch die polnische Gesellschaft. Trzaskowski siegte bei allen Wählerguppen unter 50. Die über 60jährigen entschieden sich zu 64% für Duda. Polen leidet so doppelt unter der Überalterung der Gesellschaft. Polens migrationsfeindliche Politik produziert immer mehr Migration: Junge Menschen verlassen in Scharen das Land.
Letztendlich entschied Duda die Wahlen mit radikalen, nationalistischen und homophoben Parolen für sich. Schwule und Lesben haben in Polen inzwischen Angst vor Gewalt auf den Straßen. In den letzten Tagen vor der Wahl richtete sich die von der Regierung geschürte Fremdenfeindlichkeit vor allem gegen Deutsche: gegen deutsche Medien, oder gegen die wenigen regierungsunabhängigen Medien die angeblich im deutschen Interesse das Land unterwandern würden. Aber auch gegen in Polen lebende Deutsche, die offenen Anfeindungen ausgesetzt sind.
Am Ende ging es nur noch um das „Polentum“. In einem Radiointerview meinte Andrzej Zybertowicz, Soziologe und Berater des wiedergewählten Präsidenten, er sei “schockiert” gewesen, dass ungefähr die Hälfte seiner Landsleute für einen Kandidaten gestimmt hätten, „dessen Stab es nicht für angemessen hielt, während des Wahlabends mit einer polnischen Fahne zur erscheinen“. Warum nur, fragt man sich, hätte er das tun sollen.
In der Grenzregion Polens und Deutschland, der sogenannten „Euroregion Spree-Neisse-Bober“ mehren sich nun die Sorgen, ob die dort bislang erfolgreiche Politik der zwischenstaatlichen Kooperation fortgesetzt werden kann.
Wohltaten für die “Ärmsten der Armen”? Oder wie Populismus und Neoliberalismus funktionieren
Rückblick, 12.7.2020: Österreichs Kanzler Sebastian Kurz hat sein Herz für die „Ärmsten der Armen“ entdeckt. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lässt er sich allerdings nicht in die Karten schauen, worauf er mit seinem Widerstand gegen die EU-Wiederaufbauhilfen wirklich hinauswill.
Natürlich wiederholt er seinen Stehsatz, dass ein Teil der Hilfen zurückgezahlt werden muss. Das sieht der aktuelle Vorschlag der EU-Kommission sowieso vor. Die Frage ist, wieviel? Und natürlich besteht er darauf, dass die Hilfen an Bedingungen geknüpft werden müssen. Auch das sieht der Vorschlag der EU.-Kommission natürlich ebenfalls vor. Doch welche Bedingungen sollen dies sein? Darüber ist von Kurz nur ähnlich Nebulöses zu vernehmen, wie von der Kommission selbst (Digitalisierung, Digitalisierung, Digitalisierung).
Nun aber macht Kurz ein neues Fass auf: die Frage nämlich, welche Länder am meisten Geld bekommen sollten. Nach dem Brüsseler Entwurf würden Italien, Spanien oder Polen die größten Hilfen erhalten. Bevölkerungsreiche Länder also, die besonders schwer von der Pandemie betroffen wurden. Kurz hingegen argumentiert nun so, als ginge es um milde Gaben: “Wir haben in der EU aber deutlich ärmere Länder. Mein Gerechtigkeitsempfinden sagt mir: Wenn wir in der EU so viel Geld in die Hand nehmen, dann sollte es vor allem an die Ärmsten der Armen fließen. Wenn man die Arbeitslosigkeit der Jahre von 2015 an zum Kriterium macht, wie derzeit vorgeschlagen, dann hat das mit den Herausforderungen der Corona-Situation nichts zu tun.” Als sei das Anwachsen der Arbeitslosigkeit kein Kriterium für die Auswirkungen der Pandemie. Wenn das Hilfsprogramm eine Reaktion auf Corona sein solle, dann müsse, so Kurz, “man es am Einbruch der Wirtschaftsleistung durch die Pandemie festmachen”. Die Wirtschaftsleitung bricht allerdings ebenfalls in Italien, Spanien (und Frankreich) am meisten ein. Was also meint der Kanzler, außer dass er händeringend nach irgendwelchen Argumenten dafür sucht, möglichst wenig Geld herzugeben, um den “Ärmsten der Armen” zu helfen.
Die Finanzhilfen in Österreich kommen, so viel ist jedenfalls bekannt, eher nicht den “Ärmsten der Armen” zu Gute. Finanzminister Blümel verteidigte vorgestern im ORF die Auswirkungen des neuen Konjunkturpakets der Bundesregierung. Nach Recherchen des ORF profitieren von den beschlossenen Konjunkturmaßnahmen in Höhe von 2,6 Milliarden vor allem Wohlhabende. Rund ein Viertel der Maßnahmen kommen vor allem den obersten Einkommen zugute. Dazu zählen Steuersenkungen und sogar Einmalzahlungen der Familienbeihilfe. Während Menschen mit niedrigen Einkommen etwa 364 Millionen Euro Corona-Hilfen erhalten werden, sind es bei den obersten Einkommen ca. 624 Millionen Euro. Gernot Blümel hält dagegen: „Die Menschen die fleißig sind und arbeiten gehen, auch mehr von dem Erarbeiteten haben sollen.“ Im Juni waren in Österreich 463.500 Menschen ohne Arbeit. Offene Stellen gab es nur 63.000. Die in den Augen des Finanzministers offenbar vor allem aus mangelndem Fleiß von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen, werden nun mit einem Almosen von einmalig 450,- € abgespeist.
Und damit man sich auch und gerade in Corona-Zeiten mit solchen Fragen nicht allzu viel beschäftigt, spielen Rechtspopulisten gerne mit Metaphern aus der Sprache der Schädlingsbekämpfung, wenn sie über Menschen reden. Besonders gerne in Österreich. FPÖ-Generalsekretär Michael Schedlitz lobt in einer Tiroler Tageszeitung Parteichef Norbert Hofer für seinen Vergleich „des Islams“ mit dem Corona-Virus („gefährlicher als Corona“) und setzt einen drauf. Schedlitz empfiehlt die FPÖ als „Unkrautbekämpfungsmittel“ gegen „ungezügelte Zuwanderung“ – und fordert den ÖVP-Innenminister zu härterem Vorgehen auf. Die Aufforderung, Mund-Nasenschutz zu tragen, sei, so Schedlitz ganz nebenbei, natürlich nur Angstmache. „Wir können gleich in den Orient auswandern, wenn wir uns wieder verschleiern.“
Bundeskanzler Kurz möchte da demagogisch nicht zurückstehen und versucht sich mit einer anderen rechtspopulistischen Metapher. „Wir erleben immer mehr Einschleppungen aus dem Ausland.“ Und meint damit wohl ebenfalls Menschen, die infiziert sind. Egal wie man es ausdrückt, es sind immer die anderen schuld.
Auch die amerikanischen Rechtspopulisten halten nichts von “Verschleierung”. Die große Wahlkundgebung Donald Trumps in Tulsa, wo er seinen Wahlkampf sinnigerweise zum hundertsten Jahrestag des dortigen Massakers eines „weißen“ Mobs an Afroamerikanern eröffnete, hat zwar deutlich weniger (zumeist ohne Mund-Nasenschutz erschienene) seiner Anhänger mobilisiert, als von ihm erwartet. Aber dennoch genug, um eine rasante Zunahme von Corona Infektionen in der Stadt zu bewirken, wie die Gesundheitsbehörden von Tulsa bekannt gestern bekannt gaben.
Moderne Sklaverei und steigende Infektionen
Rückblick, 8.7.2020: Ein britisches Textilunternehmen in Leicester hat offenbar während des raschen Anstiegs von Corona-Infektionen in Großbritannien sämtliche Hygiene- und Abstandsvorschriften missachtet. Die Firma, die für das britische Modeunternehmen Boohoo Produkte anfertigt, hat Arbeiter*innen verdeckt in die Näherei eingeschleust um die Produktion fortzusetzen – und mit 3,5 Pfund pro Stunde entlohnt, bei einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,72 Pfund. Auch Mitarbeiter*innen die nachgewiesenermaßen an Covod-19 erkrankt sind, wurden gezwungen weiterhin zur Arbeit zu erscheinen. Die britische Innenministerin Priti Patel spricht von „moderner Sklaverei“. Die Stadt Leicester ist besonders von Corona betroffen. Boohoo, das seine Ware online verkauft, hatte seine Absatzzahlen in der Corona-Krise stark steigern können.
Die WHO meldet unterdessen über 400.000 Neuinfektionen weltweit am vergangenen Wochenende und über ein halbe Millionen Tote durch die Corona-Pandemie. Die USA meldet inzwischen über 133.000 Todesfälle. Die USA hat nun ihren Austritt aus der WHO offiziell angekündigt – ein Austritt, der allerdings erst am 6. Juli 2021 wirksam werden wird – wenn Donald Trump die Wahlen im November gewinnt.
Brasiliens Präsident Bolsonaro hat sich, wie jetzt gemeldet wird, mit Covid-19 angesteckt. Noch am Wochenende war er, wie immer unter Menschen. Am Samstag nahm er an einem Essen des US-Botschafters anlässlich des amerikanischen Unabhängigkeitstages teil. Am Montag hingegen zeigte sich Bolsonaro ungewöhnlicherweise mit Maske und riet einem Anhänger, sich ihm nicht zu nähern. Brasilien ist inzwischen mit über 66.000 Corona-Opfern nach den USA das am schwersten von der Pandemie betroffene Land. Seit gestern sind – alleine an einem Tag – 1254 neue Todesfälle zu verzeichnen.
In Israel werden nun erneut zahlreiche Einschränkungen verfügt, nachdem die Infektionszahlen wieder sprunghaft gestiegen sind. Die Kritik an der Regierung wächst, die sich offenbar im Zeichen des Wahlkampfes zu früh als vorbildlich im Umgang mit Corona feiern ließ.
Nichts neues hingegen an den europäischen Außengrenzen: Das tagelang hingehaltene Rettungsschiff Ocean Viking mit 180 Flüchtlingen an Bord, durfte nun den Hafen in Porto Empedocle anlaufen – freilich nur, um die zwischen. dem 25. und 30 Juni aus dem Mittelmeer geretteten Menschen auf das italienische Quarantäneschiff Moby Zaza “umzuladen”. Auf der Ocean Viking herrschte der schiere Notstand und einen Hungerstreik. SOS Mediterranee meldete sechs Selbstmordversuche, 25 der Flüchtlinge sind Minderjährige. Die Bürgermeisterin von Porto Empedocle Ida Carmina will verhindern, dass die Flüchtlinge an Land kommen, sie fürchtet “negative Folgen für den Tourismus”.
Unsere Europakarte – Kommentare unserer Ausstellungsbesucher*innen
Europäisches Tagebuch, 25.7.2021: Auf unsere Europakarte in der Ausstellung “Die letzten Europäer” entfaltet sich ein lebhafter Dialog zwischen den Besucher*innen. Hier ein paar neue Impressionen.
Spiel mit dem Feuer am Nationalfeiertag
Rückblick, 4.7.2020: Donald Trump ruft am US-amerikanischen Unabhängigkeitstag seine Anhänger zum Kampf auf – gegen „Anarchisten, Marxisten, Plünderer“. Gemeint sind alle jene, die überwiegend friedlich in den letzten Wochen gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straßen gegangen sind. Und zum Kampf gegen „die Medien“, die die Einheit der USA bedrohen würden und mit seiner Person Donald Trump auch „Generationen von Helden“ Amerikas verleumden würden.
Schon einen Tag zuvor hat er in South Dakota die Kulisse von Mount Rushmore dazu benutzt, seine eingeschworenen Fans (die fast alle ohne Mund-Nasenschutz aufmarschiert sind) auf einen „Kulturkampf“ einzuschwören, gegen „linke Faschisten“ und den „linken mob“, also alle, die mit seiner Politik, mit den „white supremacy“ Ideologien seiner Agitatoren oder der öffentlichen Verhöhnung von Corona-Schutzmaßnahmen nicht einverstanden sind.
Trump warf seinen Gegnern vor, eine „gnadenlose Kampagne zur Auslöschung der amerikanischen Geschichte“ zu führen. Zum Abschluss wurde zum ersten Mal seit zehn Jahren in der durch Waldbrände gefährdeten Region wieder ein großes Feuerwerk veranstaltet. Dass Trump auch zwei Hits von Neil Young spielen ließ, „Like a Hurricane“ und „Rockin‘ the free World“, betrachtet der Musiker als Provokation. Und solidarisiert sich mit den einst aus dieser Region vertriebenen Sioux-Indianern, auf deren gestohlenem Land Mount Rushmore liegt.